Suche

Abo

Zehn Jahre Personenfreizügigkeit mit der EU: Hohe Attraktivität des Schweizer Arbeitsmarktes

Das EU-Personenfreizügigkeitsabkommen ist mittlerweile zehn Jahre in Kraft. Knapp 370 000 Personen sind seither aus den EU/Efta-Staaten netto in die Schweiz zugewandert. Das Arbeitskräftepotenzial hat sich mit der Öffnung gegenüber den EU/Efta-Staaten erheblich erweitert. Bisher hat sich der Schweizer Arbeitsmarkt als ausgesprochen aufnahmefähig erwiesen. Negative Auswirkungen auf die ansässige Erwerbsbevölkerung blieben relativ eng begrenzt. Damit die Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt gut bleiben, sollen die flankierenden Massnahmen weiter optimiert und die bestehenden Stärken der Schweizer Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik gestärkt werden.

Die folgende Bilanz zu den Arbeitsmarktauswirkungen des Freizügigkeitsabkommens (FZA) basiert auf dem 8. Bericht des Observatoriums zum FZA Schweiz-EU. Der Bericht geht jährlich der Frage nach, wie sich das Abkommen auf die Zuwanderung ausgewirkt und wie diese die Ergebnisse im Schweizer Arbeitsmarkt beeinflusst hat.

Starke Zuwanderung aus dem EU/Efta-Raum


In den 1990er-Jahren lag der Wanderungssaldo von EU/Efta-Staatsangehörigen fast bei null. In mehreren Jahren war er sogar negativ; d.h. es wanderten mehr Personen aus als ein. Aus Drittstaaten wanderten damals jährlich rund 26 000 Personen netto in die Schweiz ein. Die Schweizer Volkswirtschaft durchlief eine lange Phase der Stagnation, und die Arbeitslosenquote lag für Schweizer Verhältnisse auf hohem Niveau. Die Nachfrage der Unternehmen nach ausländischen Arbeitskräften war entsprechend klein. Saisonarbeitskräfte wurden damals oft ausserhalb der EU rekrutiert.In den 1990er-Jahren wurde die Schweizer Ausländerpolitik grundlegend neu ausgerichtet. Die Rekrutierung von Arbeitskräften in Nicht-EU/Efta-Staaten wurde auf hoch qualifizierte und spezialisierte Arbeitskräfte beschränkt und das Saisonnierstatut abgeschafft. Gegenüber den EU/Efta Staaten wurde dagegen ab 2002 schrittweise die Personenfreizügigkeit eingeführt. Als Folge dieser beiden Veränderungen gewann die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem EU/Efta-Raum gegenüber jener aus Drittstaaten stark an Bedeutung (vgl.
).

Bedeutung der Zuwanderung für das Bevölkerungswachstum


Seit 2002 wanderten knapp 370 000 Personen aus dem EU/Efta-Raum in die Schweiz ein. Fast die Hälfte davon (47%) kam aus Deutschland; 20% stammten aus Portugal, 11% aus Frankreich und 5% aus Grossbritannien. Aus den zehn neuen EU-Mitgliedstaaten Osteuropas stammten insgesamt knapp 10% der Zuwanderer.Weil die Zuwanderung aus Drittstaaten nach Inkrafttreten des FZA konstant hoch blieb, implizierte die neue Zuwanderung aus den EU/Efta-Staaten auch ein insgesamt deutlich stärkeres Bevölkerungswachstum. In den zehn Jahren vor Inkrafttreten der bilateralen Abkommen trugen die Zuwanderung aus Drittstaaten und das natürliche Bevölkerungswachstum pro Jahr je rund 0,3 Prozentpunkte zum Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz bei. In den letzten zehn Jahren halbierte sich der Beitrag des natürlichen Bevölkerungswachstums auf 0,14 Prozentpunkte, während sich jener der Zuwanderung auf knapp 0,8 Prozentpunkte mehr als verdoppelte. Rund 0,5 Prozentpunkte davon waren auf die Zuwanderung aus dem EU/Efta-Raum zurückzuführen.

Reaktion der Migration auf die Konjunktur


Die Zuwanderung aus dem EU/Efta-Raum reagierte jeweils deutlich auf die konjunkturelle Situation in der Schweiz. Allerdings wurden diese Bewegungen in den letzten Jahren teilweise durch einen wachsenden Trend der Zuwanderung überlagert. Sowohl 2003/04 als auch in der Rezession 2009 verringerte sich der Wanderungssaldo spürbar. 2009 ging die Netto-Zuwanderung aus EU/Efta-Staaten innerhalb eines Jahres um 32% zurück. Weil 2010 der Aufschwung sehr rasch wieder einsetzte und die Bauwirtschaft eine anhaltend hohe Arbeitskräftenachfrage aufwies, stieg der Wanderungssaldo bis Mitte 2011 bereits wieder an. Die jüngste wirtschaftliche Abschwächung gegen Ende 2011 schlug sich wieder in einer Verringerung des Wanderungssaldos nieder, was in den Jahresdaten von
allerdings noch nicht zu erkennen ist.

Starkes Beschäftigungswachstum


Die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes gegenüber den EU/Efta-Staaten hat der Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahren ein überdurchschnittlich starkes Wachstum ermöglicht. In den Phasen des Aufschwungs gerieten die Unternehmen dank erleichtertem Zugang zu Arbeitskräften aus dem EU-Raum weniger rasch in Personalengpässe. Für neue Unternehmen stieg die Attraktivität der Schweiz durch den leichten Zugang zum EU/Efta-Arbeitsmarkt. Auch in Phasen mit schwacher Konjunktur und in der Krise 2009 wirkte sich die Zuwanderung stabilisierend auf die Schweizer Binnenkonjunktur aus und hatte damit auch einen positiven Effekt auf die Beschäftigung. Vor allem der private Konsum und die Bauwirtschaft wurden durch die Zuwanderung in den letzten Jahren gestützt. In den Jahren seit Inkrafttreten des FZA im Jahr 2002 konnten die Dauer- und Kurzaufenthalter und die übrigen Ausländer (+168 000; +5,5% p.a.) sowie die Grenzgänger (+84 000; +4,8% p.a.) ihr Beschäftigungsniveau besonders deutlich steigern. Aber auch Schweizer und niedergelassene Ausländer konnten ihre Erwerbstätigkeit in den letzten zehn Jahren deutlich ausdehnen (+256 000; +0,7% p.a.). Nicht nur die zugewanderte, sondern auch die ansässige Bevölkerung profitierten also von der positiven Beschäftigungsentwicklung.

Erwerbstätigenquote bei Drittstaatsangehörigen bleibt zurück


Um das Wachstum der Erwerbstätigkeit bewerten zu können, ist es ins Verhältnis zum entsprechenden Bevölkerungswachstum zu setzen. Ab 2003 lässt sich die so genannte Erwerbstätigenquote für verschiedene Nationalitätengruppen mit der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake) ermitteln. Dabei zeigt sich, dass im Zeitraum 2003–2011 sowohl EU27/Efta-Staatsangehörige wie auch Schweizerinnen und Schweizer im Alter von 25–64 Jahren
Die Erwerbsbeteiligung von 15- bis 24-jährigen Personen ist neben der Arbeitsmarktsituation stark vom Ausbildungsverhalten geprägt, weshalb diese Alterskategorie hier ausgeschlossen bleibt. ihre Erwerbstätigenquote erhöhen konnten. Bei ersteren stieg sie von 80,2% auf 84,6% um mehr als 4 Prozentpunkte, bei Schweizerinnen und Schweizern von 82,5% auf 84,6% um deren 2. Keine entsprechenden Fortschritte in der Erwerbstätigkeit vermochten Drittstaatsangehörige zu verzeichnen. Ihre Erwerbstätigenquote sank sogar um fast 1 Prozentpunkt von 68,4% im Jahr 2003 auf 67,5% im Jahr 2011. Dass Drittstaatenangehörige ihre Erwerbstätigenquote insgesamt über die letzten Jahre nicht zu steigern vermochten, zeigt, dass ein erheblicher Teil von ihnen vom Strukturwandel, welcher eine grosse Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften entfaltet, weniger stark profitieren konnten als Personen aus der EU und aus der Schweiz. 61% der erwerbstätigen Ausländer aus Drittstaaten stammten im 2. Quartal 2011 aus den Staaten des Westbalkans oder aus der Türkei. Mehrheitlich kamen diese als Saisonniers, über das Asylwesen oder später im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz.

Zuwanderung in stark nachgefragten Berufsgruppen


EU/Efta-Staatsangehörige konnten in der Erwerbstätigkeit seit 2003 vor allem bei jenen Berufsgruppen stark zulegen, in denen auch Schweizer und zum Teil Drittstaatsangehörige Beschäftigungsgewinne erzielten, und die insgesamt überdurchschnittlich wuchsen (vgl.
). Von der Zunahme seit 2003 um 260 000 Erwerbstätige aus dem EU/Efta-Raum (inkl. Grenzgänger) entfielen 64% auf Führungskräfte, akademische Berufe sowie Techniker und gleichrangigen Berufe. Weitere 14% des Zuwachses entfielen auf Dienstleistungs- und Verkaufsberufe und 12% auf Hilfsarbeitskräfte, wobei beide Gruppen ebenfalls überdurchschnittlich wuchsen.Die Zuwanderung aus den EU/Efta-Staaten der letzten Jahre war sehr eng an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientiert. Die drei höchsten Berufsgruppen verzeichneten nämlich nicht nur ein starkes Erwerbstätigenwachstum, sondern auch eine unterdurchschnittliche Erwerbslosenquote. Die Zuwanderung war hier offensichtlich eine willkommene Ergänzung zum ansässigen, ebenfalls bereits wachsenden Arbeitsangebot. Weniger deutlich ist dies der Fall bei Dienstleistungs- und Verkaufsberufen sowie bei Hilfsarbeitskräften. Beide Gruppen verzeichneten zwar ein starkes Wachstum der Erwerbstätigkeit, aber gleichzeitig eine überdurchschnittliche Erwerbslosenquote.

Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit


Die Frage, ob und wie das FZA die Arbeitslosigkeit in der Schweiz beeinflusst hat, lässt sich bis heute nicht ganz schlüssig beantworten. Verschiedene Beobachtungen und Analysen deuten tendenziell auf eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit hin. So kommt etwa Stalder (2010) anhand einer Simulation mit einem Makromodell zum Schluss, dass die Arbeitslosenquote in der Boomphase 2005–2008 ohne FZA um 0,5–0,7 Prozentpunkt tiefer gesunken wäre. Dies wurde durch die leichtere Verfügbarkeit ausländischer Arbeitskräfte mit dem FZA verhindert. Regionale Analysen deuten darauf hin, dass einzelne Grenzregionen nach Inkrafttreten des FZA relativ zu anderen Regionen einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen hatten. Dieses Ergebnis wird auch im diesjährigen Bericht des Observatoriums bestätigt. Des Weiteren ist in Saisonbranchen mit einer Erhöhung der Arbeitslosenzahlen zu rechnen, weil Arbeitskräfte aus den EU/Efta-Staaten in der Zwischensaison Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung in der Schweiz haben und ein «Export» dieser Arbeitslosigkeit nicht mehr möglich ist.Gegen einen bedeutenden negativen Effekt des FZA auf die Arbeitslosigkeit spricht andererseits die Tatsache, dass diese über die letzten 20 Jahre vergleichsweise stabil blieb. Im internationalen Vergleich gehört die Schweiz seit Jahrzehnten unverändert zu den Ländern mit einer sehr tiefen Erwerbslosenquote. Die Arbeitslosenquoten von Ausländern aus dem EU/Efta-Raum wie auch aus Drittstaaten haben sich in den letzten zehn Jahren zudem den tiefen Werten von Schweizerinnen und Schweizern etwas angenähert. Dies dürfte auch Ausdruck der besseren Arbeitsmarktintegration jüngerer Einwandergenerationen sein (vgl.
). Über alles gesehen spricht die Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit eher gegen bedeutende Verdrängungseffekte. Da sich dieser Befund bislang v.a. auf Indikatoren stützt, soll der Frage in den kommenden Monaten in einer wissenschaftlichen Studie noch systematischer nachgegangen werden.

Auswirkungen auf die Lohnentwicklung


Im Durchschnitt der letzten zehn Jahre stiegen die Löhne in der Schweiz real um 0,6% pro Jahr. In den zehn Jahren vor Inkrafttreten des FZA waren es lediglich 0,2% pro Jahr. Da die Lohnentwicklung von vielen Faktoren abhängt, lassen sich aus dieser einfachen Beobachtung noch keine Rückschlüsse über die Wirkung des FZA auf die Löhne ziehen.Die Wirkung des FZA bzw. der Zuwanderung auf die Lohnentwicklung wurde in verschiedenen Studien empirisch analysiert. In der Regel kommen diese zum Schluss, dass eine erhöhte Zuwanderung die Reallohnentwicklung dämpft, weil Fachkräfte besser verfügbar sind und kostspielige Engpässe bei den Unternehmen vermieden werden. So kommt etwa Stalder (2010) zum Ergebnis, dass das Reallohnwachstum zwischen 2002 und 2008 wegen dem FZA um rund 0,25% pro Jahr gebremst wurde. Auch Gerfin und Kaiser (2010) finden auf der Grundlage von Daten der Sake lohndämpfende Effekte, die sich allerdings auf früher zugewanderte Ausländer mit hohen Qualifikationsniveaus fokussieren. Zu einem ähnlichen Befund kommt Favre (2011) mit einer anderen Methode auf der Basis der Lohnstrukturerhebungen von 1994-2008. Während er negative Lohneffekte in Berufsgruppen mit hohen Anforderungen findet, blieben solche bei tieferen Qualifikationen aus.Aus theoretischer Sicht könnte sich ein positiver Lohneffekt mittel- und langfristig dann ergeben, wenn sich dank dem erleichterten Zugang zu Fachkräften Produktivitätsvorteile für die Schweizer Unternehmen ergeben, von denen auch die Arbeitnehmenden profitieren. Über die Wirkung des FZA auf die Produktivität der Unternehmen gibt es bislang keine empirischen Arbeiten. Stalder (2010) findet bisher auf der makroökonomischen Ebene keine Evidenz für eine gestiegene Arbeitsproduktivität. Wie das FZA auf die Produktivität der Unternehmen und der Volkswirtschaft insgesamt gewirkt hat, soll deshalb in den kommenden Monaten noch genauer untersucht werden.

Löhne von neu eingestellten Arbeitnehmenden


Henneberger und Ziegler (2011) haben sich mit der Wirkung des FZA auf die Löhne von neu eingestellten Personen befasst. Der Ansatz ist interessant; tatsächlich erscheint es plausibel, dass sich Lohndruck durch Zuwanderer zuerst bei neu eingestellten Personen manifestiert, welche direkt in Konkurrenz mit den neuen Zuwanderern um eine Stelle stehen. Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist, dass neu eingestellte Ausländer in den Jahren 2004–2008 in einigen Branchen auffällige Lohnabschläge verzeichneten, welche sich mit üblichen lohnrelevanten Faktoren nicht erklären lassen. Diese Ergebnisse sind zwar kein Beleg für Lohnverstösse im Sinne der flankierenden Massnahmen; sie geben aber Hinweise, in welchen Bereichen auf Grund der Zuwanderung am ehesten ein gewisser Lohndruck entstanden sein könnte. Um weitere Hinweise zu gewinnen, hat das Seco die Universität Genf beauftragt, die Wirkung der Zuwanderung auf die Einstiegslöhne unter Einbezug der aktuellsten Daten der Lohnstrukturerhebung 2010 vertieft und mit verschiedenen Methoden zu untersuchen.

Insgesamt ausgewogene Lohnentwicklung


Generell gesehen erwies sich die Lohnentwicklung und -verteilung in der Schweiz in den letzten Jahren über weite Strecken als relativ ausgewogen und über die Zeit erstaunlich stabil. Zwischen 2002 und 2010 wuchs der Medianlohn von einfachen und repetitiven bis zu anspruchsvollen und sehr selbständigen Tätigkeiten um 0,9% bis 1,0% pro Jahr. Lediglich in der Kategorie der höchst anspruchsvollen Tätigkeiten – sie umfasst knapp 10% aller Arbeitnehmenden – hob sich die Lohnentwicklung mit einem Plus von 1,5% pro Jahr ab (vgl.
). Interessant ist im Zusammenhang mit dem FZA besonders die Tatsache, dass sich die Entwicklung der tieferen Löhne nicht von den mittleren Lohnentwicklung abgekoppelt hat. Dies zu verhindern, ist ja ein wichtiges Ziel der flankierenden Massnahmen (vgl.

Kasten 2

Die flankierenden Massnahmen


Im Zuge der schrittweisen Einführung des freien Personenverkehrs mit der EU wurden am 1. Juni 2004 arbeitsmarktliche Massnahmen in Kraft gesetzt. Sie schützen sowohl Schweizer Erwerbstätige als auch vom Ausland in die Schweiz entsandte Arbeitnehmende vor der Unterschreitung der in der Schweiz geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen. Die flankierenden Massnahmen umfassen insbesondere folgende Regelungen:− Das Entsendegesetz verpflichtet ausländische Arbeitgeber, welche Arbeitnehmende im Rahmen einer grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung in die Schweiz entsenden, zur Einhaltung von minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen gemäss den entsprechenden schweizerischen Vorschriften.− Bei wiederholter missbräuchlicher Lohnunterbietung können Bestimmungen eines Gesamtarbeitsvertrages (GAV), welche Mindestlöhne, Arbeitszeiten und paritätischen Vollzug betreffen, leichter allgemeinverbindlich erklärt werden. − In Branchen, in denen es keine GAV gibt, können bei wiederholter missbräuchlicher Lohnunterbietung Normalarbeitsverträge (NAV) mit zwingenden Mindestlöhnen erlassen werden. In Branchen ohne einen allgemeinverbindlich erklärten GAV überwachen die tripartiten Kommissionen den Arbeitsmarkt. In Branchen mit allgemeinverbindlich erklärten GAV wachen die paritätischen Kommissionen über deren Einhaltung. Wirksamkeit und Vollzug der flankierenden Massnahmen wurden seit ihrer Einführung mehrmals verstärkt und optimiert. 2011 kontrollierten die kantonalen tripartiten Kommissionen die Lohn- und Arbeitsbedingungen bei rund 7000 Entsendebetrieben und bei über 7200 Schweizer Arbeitgebern. Die paritätischen Kommissionen prüften die Einhaltung der allgemeinverbindlich erklärten GAV bei 7500 Entsendebetrieben und 11 000 Schweizer Unternehmungen. Zusätzlich wurde bei knapp 5600 meldepflichtigen Selbständigerwerbenden der Status der Selbständigkeit überprüft. Gesamthaft wurden im Jahr 2011 die Lohn- und Arbeitsbedingungen bei über 140 000 Personen kontrolliert. Die tripartiten Kommissionen fanden bei ihren Kontrollen in 14% der Entsendebetriebe und in 9% der Schweizer Betriebe Hinweise auf mögliche Lohnunterbietungen. Die partitätischen Kommissionen meldeten bei 35% der Entsendebetriebe und bei 26% der Schweizer Arbeitgebern Verstösse gegen allgemeinverbindliche GAV-Mindestlohnbestimmungen. Erfahrungsgemäss melden die paritätischen Kommissionen mehr Verstösse als die kantonalen tripartiten Kommissionen. Rund ein Drittel dieser Fälle wird den Kantonen zur Sanktionierung weitergeleitet. Über die letzten Jahre wurde etwa die Hälfte der weitergeleiteten Lohnverstösse durch die kantonalen Behörden rechtskräftig sanktioniert.Am 2. März 2012 hat der Bundesrat das Bundesgesetz über die Anpassung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit verabschiedet. Mit den Änderungen sollen die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit und zur Sanktionierung von Schweizer Arbeitgebern, die gegen Bestimmungen in einem Normalarbeitsvertrag verstossen, erweitert werden. Gleichzeitig sind das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), die Sozialpartner und die Kantone laufend dabei, die Arbeitsabläufe im Vollzug zu verbessern.

).

Fazit und Ausblick


Die Personenfreizügigkeit hat die Entwicklung des Schweizer Arbeitsmarktes in den letzten zehn Jahren stark geprägt. Die Zuwanderung wurde zu einem wichtigen Motor der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung. Der Schweizer Arbeitsmarkt hat sich dabei als sehr aufnahmefähig erwiesen. Negative Auswirkungen auf die ansässige Erwerbsbevölkerung blieben – nach allem, was wir bis heute wissen – eng begrenzt. Gleichzeitig zeigt die Erfahrung der letzten Jahre, dass gute Ergebnisse nicht selbstverständlich sind und dass die Arbeitsmarktpolitik eine bedeutende Rolle zu spielen hat. Namentlich erwähnt sei hier die wichtige Rolle der Gesamtarbeitsverträge und der flankierenden Massnahmen für den Schutz der Arbeitsbedingungen der ansässigen Arbeitnehmenden. Ebenso bedeutsam sind aber auch die Bildungspolitik und das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente der Arbeitsmarktpolitik, welche die Basis der seit vielen Jahrzehnten guten Arbeitsmarktergebnisse in der Schweiz bilden.Auch nach zehn Jahren mit Personenfreizügigkeit können nicht alle Fragen über die Wirkung des FZA auf den Arbeitsmarkt befriedigend beantwortet werden. Um die bestehenden Wissenslücken weiter zu schliessen, wurden vertiefte Analysen initiiert, so etwa zur Wirkung der Personenfreizügigkeit auf die Einstiegslöhne und auf die Produktivitätsentwicklung sowie die Bedeutung von Verdrängungseffekten im Arbeitsmarkt.

 

 

 

 

Kasten 1: Krise in Europa und Zuwanderung

Krise in Europa und Zuwanderung


Die Arbeitsmarktsituation ist zwischen den Ländern Europas extrem unterschiedlich. Während die Arbeitslosigkeit in Deutschland im Frühjahr 2012 mit 5,7% den tiefsten Stand seit 20 Jahren erreicht hat, kletterte sie in Spanien auf beinahe 24%, in Griechenland auf 21% und in Portugal auf 15%. Verschiedene osteuropäische Staaten verzeichneten zweistellige Arbeitslosenquoten; in Frankreich lag sie mit 10% und Italien mit 9,3% ebenfalls hoch. Angesichts dieser starken Ungleichgewichte innerhalb Europas stellt sich die Frage, inwieweit diese die Migrationsflüsse beeinflussen. Bezogen auf die Zuwanderung in die Schweiz war in den letzten drei Jahren eine Verschiebung bei den Herkunftsstaaten festzustellen. Einerseits nahm die Bedeutung der osteuropäischen Länder an der Netto-Zuwanderung zu. Dies war mit der schrittweisen Einführung des FZA und der Erhöhung der Kontingente auch zu erwarten. Auf der anderen Seite stieg in den letzten drei Jahren auch die Netto-Zuwanderung aus Griechenland, Italien, Portugal und Spanien (Gips-Staaten) an. Im Durchschnitt der letzten zehn Jahre entfielen 21% des positiven Wanderungssaldos gegenüber der EU/Efta auf Gips-Staaten, 2011 waren es 38%. Im Gegenzug hat die Zuwanderung aus Deutschland an Bedeutung eingebüsst. Gegenüber 2008, als mit einer Netto-Zuwanderung von 29 000 Personen ein Höchststand erreicht wurde, verringerte sich der Wanderungssaldo im Zuge der Rezession 2009 um rund die Hälfte und verharrte im Aufschwung 2010/2011 auf dem Niveau von rund 15 000 pro Jahr. 2011 machten deutsche Staatsangehörige damit 28% der Netto-Zuwanderung aus der EU/Efta in die Schweiz aus, gegenüber 47% im Jahr 2008.Die beobachteten Verschiebungen in den Herkunftsregionen dürften einerseits mit den stark divergierenden wirtschaftlichen Entwicklungen innerhalb Europas zu erklären sein. So dürften mehr Personen aus Krisenländern im europäischen Ausland auf Stellensuche gehen. Umgekehrt dürfte die schwächere Zuwanderung aus Deutschland auch eine Folge der dortigen guten Arbeitsmarktlage sein. Andererseits erklärt sich die Verschiebung der Herkunftsregionen zum Teil auch damit, dass die Gips-Staaten für die Schweiz traditionelle Rekrutierungsgebiete für die Bauwirtschaft sind, welche in der Schweiz von der Rezession 2009 verschont blieb und bis heute sehr gut läuft. Von der Zunahme der Zuwanderung aus diesen vier Ländern zwischen 2008 und 2011 entfielen 57% auf Erwerbstätige in Bauberufen. Auch die Zuwanderung von Bauarbeitern aus EU8-Staaten nahm zu, allerdings auf deutlich tieferem Niveau. Von der Zunahme der Einwanderung seit 2008 aus den EU8-Staaten entfielen 18% auf das Baugewerbe. Auch für gastgewerbliche und hauswirtschaftliche Berufe werden häufig Personen aus den Gips- und EU8-Staaten rekrutiert. Im Gegensatz zum Baugewerbe stiegen die Einwanderungszahlen im Aufschwung 2010/11 in dieser Berufsgruppe nicht wieder an, was sich mit der schwachen Beschäftigungsentwicklung in diesem Bereich erklärt. EU8-Staatsangehörige konnten allerdings ihren Anteil an der Zuwanderung – auf Kosten von Personen aus anderen EU/Efta-Staaten – in den letzten beiden Jahren etwas ausbauen.

Kasten 2: Die flankierenden Massnahmen

Die flankierenden Massnahmen


Im Zuge der schrittweisen Einführung des freien Personenverkehrs mit der EU wurden am 1. Juni 2004 arbeitsmarktliche Massnahmen in Kraft gesetzt. Sie schützen sowohl Schweizer Erwerbstätige als auch vom Ausland in die Schweiz entsandte Arbeitnehmende vor der Unterschreitung der in der Schweiz geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen. Die flankierenden Massnahmen umfassen insbesondere folgende Regelungen:− Das Entsendegesetz verpflichtet ausländische Arbeitgeber, welche Arbeitnehmende im Rahmen einer grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung in die Schweiz entsenden, zur Einhaltung von minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen gemäss den entsprechenden schweizerischen Vorschriften.− Bei wiederholter missbräuchlicher Lohnunterbietung können Bestimmungen eines Gesamtarbeitsvertrages (GAV), welche Mindestlöhne, Arbeitszeiten und paritätischen Vollzug betreffen, leichter allgemeinverbindlich erklärt werden. − In Branchen, in denen es keine GAV gibt, können bei wiederholter missbräuchlicher Lohnunterbietung Normalarbeitsverträge (NAV) mit zwingenden Mindestlöhnen erlassen werden. In Branchen ohne einen allgemeinverbindlich erklärten GAV überwachen die tripartiten Kommissionen den Arbeitsmarkt. In Branchen mit allgemeinverbindlich erklärten GAV wachen die paritätischen Kommissionen über deren Einhaltung. Wirksamkeit und Vollzug der flankierenden Massnahmen wurden seit ihrer Einführung mehrmals verstärkt und optimiert. 2011 kontrollierten die kantonalen tripartiten Kommissionen die Lohn- und Arbeitsbedingungen bei rund 7000 Entsendebetrieben und bei über 7200 Schweizer Arbeitgebern. Die paritätischen Kommissionen prüften die Einhaltung der allgemeinverbindlich erklärten GAV bei 7500 Entsendebetrieben und 11 000 Schweizer Unternehmungen. Zusätzlich wurde bei knapp 5600 meldepflichtigen Selbständigerwerbenden der Status der Selbständigkeit überprüft. Gesamthaft wurden im Jahr 2011 die Lohn- und Arbeitsbedingungen bei über 140 000 Personen kontrolliert. Die tripartiten Kommissionen fanden bei ihren Kontrollen in 14% der Entsendebetriebe und in 9% der Schweizer Betriebe Hinweise auf mögliche Lohnunterbietungen. Die partitätischen Kommissionen meldeten bei 35% der Entsendebetriebe und bei 26% der Schweizer Arbeitgebern Verstösse gegen allgemeinverbindliche GAV-Mindestlohnbestimmungen. Erfahrungsgemäss melden die paritätischen Kommissionen mehr Verstösse als die kantonalen tripartiten Kommissionen. Rund ein Drittel dieser Fälle wird den Kantonen zur Sanktionierung weitergeleitet. Über die letzten Jahre wurde etwa die Hälfte der weitergeleiteten Lohnverstösse durch die kantonalen Behörden rechtskräftig sanktioniert.Am 2. März 2012 hat der Bundesrat das Bundesgesetz über die Anpassung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit verabschiedet. Mit den Änderungen sollen die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit und zur Sanktionierung von Schweizer Arbeitgebern, die gegen Bestimmungen in einem Normalarbeitsvertrag verstossen, erweitert werden. Gleichzeitig sind das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), die Sozialpartner und die Kantone laufend dabei, die Arbeitsabläufe im Vollzug zu verbessern.

Kasten 3: Literatur

Literatur


− Favre, Sandro (2011): The Impact of Immigration on the Wage Distribution in Switzerland, NRN: The Austrian Center for Labor Economics and the Analysis of the Welfare State, Working Paper 1108, August 2011. − Gerfin, Michael und Boris Kaiser (2010): The Effects of Immigration on Wages: An Application of the Structural Skill-Cell Approach, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Bd. 146, Nr. 4, S. 709–739.− Henneberger, Fred und Alexandre Ziegler (2011): Evaluation der Wirksamkeit der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit – Teil 2: Überprüfung von Lohndruck aufgrund der Personenfreizügigkeit, FAA Diskussionspapier 125, Universität St. Gallen.− Stalder, Peter (2010): Free Migration Between the EU and Switzerland: Impacts on the Swiss Economy and Implications for Monetary Policy, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Bd. 146 (4), S. 821–874.

Zitiervorschlag: Serge Gaillard, Bernhard Weber, (2012). Zehn Jahre Personenfreizügigkeit mit der EU: Hohe Attraktivität des Schweizer Arbeitsmarktes. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.