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Zu wenig Europa im Reformpaket des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts

Entgegen dem bisherigen Dogma der Europäischen Union (EU) sind angesichts der Krise gemeinschaftliche Instrumente zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen und der Banken geschaffen worden. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich – neben einer kurzen Beleuchtung dieser Instrumente – auf die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP). Mit der Reform wird ein zu starker Akzent auf die Sanktionierung einer nicht regelkonformen Finanzpolitik von Mitgliedsländern der Eurozone gesetzt. Das neue Instrumentarium wird aber das weitere Auseinanderdriften der Eurozone kaum verhindern können.

Neue Instrumente zur Krisenbewältigung


Im Zuge der Finanzkrise Ende 2008 und dem folgenden Konjunktureinbruch im Jahr 2009 sind eine Reihe von Banken und Staaten in der EU in Schieflage geraten. Während zunächst einige Staaten ausserhalb der Eurozone gestützt werden mussten, zeigen sich seit 2010 die Folgen der Krise besonders stark in der Eurozone. Zur Stabilisierung der Staatsfinanzen und zur Abwehr einer erneuten Bankenkrise in der Eurozone wurden Griechenland von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) unter strikten Haushaltsauflagen Kredite in Höhe von 110 Mrd. Euro (Mai 2010) und 109 Mrd. Euro (Juli 2011) zugesprochen. Trotzdem haben die Eurostaaten auf ihrem letzten Gipfel einen Schuldenschnitt für Griechenland vereinbart (siehe Kasten 1

Ergebnisse des EU-Gipfels vom 26./27. Oktober 2011


– Neues Hilfspaket für Griechenland: Griechenland wird ein neues Hilfspaket von 100 Mrd. Euro bekommen. Es soll bis Jahresende endgültig ausverhandelt sein. Im Juli hatten die Regierungen der Euroländer ursprünglich 109 Mrd. Euro öffentliche Hilfe beschlossen. Diese war aber nie abschliessend auf den Weg gebracht worden. Hinzu kommen allerdings zusätzliche Garantien in Höhe von 30 Mrd. Euro als Beitrag des öffentlichen Sektors für den Schuldenschnitt.– Schuldenschnitt: Die Privatgläubiger wie Banken und Versicherungen werden stärker am neuen Griechenland-Paket beteiligt als bisher angenommen. Bereits im Juli hatte die Eurozone beschlossen, die Privatgläubiger mit einem freiwilligen Abschlag auf griechische Staatsanleihen von 21% zu beteiligen. Nun sind es 50%.– Rettungsfonds EFSF: Die Schlagkraft des Rettungsfonds EFSF wird mit einem sogenannten Hebel auf 1 Bio. Euro vervielfacht. Die EFSF wird nun teilweise das Risiko eines Zahlungsausfalls für Schuldtitel gefährdeter Euro-Staaten übernehmen. Zudem soll ein neuer Sonderfonds geschaffen werden, an dem sich der Internationale Währungsfonds (IWF) beteiligt.– Höhere Eigenkapitalquote für Banken: Die führenden Banken Europas müssen sich gut 106 Mrd. Euro frisches Kapital beschaffen.– Stärkere Aufsicht: Die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der 17 Eurostaaten wird stärker beaufsichtigt. Zweimal im Jahr wird es Gipfeltreffen der Euroländer geben, um Strategien festzulegen.

). Die prekäre Lage, in die nach Griechenland auch Irland, Portugal, Spanien und Italien geraten sind, zeigt jedoch, dass der bisherige Rahmen zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen und der Finanzmärkte innerhalb der Eurozone nicht ausreicht, um die Finanz- und Schuldenkrise zu bewältigen. Zur Stützung von überschuldeten Staaten der Eurozone hat der Europäische Rat im Mai 2010 ein umfassendes Stabilisierungspaket geschnürt, mit dem die Einrichtung zweier neuer provisorischer Finanzierungsfazilitäten – des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) – beschlossen wurde (siehe Kasten 2

Finanzstabilisierung in der EUa


Der im Mai 2010 gegründete Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) wird durch Kreditaufnahme der Europäischen Kommission finanziert und kann Kredite von insgesamt 60 Mrd. Euro vergeben. Kredite des EFSM werden mit qualifizierter Mehrheit des Europäischen Rates gewährt (EU-Richtlinie Nr. 407/2010). Die gleichzeitig gegründete Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) ist eine Zweckgesellschaft der Staaten der Eurozone und verfügt über ein Kreditvergabevolumen von 440 Mrd. Euro mit einer Garantie von 780 Mrd. Euro. Für Kredite der EFSF muss ein einstimmiger Beschluss aller Gesellschafter – d.h. der Staaten der Eurozone – gefällt werden. Die EFSF finanziert sich über Anleihen oder andere Kreditinstrumente. Sie kann unter bestimmten Bedingungen ebenfalls Staatsanleihen notleidender Eurostaaten auf dem Primär- und Sekundärmarkt kaufen. Auch für die Stützung von Banken kann die EFSF Kredite an die Staaten gewähren. Ergänzt werden diese Stabilisierungsmechanismen um IWF-Kreditlinien in Höhe von 250 Mrd. Euro. Bisher sind Finanzhilfen von EFSF und EFSM an Irland (November 2010) und Portugal (Mai 2011) in Höhe von jeweils 22,5 Mrd. und 26 Mrd. Euro gewährt worden. Dabei enthält der Betrag der EFSF an Irland auch bilaterale Kredite von Grossbritannien, Schweden und Dänemark. Zusätzlich ist an beide Länder ein IWF-Kredit in jeweils derselben Höhe bereitgestellt worden.Der für 2013 vorgesehene ständige Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) soll ein Kreditvolumen von insgesamt 500 Mrd. Euro vergeben können, wobei die Kapitalausstattung 700 Mrd. Euro beträgt. Kredite an überschuldete Eurozonenstaaten können wie bei der EFSF nur mit einem einstimmigen Beschluss des Verwaltungsrates, welcher die Mitglieder der Eurozone repräsentiert, vergeben werden. Die Befugnisse des ESM lehnen sich an denen der EFSF an. Unter bestimmten Umständen kann für eine Finanzhilfe des ESM auch eine Beteiligung privater Gläubiger verlangt werden (Schuldenschnitt).

a Zum Thema siehe Homepage der Europäischen Kommission. Die Ausführungen zu den Finanzierungsfazilitäten (EFSM, EFSF, ESM) müssen angesichts der fortlaufenden Entwicklungen in der EU als vorläufig betrachtet werden (vgl. Kasten 1).b Vgl. European Commission (2011).). Diese provisorischen Stabilisierungsmechanismen sollen ab Juli 2013 durch den permanenten Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) abgelöst werden.

Hintergrund des Stabilitäts- und Wachstumspakts


Ende 1989 beschloss der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschef der damaligen Europäischen Gemeinschaften, die Einführung einer europäischen Gemeinschaftswährung in drei Stufen und die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU). Die EWWU ist Bestandteil des Vertrags über die Gründung der Europäischen Union (Maastricht-Vertrag), der per 1.11.1993 in Kraft gesetzt worden ist. Die letzte Stufe der EWWU, die Einführung des Euro als Bargeld, ist am 1.1.2002 vollendet worden. Ziel der EWWU ist es, dass alle EU-Mitgliedsländer den Euro einführen sollen, sofern sie bestimmte ökonomische Kriterien – die so genannten Konvergenzkriterien gemäss Maastricht – erfüllen (Art. 140 Vertrag über die Arbeitsweise der EU, AEUV). Dabei haben Grossbritannien und Dänemark eine Ausstiegsklausel für die Übernahme des Euros ausgehandelt (opt-out). Schweden verletzt aus politischen Gründen bewusst eines der Konvergenzkriterien, um dem Euro nicht beitreten zu müssen. Der Eurozone gehören derzeit 17 der 27 EU-Staaten an.Aufgrund von Befürchtungen, dass durch eine zu grosszügige staatliche Kreditaufnahme die Preisniveaustabilität des Euro – und damit ein stetiges Wirtschaftswachstum – in der Eurozone gefährdet sei, wurde der Grundsatz eingeführt, dass EU-Staaten vor der Übernahme des Euro die Maastricht-Kriterien erfüllen sollten.
Häufig genannte Gründe für eine zu lockere Finanzpolitik sind: ein Defizithang der Regierungen wegen Eigeninteresses wie die Wiederwahl und ein Moral-HazardVerhalten von Teilnehmerstaaten einer Währungsunion, welche aufgrund von Ansteckungsrisiken im Bankensektor mit einem Bail out im Insolvenzfall rechnen (vgl. z.B. Eichengreen/Wyplosz, 1998). Nach Beitritt zur Eurozone soll sich die Finanzpolitik eines Landes an die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) halten. Mit dem präventiven Arm des SWP soll frühzeitig erkannt werden, ob der Haushalt der Mitgliedsstaaten deutlich von einem um die Konjunktur bereinigten mittelfristigen Haushaltsziel abweicht (Art. 121 AEUV).
Vgl. auch Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates vom 07. Juli 1997. Das Minimalziel sollte dabei ein Defizit von 1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sein. Der korrektive Arm des SWP bezog sich bisher vor allem auf die Einhaltung eines Defizitkriteriums, wonach das Haushaltsdefizit eines EU-Staates kleiner als 3% des BIP sein soll (Art. 126 AEUV).
Vgl. auch Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 07. Juli 1997. Verstösst ein Mitgliedsland der Eurozone gegen dieses Kriterium, kann der Rat der Finanz- und Wirtschaftsminister (Ecofin-Rat) der Eurozone mit einer qualifizierten Mehrheit ohne die Stimme dieses Landes ein so genanntes exzessives Defizitverfahren gegen dieses Land einleiten und Auflagen zur Korrektur des Defizits erteilen. Hält sich ein Staat der Eurozone nicht an diese Auflagen, können Sanktionen – z.B. eine Geldstrafe – verhängt werden. Nach Verstössen von Deutschland und Frankreich gegen das 3%-Defizitkriterium im Jahr 2002 ist der SWP im Jahr 2005 reformiert worden, um stärker ökonomische Überlegungen bei der Auslegung der Regel einfliessen zu lassen. Neben dem Vorteil, die länderspezifische Konjunktur nun besser berücksichtigen zu können, ist zugleich die Aufweichung des 3%-Defizitkriteriums durch eine Vielzahl von Ausnahmetatbeständen kritisiert worden.
Vgl. z.B. Colombier (2006, 530).

Verbesserung der wirtschaftspolitischen Koordinierung: Das Sixpack


Entgegen der Erwartung sind nach der Bildung der Eurozone die Wirtschaften ihrer Mitgliedsländer stetig auseinander gedriftet, wie z.B. anhand der Leistungsbilanzsaldi der GIPS-Staaten und von Deutschland abgelesen werden kann (siehe Grafik 1).
Die GIPS-Staaten sind Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien. Um die wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU zu verbessern, sind Ende September vom Europäischen Parlament sechs Gesetzesvorschläge der Europäischen Kommission verabschiedet worden (Sixpack).
Vgl. EU Economic governance «Six Pack» – State of Play; Memo 28.09.2011. Insgesamt soll die Überwachung der Wirtschafts- und Finanzpolitik jedes EU-Staates durch Rat und Kommission gestärkt werden. Diese ist in einen eng koordinierten Jahreszyklus (das Europäische Semester) eingebettet. Kernelemente des Sixpack sind eine Verschärfung des SWP und die Einrichtung eines Frühwarnsystems für stark divergente wirtschaftliche Entwicklungen in der EU.

Verschärfung des SWP


Wesentliche Änderungen des korrektiven Arms umfassen vor allem die Ausweitung der Anwendungstatbestände für ein exzessives Defizitverfahren gegen ein Mitgliedsland, die Verkürzung der Fristen innerhalb des Verfahrens und verschärfte Sanktionsmöglichkeiten gegen die Mitglieder der Eurozone. Die Rolle der Kommission wird gestärkt, da bei einem Verstoss Sanktionen gegen ein Mitgliedsland der Eurozone nun schon auf Empfehlung der Kommission ausgesprochen werden können, sofern sich der Ecofin-Rat nicht mit einer qualifizierten Mehrheit ohne die Stimme des betroffenen Landes dagegen entscheidet. Bisher musste der Ecofin-Rat der Empfehlung der Kommission mit qualifizierter Mehrheit zustimmen. Dieses Verfahren barg das Risiko, eines reziproken Abstimmungsverhaltens der Mitgliedsländer, wonach «Regelsünder» gegenseitig Milde lassen walten.
Vgl. Colombier (2006, 528). Die Sanktionierung besteht zunächst in einer unverzinsliche Einlage von 0,2% des BIP, welche bei erneutem Verstoss in eine Geldbusse umgewandelt und bei weiterer Missachtung der Vorgaben sukzessive erhöht werden kann.Ein exzessives Defizitverfahren gegen ein Mitgliedsland kann nun auch dann eingeleitet werden, wenn das Schuldenkriterium von 60% des BIP überschritten wird oder sich die Verschuldung nicht genügend schnell diesem Kriterium annähert. Die Geschwindigkeit des Schuldenabbaus orientiert sich dabei an einen numerischen Richtwert. Abweichungen von diesem Richtwert sind aufgrund der Konjunkturlage und defizitunwirksamer Schuldenstandänderungen – wie die Rekapitalisierung von privaten Banken – zugelassen. Im Gegensatz zum bisherigen Verfahren dürfen für die Aufhebung eines Defizitverfahrens so genannte einschlägige Faktoren – wie die Konjunkturlage – nicht mehr berücksichtigt werden. Fristen zur Korrektur eines übermässigen Haushaltsdefizits können nur noch dann verlängert werden, wenn die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen nicht gefährdet ist. Neu sollen zur besseren Durchsetzbarkeit des präventiven Arms auch beim Verfehlen eines länderspezifischen mittelfristigen Haushaltsziels Sanktionen ausgesprochen werden können. Werden vom Ecofin-Rat die Empfehlungen der Kommission zur Haushaltskonsolidierung an einen Regelsünder mit qualifizierter Mehrheit beschlossen, muss ein der Eurozone angehöriger Staat eine verzinsliche Einlage von 0,2% des BIP hinterlegen. Falls das Staatsdefizit und die Staatsschuld falsch ausgewiesen werden, kann eine zusätzliche Sanktion in Form einer Geldbusse von 0,2% des BIP erhoben werden. Auch im präventiven Arm wird die Rolle der Kommission gestärkt, indem der Rat einen Regelsünder letztendlich nur von der Befolgung der Kommissionsempfehlungen entbinden kann, wenn er mit einfacher Mehrheit ohne Stimme des betreffenden Landes dagegen stimmt. Die Einhaltung des mittelfristigen Haushaltsziels wird daran gemessen, ob die Staatsausgaben im Einklang mit einer mittelfristigen Referenzrate des um die Konjunktur bereinigten Potenzial-BIP wachsen. Bei den Staatsausgaben bleiben Zinsausgaben, EU-Transfers und konjunkturbedingte Ausgabenschwankungen der Arbeitslosenversicherung unberücksichtigt. Abweichungen vom mittelfristigen Haushaltsziel sind zugelassen, wenn aussergewöhnliche Ereignisse vorliegen, welche sich der unmittelbaren Kontrolle des Mitgliedslands entziehen und den Staatshaushalt massgeblich treffen, sofern nicht die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gefährdet ist. Dabei werden die Auswirkungen von Strukturreformen – z.B. Rentenreformen – berücksichtigt, falls das Haushaltsdefizit einen ausreichenden Abstand zum 3%-Defizitkriterium hat.

Neue Überwachung der makroökonomischen Ungleichgewichte


Mit der stärkeren Überwachung makroökonomischer Entwicklungen in den Mitgliedsländern der Eurozone sollen frühzeitig «schädliche» makroökonomische Ungleichgewichte und Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone und der EU erkannt und korrigiert werden. Das Kernstück der neuen Regel wird ein Wettbewerbsbarometer (Scoreboard) aus verschiedenen makroökonomischen und finanzmarktorientierten Indikatoren sein, auf dessen Basis die Kommission die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft der Eurozone im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften der Eurozone beurteilt. Das Wettbewerbsbarometer soll Warnschwellenwerte enthalten, welche Rückschlüsse auf die Wettbewerbsfähigkeit einer EU-Volkswirtschaft zulassen. Die Kommission und der Ecofin-Rat können auf Basis des Artikels 121 Abs. 2 AEUV Empfehlungen an ein Mitgliedsland zur frühzeitigen Abwehr eines übermässigen Leistungsbilanzungleichgewichtes abgeben. Dabei soll das Augenmerk besonders auf Länder mit einem anhaltenden Leistungsbilanzdefizit gerichtet werden. Wird das makroökonomische Ungleichgewicht eines Mitglieds als übermässig eingestuft, kann ein Verfahren zur Korrektur dieses Ungleichgewichts eingeleitet werden. Unternimmt ein Regelsünder nicht innerhalb einer bestimmten Frist ausreichende Massnahmen zur Korrektur des Ungleichgewichts, kann eine verzinsliche Einlage erhoben werden, die bei erneutem Regelverstoss in eine Geldbusse bis zu 0,1% des BIP umgewandelt werden kann. Dabei werden die Empfehlungen der EU-Kommission vom Ecofin-Rat automatisch autorisiert, sofern sich der Rat nicht mit einer qualifizierten Mehrheit dagegen ausspricht. Dies entspricht dem Prinzip der umgekehrten Abstimmung, womit ein reziprokes Abstimmungsverhalten der EU-Staaten erschwert werden soll.

Überwachung aussenwirtschaftlicher Ungleichgewichte unzureichend


Die auseinander driftende wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern der Eurozone hat sich in der Vergangenheit auch in den Inflationsraten der Eurozone niedergeschlagen. So konnte die EZB ihr Inflationsziel von 2% zwar für die gesamte Eurozone mehr oder weniger erreichen, aber für einzelne Euroländer war die Geldpolitik nicht optimal. Wie Grafik 2 zeigt, war die Geldpolitik für Deutschland etwas zu restriktiv, während sie für Spanien deutlich zu expansiv war. Obwohl der vorrangige Auftrag der EZB die Preisniveaustabilisierung ist, wirkte die Geldpolitik der EZB in den Vorkrisenjahren unbeabsichtigt auf Output und Beschäftigung und zudem asymmetrisch. Dazu beigetragen hat die unterschiedliche Lohnpolitik in den Ländern der Eurozone.
Vgl. De Grauwe (2009, Abschnitt 3). Diese asymmetrischen Effekte in der Eurozone können durch nicht-synchronisierte Strukturreformen in den einzelnen Mitgliedsländern begünstigt werden. Verstärkend wirkt ebenso, dass kleine, offene Volkswirtschaften wenig Anreize für eine konjunkturgerechte Fiskalpolitik haben.
Vgl. Dullien/ Schwarzer (2009;161). In einem Aufschwung liegt das Eigeninteresse einer demokratischen Regierung zudem kaum darin, mit einer restriktiven Fiskalpolitik die Konjunktur zu bremsen. So verstärken unkoordinierte, nationale Wirtschaftspolitiken die Divergenzen in einer Währungsunion. Angesichts der Anreize für nationale Regierungen, der Eigenständigkeit der Sozialpartner in der Lohnpolitik und der faktischen Unmöglichkeit Strukturreformen zu synchronisieren, dürfte das Koordinationsversagen nationaler Wirtschaftspolitiken in der Eurozone auch mit der neuen Regel zur Überwachung makroökonomischer Ungleichgewichte kaum beseitigt werden können.
Vgl. De Grauwe (2009, Abschnitt 3); Bofinger (2003, 5ff.) zum Koordinationsversagen von Fiskal- und Geldpolitik.Wie derzeit in einigen Staaten der Eurozone zu beobachten ist, sind die Folgen starker Divergenzen in einer Währungsunion jedoch schmerzhafte Anpassungsprozesse, wie z.B. Nominallohnkürzungen und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit. Damit werden deflationäre Prozesse begünstigt, welche erfahrungsgemäss lange Stagnationsphasen nach sich ziehen. Werden die Kosten des Koordinationsversagens – d.h. die Spill-Over-Effekte nationaler Politik – auf die Eurozone nicht internalisiert, ist eine konvergente wirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone auch weiterhin nicht zu erwarten. Eine Internalisierung der Kosten des Koordinationsversagens wäre etwa möglich, wenn die Lohnentwicklungen der einzelnen Länder sich an der Zielinflationsrate der EZB und dem länderspezifischen Produktivitätsfortschritt orientieren würden oder finanzpolitische Kompetenzen an die EU abgetreten werden.
Vgl. De Grauwe (2009, Abschnitt 4). Einige Experten schlagen etwa eine Grundversicherung für Arbeitslose und eine Unternehmenssteuer auf europäischer Ebene vor.
Vgl. Dullien/ Schwarzer (2009, 165–168). Nach Dullien und Schwarzer (2009, 167) kann der Umfang einer Arbeitslosenversicherung auf EU-Ebene aufgrund ihrer grossen stabilisierenden Wirkung mit einem Beitragssatz von 2% auf die Löhne gering gehalten werden.

Mehr von derselben Medizin


Die Verschärfung des SWP legt nahe, dass die EU die Staatsverschuldung der EU-Staaten als eine Hauptursache für die derzeitige Krise sieht. Angesichts der Schuldenentwicklung in den besonders unter Druck geratenen GIPS-Staaten vor der Krise erscheint diese Diagnose jedoch nur partiell gerechtfertigt.
Vgl. Fussnote 5. Gemessen an einer im Verhältnis zum BIP konstanten Staatsverschuldung (Schuldenquote) – einem in der Ökonomik anerkannten Kriterium für eine nachhaltige Finanzpolitik – zeigten vor der Krise in den Jahren von 2002 bis 2007 nur die Schuldenquoten Deutschlands, Griechenlands und Portugals einen Aufwärtstrend (siehe Grafik 3). Während Deutschland weltweit immer noch zu den Staaten mit der höchsten Bonität gehört, sind Griechenland und Portugal in Schwierigkeiten geraten. Die Schuldenprobleme Griechenlands sind auf institutionelle Mängel des Staatswesens – wie z.B. völlig ineffektive Steuerbehörden – zurückzuführen.
Vgl. De Grauwe (2011, 3). Hier wäre wohl auch der reformierte SWP kaum wirksam gewesen. Einzig Portugal wies vor 2007 eine nicht nachhaltige Schuldenentwicklung auf, was aber mit einer fast stagnierenden Wirtschaft einherging.
So schreibt Münchau (2010) etwa «Portugal exhibited bouts of fiscal profligacy, but the real problem, again, was the banks.» Zudem war die Schuldenquote der gesamten Eurozone vor der Krise relativ stabil und ist nach wie vor mit derjenigen der USA vergleichbar. Ab 2008 ist in Folge von Bankenrettungen und Konjunkturpaketen im Zuge der Krise ein steiler Anstieg der Staatsverschuldung zu beobachten. Folglich lässt sich – abgesehen von Griechenland – die These, wonach die Verschuldungssituation vor der Krise einen erheblichen Anteil an der Malaise der anderen GIPS-Staaten habe, kaum aufrechterhalten.
Vgl. The Economist, September 17th 2011, 64–65; De Grauwe (2011, 2); Münchau (2010). Vielmehr war gerade in Spanien und Irland vor der Krise der Privat- bzw. Bankensektor stark verschuldet. Eine grössere Dosis von derselben Medizin, sprich eine Verschärfung des SWP, erscheint daher kaum gerechtfertigt zu sein.

Konjunkturgerechtere Regel


Immerhin dürfte mit dem Versuch, die Staatausgaben mittelfristig an das Wirtschaftswachstum zu koppeln, die bisher am SWP geäusserte Kritik, Anreize für eine prozyklische Fiskalpolitik zu geben, an Relevanz verlieren.
Vgl. Colombier (2006, 531). Konjunkturpolitisch ist zudem positiv zu werten, dass mit den kurzfristig schwankenden Ausgaben der Arbeitslosenversicherung ein wichtiger automatischer Stabilisator vom präventiven Arm des SWP ausgenommen wurde.

Mehr Europa wagen


Bei der Reform des SWP wird ein zu starker Fokus auf die Verschärfung der Regel gelegt. Hingegen fehlt ein überzeugendes Konzept, das die Kosten des Koordinationsversagens nationaler Wirtschaftspolitiken effektiv internalisieren kann. Dazu wäre ein Schritt hin zu etwas mehr an politischer Union unter den Ländern der Eurozone nötig, wie beispielsweise eine Basisversicherung für Arbeitslosigkeit auf europäischer Ebene. Zusammen mit einer schrittweisen Einführung konjunkturgerecht ausgestalteter, nationaler Fiskalregeln – z.B. einer Schuldenbremse – bei besonderer Berücksichtigung der öffentlichen Investitionen in allen Staaten der Eurozone könnten die Folgen des Koordinationsversagens effektiver als mit dem reformierten SWP angegangen werden.

Grafik 1: «Leistungsbilanzungleichgewichte in der Eurozone, 2002–2010»

Grafik 2: «Inflationsraten ausgewählter Euroländer in den Vorkrisenjahren, 2002–2007»

Grafik 3: «Bruttoschulden in Deutschland, den USA und den GIPS-Staaten, 2002–2010»

Kasten 1: Ergebnisse des EU-Gipfels vom 26./27. Oktober 2011

Ergebnisse des EU-Gipfels vom 26./27. Oktober 2011


Neues Hilfspaket für Griechenland: Griechenland wird ein neues Hilfspaket von 100 Mrd. Euro bekommen. Es soll bis Jahresende endgültig ausverhandelt sein. Im Juli hatten die Regierungen der Euroländer ursprünglich 109 Mrd. Euro öffentliche Hilfe beschlossen. Diese war aber nie abschliessend auf den Weg gebracht worden. Hinzu kommen allerdings zusätzliche Garantien in Höhe von 30 Mrd. Euro als Beitrag des öffentlichen Sektors für den Schuldenschnitt.– Schuldenschnitt: Die Privatgläubiger wie Banken und Versicherungen werden stärker am neuen Griechenland-Paket beteiligt als bisher angenommen. Bereits im Juli hatte die Eurozone beschlossen, die Privatgläubiger mit einem freiwilligen Abschlag auf griechische Staatsanleihen von 21% zu beteiligen. Nun sind es 50%.– Rettungsfonds EFSF: Die Schlagkraft des Rettungsfonds EFSF wird mit einem sogenannten Hebel auf 1 Bio. Euro vervielfacht. Die EFSF wird nun teilweise das Risiko eines Zahlungsausfalls für Schuldtitel gefährdeter Euro-Staaten übernehmen. Zudem soll ein neuer Sonderfonds geschaffen werden, an dem sich der Internationale Währungsfonds (IWF) beteiligt.– Höhere Eigenkapitalquote für Banken: Die führenden Banken Europas müssen sich gut 106 Mrd. Euro frisches Kapital beschaffen.– Stärkere Aufsicht: Die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der 17 Eurostaaten wird stärker beaufsichtigt. Zweimal im Jahr wird es Gipfeltreffen der Euroländer geben, um Strategien festzulegen.

Kasten 2: Finanzstabilisierung in der EUa

Finanzstabilisierung in der EUa


Der im Mai 2010 gegründete Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) wird durch Kreditaufnahme der Europäischen Kommission finanziert und kann Kredite von insgesamt 60 Mrd. Euro vergeben. Kredite des EFSM werden mit qualifizierter Mehrheit des Europäischen Rates gewährt (EU-Richtlinie Nr. 407/2010). Die gleichzeitig gegründete Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) ist eine Zweckgesellschaft der Staaten der Eurozone und verfügt über ein Kreditvergabevolumen von 440 Mrd. Euro mit einer Garantie von 780 Mrd. Euro. Für Kredite der EFSF muss ein einstimmiger Beschluss aller Gesellschafter – d.h. der Staaten der Eurozone – gefällt werden. Die EFSF finanziert sich über Anleihen oder andere Kreditinstrumente. Sie kann unter bestimmten Bedingungen ebenfalls Staatsanleihen notleidender Eurostaaten auf dem Primär- und Sekundärmarkt kaufen. Auch für die Stützung von Banken kann die EFSF Kredite an die Staaten gewähren. Ergänzt werden diese Stabilisierungsmechanismen um IWF-Kreditlinien in Höhe von 250 Mrd. Euro. Bisher sind Finanzhilfen von EFSF und EFSM an Irland (November 2010) und Portugal (Mai 2011) in Höhe von jeweils 22,5 Mrd. und 26 Mrd. Euro gewährt worden. Dabei enthält der Betrag der EFSF an Irland auch bilaterale Kredite von Grossbritannien, Schweden und Dänemark. Zusätzlich ist an beide Länder ein IWF-Kredit in jeweils derselben Höhe bereitgestellt worden.Der für 2013 vorgesehene ständige Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) soll ein Kreditvolumen von insgesamt 500 Mrd. Euro vergeben können, wobei die Kapitalausstattung 700 Mrd. Euro beträgt. Kredite an überschuldete Eurozonenstaaten können wie bei der EFSF nur mit einem einstimmigen Beschluss des Verwaltungsrates, welcher die Mitglieder der Eurozone repräsentiert, vergeben werden. Die Befugnisse des ESM lehnen sich an denen der EFSF an. Unter bestimmten Umständen kann für eine Finanzhilfe des ESM auch eine Beteiligung privater Gläubiger verlangt werden (Schuldenschnitt).

a Zum Thema siehe Homepage der Europäischen Kommission. Die Ausführungen zu den Finanzierungsfazilitäten (EFSM, EFSF, ESM) müssen angesichts der fortlaufenden Entwicklungen in der EU als vorläufig betrachtet werden (vgl. Kasten 1).b Vgl. European Commission (2011).
Kasten 3: Literatur

Literatur


− Bofinger P. (2003): Should the European Stability and Growth Pact Be Changed?, Intereconomics, 38, 4–7.− Colombier C. (2006): Die Schweizer Schuldenbremse – nachhaltiger und konjunkturgerechter als der neue Stabilitäts- und Wachstumspakt?, Schmollers Jahrbuch – Journal of Applied Social Science Studies 126, S. 521–533.− De Grauwe P. (2009): The Fragility of the Eurozone’s Institutions, Open Economics Review 21, 167–174.− De Grauwe P. (2011): Too Much Punishment, Too Little Forgiveness, CEPS Policy Brief Nr. 230/ Januar 2011, Centre for European Policy Studies, Brüssel.− Dullien S., Schwarzer D. (2009): Bringing Macroeconomics Into the EU Budget debate: Why And How?, Journal of Common Market Studies 47, S. 153–174.− The Economist, September 17th 2011, Profligacy Is Not the Problem, S. 64–65.− Eichengreen B., Wyplosz Ch. (1998) The Stability Pact: More Than A Minor Nuisance?, Economic Policy 13, S. 65–113.− EU-Memo/11/647, EU Economic Governance «Six Pack» – State of Play, 28.09.2011.− European Commission (2011): Treaty Establishing in the European Stability Mechanism (ESM), Juli.− Münchau, W. (2010): Why the Stability Pact Is Irrelevant, EurActiv, Brüssel.Für die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts und die Stabilitätsmechanismen siehe die Homepage der Europäischen Kommission: http://ec.europa.eu/economy_finance/ economic_governance/index_en.htm.

Zitiervorschlag: Carsten Colombier (2011). Zu wenig Europa im Reformpaket des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts. Die Volkswirtschaft, 01. November.