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Kritische Rohstoffe aus europäischer Sicht

Ein Rohstoff wird dann als kritisch bezeichnet, wenn die Versorgungsrisiken und die Folgen einer mangelnden Versorgung gleichzeitig als hoch angesehen werden. Dies erfordert eine Methode zur vergleichenden Einschätzung sowohl der Versorgungsrisiken als auch der wirtschaftlichen Bedeutung für jeden Rohstoff. Im April 2009 wurde die Ad-hoc Working Group on Defining Critical Raw Materials gebildet, die sich im Rahmen der Raw Material Initiative damit beschäftigte, kritische Rohstoffe zu identifizieren, die für das reibungslose Funktionieren der europäischen Wirtschaft notwendig sind. Als Bezugsrahmen wurde ein Zeithorizont von 10 Jahren festgelegt. Am 30. Juli 2010 veröffentlichte die EU-Generaldirektion Unternehmen und Industrie den Bericht der Arbeitsgruppe zur Kommentierung im Internet.

Ausgangspunkt der Arbeiten der Ad-hoc-Arbeitsgruppe waren jene 20 Metalle, die im Anhang 8 des Arbeitspapiers zur Europäischen Rohstoffinitiative
COM(2008) 699. genannt werden (siehe
fett markiert). Schon in den ersten Treffen der Arbeitsgruppe wurde deutlich, dass die Mitglieder diese Liste für nicht umfassend genug hielten. Nach eingehender Diskussion einigte man sich darauf, insgesamt 41 Metalle und Minerale zu untersuchen. Anschliessend wurden – angelehnt an Vorarbeiten in Grossbritannien und USA – das Versorgungsrisiko sowie die Bedeutung der einzelnen Rohstoffe für die europäische Wirtschaft berechnet. Auch die Umweltauswirkungen der Förderung der Rohstoffe wurden betrachtet.

Versorgungsrisiko


Die Verfügbarkeit von mineralischen Rohstoffen wurde von der Arbeitsgruppe auf drei unterschiedlichen Ebenen betrachtet. Es wurde zwischen geologischer, technischer und geopolitisch-wirtschaftlicher Verfügbarkeit unterschieden.Die Versorgungsrisiken einzelner Rohstoffe sind nicht primär von der absoluten geologischen Verfügbarkeit der notwendigen Erze diktiert. Vielmehr spielen die ungleichmässige Verteilung der bekannten Rohstoffvorkommen sowie ökonomische und politische Aspekte einer Rolle. Zudem ist es wichtig, in welchem Umfang der Rohstoffbedarf durch sekundäre Quellen gedeckt wird und welche mögliche Substitute für einen bestimmten Rohstoff in einer bestimmten Anwendung zur Verfügung stehen. Deshalb wurde das Versorgungsrisiko als die Kombination dieser Elemente eingeschätzt, nämlich:− die Konzentration der Förderung auf Länderebene (auf der Basis von Produktionsdaten, angelehnt an das Herfindahl-Hirschmann-Index);− die Stabilität und Staatsführung der Förderländer (mit dem World Governance Index der Weltbank);− Anteil des Recycling zur Deckung des heutigen Bedarfs;− Möglichkeiten der Substitution (Experteneinschätzungen).Diese vier Elemente wurden – wie unten dargestellt – zusammengeführt, um einen Index zu bilden, mit dessen Hilfe alle betrachteten Rohstoffe möglichst fair und transparent miteinander verglichen werden konnten (für Formeln siehe Pdf): Anteil am heutigen Bedarf, der aus Sekundärmaterial gedeckt wird (Recycling von Produktionsabfällen, sog. new scrap, wird nicht berücksichtigt) – Werte von 0 bis 1. Anteiliger Bedarf von Rohstoff in Wirtschaftssektor – Werte von 0 bis 1. Geschätzte Substituierbarkeit von Rohstoff in Wirtschaftssektor – Werte 0 bis 1; ein Wert von 0 signalisiert eine vollständige Substitutierbarkeit ohne Mehrkosten. Anteilige Produktion von Rohstoff in Land – Werte von 0 bis 100. World Governance Index für Land – Werte von 0 bis 10 (linear skaliert von den ursprünglichen Werten); von 0 bis 10 verschlechtert sich das Rating der Weltbank.Die Ergebnisse wurden so skaliert, dass am Ende die möglichen Werte zwischen 0 und 10 lagen (steigendes Risiko). Besonders hohe Werte erhielten dabei die Seltenen Erden (4,9). Diese ergaben sich aufgrund der hohen Bedeutung Chinas, welches 2007 ca. 90% der Importe an Seltenen Erden in die EU stellte, aber auch aufgrund der geringen Substituierbarkeit und der geringen heutigen Recyclingrate von ca. 1%. Auch die Platin-Gruppen-Metalle (PGM) Platin, Ruthenium, Rhodium und Palladium haben ein hohes Versorgungsrisiko von 3,6. Sie werden vor allem in Südafrika und Russland gewonnen, können oft nur gegeneinander substituiert werden und haben eine Recyclingrate von ca. 35%.

Wirtschaftliche Bedeutung der Rohstoffe


Eine vergleichende Einschätzung der Kritikalität von Rohstoffen setzt voraus, dass den Unterschieden in ihrer ökonomischen Bedeutung Rechnung getragen wird. Um sich an das komplexe Problem einer vergleichenden Einschätzung der ökonomischen Bedeutung von Rohstoffen anzunähern, wurden in der Arbeitsgruppe folgende Überlegungen angestellt:− Zum einen muss der ökonomischen Bedeutung derjenigen Sektoren Rechnung getragen werden, welche die betreffenden Rohstoffe unmittelbar in ihren Produktionsprozessen einsetzen. − Zum anderen muss auch die Vernetzung eines Sektors innerhalb der Volkswirtschaft berücksichtigt werden, wenn dieser essenzielle Vorleistungen für andere Sektoren erbringt und wenn eine Störung der Ressourcenversorgung auch die Wertschöpfung in diesen indirekt betroffenen Sektoren gefährden würde.Um die hierbei auftretenden konzeptionellen Schwierigkeiten zu überwinden, die vor allem in der Bestimmung eines angemessenen Abschneidekriteriums sowie in der Abschätzung der direkten und indirekten Bedeutung eines Rohstoffs für die Wertschöpfung in Europa liegen, wurde von der Gruppe ein pragmatischer Ansatz verfolgt. Dieser orientiert sich an einer weiten Interpretation des Begriffs der Wertschöpfungskette bzw. Filière. Hierzu wurden einzelne Sektoren auf der Nace-Zweistellerebene zu übergeordneten «Mega-Sektoren» zusammengefasst (siehe
), deren ökonomische Bedeutung der Summe seiner Teilsektoren entspricht. Da ein Rohstoff in der Regel von mehreren Mega-Sektoren genutzt wird, kann seine ökonomische Bedeutung anhand der Summe über die gewichteten Werte für die Bruttowertschöpfung dieser Sektoren erfasst und ins Verhältnis zum BIP der EU27 gesetzt werden. Als Gewichtungsfaktor wurde der Anteil des Sektors am Gesamtverbrauch des Rohstoffs in Europa herangezogen. Ein Beispiel: 23% des in Europa verbrauchten Kupfers wird im Bausektor verbraucht (z.B. für elektrische Kabel und Rohleitungen), der wiederum im Jahr 2006 eine Bruttowertschöpfung von ca. 98 Mrd. Euro erzeugte. Hieraus ergibt sich ein Wert für die ökonomische Bedeutung von Kupfer von 22,6 Mrd. Euro. Da Kupfer auch in anderen Sektoren eingesetzt wird, z.B. für die Herstellung von elektronischen Geräten (28%), Elektronik (13%), Maschinen- und Anlagenbau (12%), Transportmittel und -infrastrukturen(14%), wurde die mit dem Anteil am Gesamtverbrauch gewichtete Wertschöpfung dieser Sektoren aufsummiert und ins Verhältnis zur Bruttowertschöpfung der EU gesetzt.Auf diese Weise wird Rohstoffen, die von volkswirtschaftlich sehr bedeutenden Sektoren verbraucht werden, tendenziell eine grössere wirtschaftliche Bedeutung zugemessen als Rohstoffen, die in eher unbedeutende Sektoren eingehen. Allerdings spielt der Zuschnitt der Mega-Sektoren eine wichtige Rolle für die Abschätzung der ökonomischen Bedeutung eines Rohstoffs.

Umweltrisiken in Förderländer


Ähnlich wie für das Versorgungsrisiko wurde für jedes Land ein Umweltindex berechnet, in welchem sich die Umweltrisiken der Förderung von Rohstoffen im Land widerspiegeln. Dieser Index basiert auf dem Environmental Performance Index (EPI) der Yale-Universität und wird in derselben Art wie das Versorgungsrisiko berechnet, indem die Konzentration der Rohstoffvorkommen nach Ländern, die Substituierbarkeit und die Recyclingrate mit einbezogen wird (für Formeln siehe Pdf): Auch der Umwelt-Länder-Index wird auf Werte von 0 bis 10 skaliert. Gemäss diesem Index haben die Seltenen Erden mit 4,3 die höchsten Umweltrisken (auf Grund des niedrigen EPI von China), während für mehr als die Hälfte der Metalle der Wert unter 1,0 liegt. Mit mittleren Umweltrisiken ist die Förderung von Germanium, Antimon, Gallium und Magnesium versehen.

Ergebnisse


Das Ergebnis der Berechnungen für das Versorgungsrisiko und die wirtschaftliche Bedeutung ist in
dargestellt. Im oberen rechten Quadranten finden sich die 14 Rohstoffe bzw. Rohstoffgruppen, die als kritische Rohstoffe identifiziert worden sind, weil sie sowohl ein hohes Versorgungsrisiko als auch eine hohe wirtschaftliche Bedeutung haben.Das hohe Versorgungsrisiko liegt an dem hohen Anteil an der weltweiten Produktion aus China (Antimon, Flussspat, Gallium, Germanium, Graphit, Indium, Magnesium, Seltene Erden, Wolfram), Russland (PGM), der Demokratischen Republik Kongo (Kobalt, Tantal) und Brasilien (Niob und Tantal). Diese Produktionskonzentrationen gehen in vielen Fällen einher mit einer geringen Substituierbarkeit und niedrigen Recyclingquoten. Ein geringes Versorgungsrisiko haben Nickel, Mangan, Vanadium, Molybdän und Chrom. Dafür ist ihre wirtschaftliche Bedeutung besonders hoch, da sie in ihren Hauptanwendungen als Stahlveredler nicht substituierbar sind. Dabei ist zu beachten, dass z.B. Änderungen in der politischen Stabilität eines Rohstofflandes das Versorgungsrisiko schnell verändern könnten.

Fazit


Dieses Bild stellt eine Momentaufnahme für die EU dar. Aktuelle Diskussionen um Rohstoffe für Zukunftstechnologien – wie etwa bezüglich der Lithiumionen-Batterien für die Elektromobilität – zeigen, dass sich auch die Nachfrageseite bei Rohstoffen schnell ändern kann. Deshalb schlägt die Ad-hoc-Arbeitsgruppe eine Aktualisierung der Bewertung kritischer Rohstoffe alle 5 Jahre vor, wobei die Datenlage für die betrachteten Rohstoffe in den EU-Mitgliedstaaten sukzessive verbessert werden soll. Weitere Empfehlungen der Arbeitsgruppe betreffen den Abbau von Rohstoffen in Europa, den Welthandel mit Rohstoffen, ein verbessertes Recycling der Rohstoffe aus Post-Consumer-Produkten, die Entwicklung von Substitutionsmöglichkeiten und die weitere Erhöhung der Materialeffizienz in der Produktion. Durch die Arbeiten der Ad-hoc-Arbeitsgruppe wurde erstmals eine transparente Methodik entwickelt, die quantifizierte Aussagen zur Kritikalität von Rohstoffen ermöglicht. Bei allen vorhandenen Schwächen stellen die im Anhang der Studie veröffentlichten Daten eine gute Basis zur Verfeinerung der Methode dar, um letztendlich mögliche Produktionseinschränkungen der europäischen Wirtschaft durch kritische Rohstoffe zu verhindern.

 

 

 

 

Kasten 1: Literatur

Literatur


− DG ENTR (2010): Bericht der Ad-hoc Working Group on Defining Critical Raw Materials der (http://ec.europa.eu, Enterprise and Industry, Policies, Raw materials, Critical raw materials).− Angerer, G.; Erdmann, L.; MarscheiderWeidemann, F.; Scharp, M.; Lüllmann, A.; Handke, V.; Marwede, M. (2009): Rohstoffe für Zukunftstechnologien. Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag.

Zitiervorschlag: Carsten Gandenberger, Frank Marscheider-Weidemann, Luis Tercero, (2010). Kritische Rohstoffe aus europäischer Sicht. Die Volkswirtschaft, 01. November.