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Die Schweizer Arbeitslosenversicherung im internationalen Vergleich

Bei der Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik ist stets ein Gleichgewicht zwischen sozialer Sicherheit und flexiblem Arbeitsmarkt zu finden. Die Arbeitsmarktbeteiligung liegt in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr hoch, und die Politik der sozialen Sicherheit ist entsprechend stark beschäftigungsorientiert. Die Arbeitslosenversicherung (ALV) spielt in diesem Konzept eine zentrale Rolle. Auch in der ALV muss ein Mittelweg zwischen einer guten sozialen Absicherung und wirksamen Anreizen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gefunden werden. Wie positioniert sich die Schweizer ALV diesbezüglich im internationalen Vergleich?

Geht es darum, die Leistungen von Arbeitslosenversicherungen zu beurteilen und zu vergleichen, richtet sich der Blick zumeist auf die Bedingungen zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung, die Höhe der Entschädigung sowie die maximale Bezugsdauer. In Tabelle 1 sind die wichtigsten Eckwerte der Arbeitslosenentschädigung für die Schweiz, Deutschland, Frankreich, Österreich, Dänemark und die Niederlande dargestellt.

Abdeckungsgrad und Anspruchsvoraussetzungen


Als erstes stellt sich bei einem Vergleich der Leistungen die Frage, welcher Anteil der aktiven Bevölkerung überhaupt versichert ist. Bezogen auf die hier ausgewählten Vergleichsländer kann man überall von einem hohen Abdeckungsgrad ausgehen, denn mit Ausnahme von Dänemark
Gleiches gilt für Schweden und Finnland. ist die ALV für Arbeitnehmende in allen Ländern obligatorisch. In Dänemark ist der Anschluss an eine ALV freiwillig; jedoch sind ca. 90% des in Frage kommenden Personenkreises einer ALV angeschlossen. Im Gegensatz zu den anderen Ländern bietet Dänemark zudem eine Versicherung für selbständig Erwerbstätige.Anspruchsberechtigt sind in allen Ländern grundsätzlich versicherte Personen, die unfreiwillig arbeitslos und vermittlungsfähig sind. Zusätzlich müssen sie vor Eintritt der Arbeitslosigkeit während einer bestimmten Zeit Beiträge einbezahlt haben. In Deutschland, Dänemark und Österreich beträgt die minimal erforderliche Beitragszeit wie in der Schweiz 12 Monate. Tiefer liegen die Eintrittsschwellen in Frankreich mit vier und in den Niederlanden mit sechs Monaten. Allerdings berechtigen diese Beiträge nur zu relativ kurzen Leistungsdauern von vier respektive drei Monaten. In der Schweiz sind u.a. Personen, die wegen einer Ausbildung, einer Mutterschaft, eines Auslandaufenthalts oder einer längeren Krankheit keine Beiträge entrichten konnten, von der Beitragspflicht befreit.

Karenzfristen und Leistungsbezugsdauer


Zwischen dem Eintritt der Arbeitslosigkeit und der Auszahlung von Arbeitslosengeld gibt es oftmals eine sogenannte Karenzfrist. In der Schweiz und in Frankreich beginnt der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung in der Regel nach einer Wartezeit von einer Woche.
Keine Wartefristen zu bestehen haben in der Schweiz Arbeitslose mit einem Vollzeit-Monatslohn bis 3000 Franken. Längere Wartefristen gelten für Versicherte, die von der Beitragszahlung befreit sind (Ausbildung, Mutterschaft, Auslandaufenthalt, Krankheit). Deutschland, Österreich, Dänemark und die Niederlande kennen demgegenüber keine Karenzfristen. Die Leistungsbezugsdauer entspricht in den Niederlanden und in Frankreich bis zu einem Maximalwert gerade der Beitragszeit. In Deutschland beträgt die Bezugsdauer die Hälfte der Beitragszeit. In der Schweiz entsteht heute mit einer Beitragszeit ab 12 Monaten ein Anspruch auf Leistungen während rund 18 Monaten. Für über 55-Jährige, welche 18 Monate einbezahlt haben, liegt der Anspruch bei 24 Monaten. Deutlich geringer als in der Schweiz liegen die maximalen Bezugsdauern ab einer Beitragszeit von 12 Monaten in Deutschland und in Österreich, nämlich bei sechs respektive 4,6 Monaten. Völlig unabhängig von Beitragszeit und Alter liegt die Leistungsdauer in Dänemark bei vier Jahren. Damit weist Dänemark – gefolgt von den Niederlanden mit 3,2 Jahren und Frankreich mit drei Jahren – die höchste Bezugsdauer auf. Mit der nächsten Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) soll auch in der Schweiz ein engerer Bezug zwischen der Beitragszeit und der Bezugsdauer hergestellt werden. Mit 12 Monaten Beitragszeit soll noch ein Anspruch von 12 Monaten entstehen. Für eine Leistungsdauer von rund 18 Monaten wird neu eine Beitragszeit von 18 Monaten vorausgesetzt. Über 55-jährige Personen, die auch während zweier Jahre ununterbrochen Beiträge entrichtet haben, erhalten ein Anrecht auf Leistungsbezug von 24 Monaten. Die Schweiz wird ihre Position im Mittelfeld der hier betrachteten Länder auch mit diesen Anpassungen behalten. Die längere Bezugsdauer für ältere Arbeitslose, welche sich in verschiedenen Ländern findet, ist damit zu begründen, dass ältere Arbeitslose häufig schwerer vermittelbar sind als jüngere. Für Arbeitslose, die kurz vor der Pensionierung stehen, dürften die Leistungen der ALV häufig auch eine Überbrückung in die Altersrente bedeuten.

Höhe der Leistungen


In den meisten untersuchten Ländern richten sich die Arbeitslosenentschädigungen nach dem zuletzt erzielten Verdienst. Die Erwerbsersatzquoten unterscheiden sich je nach Land und variiert von 55% in Österreich bis zu 90% in Dänemark. Die Schweiz liegt mit Quoten von 70% respektive 80% zusammen mit Frankreich und den Niederlanden im Mittelfeld. Allerdings lassen diese Unterschiede nur eine sehr grobe Beurteilung darüber zu, wie grosszügig die Arbeitslosenentschädigung ist, da sich die Bemessungsgrundlagen und die steuerliche Behandlung der Entschädigung von Land zu Land unterscheiden. Von entscheidender Bedeutung ist beispielsweise der höchste versicherte Verdienst. Wie der Tabelle 1 zu entnehmen ist, beträgt der höchste versicherte Bruttolohn in der Schweiz monatlich 10 500 Franken. In einer ähnlichen Grössenordnung liegt die Obergrenze in Deutschland mit netto rund 8100 Franken. Deutlich höher liegt sie dagegen in Frankreich mit über 17 000 Franken. Diese hohen Obergrenzen implizieren, dass der Schutz der ALV in diesen Ländern bis in den (oberen) Mittelstand hinein reicht. In den Niederlanden mit einem höchsten versicherten Verdienst von 5800 Franken ist dies bereits nicht mehr der Fall. Und in Dänemark sind sogar nur stark unterdurchschnittliche Einkommen in der vollen Höhe versichert, denn der implizite höchste versicherte Verdienst liegt bei umgerechnet rund 3220 Franken.
In Dänemark ist nicht der Bezugslohn, sondern eine Höchst- (2900 Franken) sowie eine Mindestgrenze (2400 Franken) der monatlichen Leistung eingegrenzt.

Harmonisierter Vergleich der Leistungen


Wie die obigen Ausführungen verdeutlichen, sind die Leistungen der ALV zu stark ausdifferenziert, als dass ein einfacher Quervergleich zwischen den Ländern möglich wäre. Um dennoch gewisse harmonisierte Vergleiche anstellen zu können, hat die OECD die oben genannten und weitere Systemelemente modelliert und geschätzt, welcher Anteil des ursprünglichen Netto-Einkommens einer arbeitslos gewordenen Person durch die ALV kompensiert wird. In Grafik 1 sind die so geschätzten Netto-Einkommensersatzquoten für verschiedene Einkommenshöhen für Personen, die vor kurzem arbeitslos geworden sind, dargestellt.Wie dieser Vergleich am Beispiel von alleinstehenden Personen zeigt, sind die Leistungen der Schweizer ALV insgesamt hoch einzuschätzen. Bei niedrigen Einkommen liegt die Einkommensersatzquote über 80%, ein Wert, den nur Dänemark auch erreicht. Bei mittleren Einkommen liegt die Ersatzquote in der Schweiz – ähnlich wie in den Niederlanden und in Frankreich – bei rund 70%. Wie in Frankreich sind auch Bezüger höherer Einkommen mit einer Ersatzquote von rund 70% in der Schweiz sehr gut abgesichert. Am unteren Ende der Vergleichsgruppe finden sich Deutschland und Österreich mit Ersatzquoten von rund 60% bzw. 55% bei mittleren und tiefen Einkommen. In beiden Ländern kommt hinzu, dass die Bezugsdauern deutlich kürzer sind als in den Vergleichsländern. Natürlich sind die Ergebnisse auch mit der nötigen Vorsicht zu interpretieren, denn die Modelle sind heute nicht in der Lage, alle Arten von Sozialleistungen – wie Mietzuschüsse, Unterstützungsleistungen für die Kinderbetreuung, Vergünstigungen von Krankenkassenprämien etc. – korrekt abzubilden. Vor allem das Leistungsniveau der sozialen Sicherung von Personen, welche längere Zeit arbeitslos sind, ist schwierig in einem Modell zu fassen. In den meisten Ländern kommen nach Erschöpfung der Leistungen der ALV Systeme zum Zug, die sich am minimalen Bedarf der betroffenen Personen bzw. ihrer Haushalte orientieren und die Existenzsicherung zum Ziel haben. In der Schweiz hat die Sozialhilfe diese Funktion. Bewertet man die Leistungen der Schweizer ALV anhand der Netto-Einkommensersatzquoten aus einer sozialpolitischen Warte, kommt man zum positiven Schluss, dass unsere Versicherung im internationalen Vergleich einen hohen sozialen Schutz bietet. Ein Risiko dabei ist, dass eine zu grosszügige Ausgestaltung der Versicherungsleistungen dem Ziel einer möglichst raschen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zuwiderlaufen kann. Implizit erhöhen hohe Leistungen nämlich den Lohnanspruch, für den eine arbeitslose Person bereit ist, eine neue Stelle anzunehmen (so genannter Reservationslohnsatz). Dies wiederum kann die Dauer der Arbeitslosigkeit erhöhen und sogar zur Entstehung von Langzeitarbeitslosigkeit beitragen. Um solchen Effekten entgegenzuwirken, müssen ALV-Systeme mit guten Leistungen besonders wirksame Aktivierungsmechanismen in Form von Unterstützungsmassnahmen und Anreizen, aber auch Sanktionen einbauen.

Die Rolle der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik


Die Aktivierung von Arbeitslosen setzt an bei Massnahmen, welche die Eigeninitiative stärken, die Suchintensität erhöhen sowie die Arbeitsmarktfähigkeit aufrechterhalten oder verbessern. In Verbindung mit intensiven Vermittlungsbemühungen soll dadurch der Bezug von Arbeitslosengeld möglichst kurz gehalten werden. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik baut auf den Ansatz der «gegenseitigen Verpflichtungen», die im Falle ihrer Nichteinhaltung zu Sanktionen – wie z.B. Taggeldkürzungen bis zu drei Monaten – führen können. So kann nicht nur passiv Arbeitslosengeld bezogen werden, sondern es müssen auch aktive Massnahmen ergriffen und Verpflichtungen eingehalten werden.Die Massnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik werden international unterschiedlich gehandhabt. Ihre Bedeutung hat jedoch in den letzten 10–20 Jahren in den meisten entwickelten Ländern deutlich zugenommen. Ein Schwerpunkt der aktiven Arbeitsmarktpolitik liegt bei der Intensivierung der Stellensuche durch regelmässige Kontakte zum Arbeitsamt, eine enge Kontrolle der Suchbemühungen, die Erstellung individueller Aktionspläne und die direkte Zuweisung von Arbeitslosen auf offene Stellen. Auch in der Schweiz sind die Bestimmungen bezüglich Unterstützung und Kontrolle bei der Stellensuche klar geregelt: – Anmeldung beim Arbeitsamt: Die Anmeldung beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) und die Prüfung der Arbeitsfähigkeit sind, wie in den meisten Ländern, eine Voraussetzung zum Bezug von Arbeitslosengeld. Dadurch kann die persönliche Situation der Stellensuchenden abgeklärt werden, um sie so rasch wie möglich den offenen Stellen zuzuführen. – Obligatorische Arbeitsbemühungen: Während die motivierten und selbstständigen Arbeitslosen in ihren Arbeitsbemühungen relativ effizient sind, brauchen andere Arbeitslose eine engere Betreuung und Unterstützung. Die Arbeitsbemühungen bilden auch in der Schweiz ein wichtiges Element der Aktivierungspolitik und werden entsprechend begleitet und kontrolliert. Die Anzahl der vorzuweisenden Arbeitsbemühungen hängt von der persönlichen Situation des Stellensuchenden und der lokalen Arbeitsmarktsituation ab. In der Schweiz werden zwischen vier und zehn Arbeitsbemühungen verlangt, die anlässlich der Beratungs- und Kontrollgespräche einmal im Monat persönlich vorgewiesen werden müssen. Vorzulegen sind hauptsächlich Bewerbungsschreiben sowie eine Liste der kontaktierten Arbeitgeber. – Zuweisung auf eine offene Stelle: Die direkte Zuweisung durch den RAV-Berater auf eine offene Stelle dient in erster Linie der Vermeidung von Arbeitslosigkeit der betroffenen Person. Sie wird aber auch genutzt, um die Arbeitsbereitschaft des Stellensuchenden zu prüfen und kann unter Umständen einen Stellenantritt beschleunigen. – Kontrollgespräche und individueller Aktionsplan: Die Kontrollgespräche finden im Schnitt einmal im Monat statt. Spätestens nach drei Monaten wird ein individueller Aktionsplan erstellt, der sämtliche vom Stellensuchenden zu erbringenden Bemühungen beinhaltet. – Zuweisung von arbeitsmarktlichen Massnahmen (AMM): Die Teilnahme an einer AMM ist für Stellensuchende obligatorisch, wenn sie vom RAV-Berater zugewiesen wurde. In dieser Zeit müssen die Arbeitsbemühungen beibehalten werden.Durch eine konsequente, aktivierende Arbeitsmarktpolitik kann die Effektivität der Suchanstrengungen erhöht werden. Gleichzeitig werden damit die negativen Auswirkungen guter Versicherungsleistungen auf die Dauer der Arbeitslosigkeit eingeschränkt. Wie ein Vergleich der aktivierenden Arbeitsmarktpolitiken der OECD zeigt, verfügt die Schweiz in allen Bereichen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik über die relevanten Instrumente.
Vgl. OECD (2007), Employment Outlook 2007, Chapter 5: Activating the Unemployed: What Countries Do. Um diese noch weiter optimieren zu können, hat sich die Schweiz an einer «Thematic Review» der OECD zur aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt, deren Ergebnisse noch in diesem Jahr vorliegen werden.

Fazit


Der hier angestellte Vergleich zeigt, dass es trotz Gemeinsamkeiten bei den Grundelementen international eine breite Variation in der konkreten Ausgestaltung der verschiedenen sozialen Sicherungssysteme bei Arbeitslosigkeit gibt. Was die kurzfristige Absicherung von arbeitslosen Personen durch Erwerbsersatz betrifft, bietet die schweizerische ALV im europäischen Quervergleich einen vergleichsweise hohen Absicherungsgrad. Gleichzeitig wird in unserer ALV konsequent eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik betrieben, wodurch einer Verlängerung der Arbeitslosendauer entgegengewirkt werden kann. Bezüglich der Bezugsdauer liegt die Schweiz in einer Mittelposition. Länder wie Dänemark, die Niederlande oder Frankreich sind grosszügiger, während Deutschland und Österreich deutlich kürzere Leistungsdauern haben. Eine seriöse Beurteilung der Absicherung von Personen, die über viele Jahre hinweg arbeitslos bleiben, ist aufgrund der Komplexität der Systeme jedoch nicht möglich, da nach Auslaufen der Arbeitslosenentschädigung in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedliche Systeme zum Zug kommen. Im Zusammenhang mit der geplanten AVIG-Revision wird wohl noch in diesem Jahr wieder über Höhe und Dauer der Arbeitslosenunterstützung öffentlich debattiert werden, zumal die Revision neben Beitragserhöhungen auch gewisse Leistungskürzungen vorsieht. Die Frage, ob solche Kürzungen zumutbar sind, wird daher zweifellos kontrovers diskutiert werden. Ein Blick auf die Situation in anderen Ländern mag mithelfen, die Situation in der Schweiz besser einzuordnen. Allerdings sei vor zu einfachen Rückschlüssen aus der Situation in anderen Ländern gewarnt: Die Beurteilung der Leistungen der ALV bedingt, dass man den Kontext kennt, in dem dieses System eingebettet ist. Wichtig ist zum Beispiel die Feststellung, dass die Schweiz – ähnlich wie die nordischen Staaten – über einen flexiblen und wenig regulierten Arbeitsmarkt verfügt. Eine gut ausgebaute ALV kann dazu ein passendes Gegenstück darstellen, insbesondere wenn es ihr durch eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik gelingt, die negativen Auswirkungen von guten Leistungen wirkungsvoll zu begrenzen.

Grafik 1: «Netto-Lohnersatzquoten bei Beginn der Arbeitslosigkeit für alleinstehende Personen ohne Kinder, 2008»

Tabelle 1: «ALV im internationalen Vergleich – eine Übersicht»

Zitiervorschlag: Mira Schwab, Bernhard Weber, (2010). Die Schweizer Arbeitslosenversicherung im internationalen Vergleich. Die Volkswirtschaft, 01. Mai.