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Finanzsektorgrösse und Volkswirtschaft: Zu viel des Guten?

Ein möglichst grosser Finanzsektor galt lange Zeit für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung als wünschenswert. Zudem förderten Deregulierung und technologische Neuerungen die dynamische Ausweitung des Sektors. Angesichts der andauernden Finanz- und Schuldenkrise in Europa mehren sich jedoch die kritischen Stimmen. Die Frage stellt sich, ob der Finanzsektor auch einen zu grossen Anteil innerhalb der Gesamtwirtschaft einnehmen und letztendlich das gesamtwirtschaftliche Wachstum hemmen kann. Diese laufende Debatte, die ­ge­rade für die Schweiz mit ihrem grossen Finanzsektor relevant ist, wird im vorliegenden Beitrag aufgenommen.

Der Finanzsektor galt lange als die Vor­zeigebranche, die den Verlust industrieller Wertschöpfung in den westlichen Volkswirtschaften teils kompensieren und den Strukturwandel in Richtung einer dienstleistungsorientierten Ökonomie vorantreiben kann. Dabei haben sich die Möglichkeiten des Sektors seit den 1980er-Jahren sowohl von technologischer als auch regulatorischer Seite aus deutlich erweitert. Dies hat zu einem zeitweise sehr dynamischen Wachstum des Finanzsektors geführt.Die Entwicklungen der jüngsten Jahre haben das Image des Finanzsektors als Vorzeigebranche revidiert. Beginnend mit der Subprime-Krise in den USA bis hin zur zeitlich nachgelagerten Krise im Euro-Währungsraum sind die Finanzmärkte ins kritische Blickfeld der Öffentlichkeit zurückgekehrt. Dieser Perspektivenwechsel schlägt sich auch in der Politik mit einem teils radikalen Umdenken nieder. Als Beispiele seien die USA und Grossbritannien genannt, wo die heute amtierenden Regierungschefs offen eine politische Reindustrialisierungsagenda fordern. Auch für Zypern wurde im Zuge der Rettungsaktionen eine Redimensionierung des Finanzsektors explizit gefordert. Gleichzeitig hat der Druck auf den Finanzsektor in Form einer engeren regulatorischen Zügelung auf nationaler wie internationaler Ebene zugenommen.

Welchen Beitrag leistet der Finanzsektor zur wirtschaftlichen Entwicklung?


Dieser Orientierungswechsel der Politik wirft die Frage auf, welchen Beitrag der Finanzsektor zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung leistet. Darüber herrscht wesentlich weniger Klarheit, als man angesichts der Bedeutung der Fragestellung annehmen könnte. Kaum bestritten in der wissenschaftlichen Diskussion ist heute, dass der Finanzsektor eine wesentliche Rolle bei der Entstehung moderner wirtschaftlicher Strukturen spielt. Offen ist jedoch, ob Finanzentwicklung stets wünschenswert ist oder ob es in weit entwickelten Volkswirtschaften möglicherweise eine obere Grenze gibt, ab der eine weitere ­Expansion gesamtwirtschaftlich schadet.Für eine erste Bewertung einzelner Branchen als Teil einer Volkswirtschaft wird in der Regel auf ihren Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigung und Wertschöpf­ung verwiesen. Ein deutlicher Hinweis auf die Bedeutung des Finanzsektors in dieser Betrachtung sind das überdurchschnittliche Lohnniveau und der (zumindest zeitweise) hohe Wachstumsbeitrag. Diese Perspektive allein wird der tatsächlichen Bedeutung des Finanzsektors aber nicht gerecht. Vielmehr muss der Finanzsektor als ein Netzsektor betrachtet werden. Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Netzsektoren zeigt sich erst bei Berücksichtigung des Zusatznutzens, der durch die Verfügbarkeit des Angebots des Sektors generiert wird. Ohne diese Inputs könnten andere Bereiche der Wirtschaft nicht oder nur wesentlich weniger effizient produzieren. Diese Sektoren stellen somit kritische Vorleistungen bereit. Neben dem Finanzsektor zählen beispielsweise die Energie- und die Verkehrsbranche zu den Netzsektoren.

Funktionen des Finanzwesens als ­Netzsektor


Die Funktion des Finanzsektors kann mit der Funktion des Herzens im menschlichen Körper verglichen werden: Wie das Herz für den Kreislauf des Blutes sorgt, sorgt der ­Finanzsektor für den kontinuierlichen Kreislauf des Geldes. Der Finanzsektor ermöglicht den effizienten Geldfluss zwischen Sparen und Investieren. In diesem Kontext lassen sich mehrere Teilfunktionen unterscheiden, die Finanzunternehmen in der Volkswirtschaft übernehmen. Eine dieser Funktionen ist die Beschaffung von Informationen über Investitionen und die konkrete Anlageentscheidung (Informationsbeschaffungs- und Allokationsfunktion). Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass es für einen einzelnen Sparer vollkommen ineffizient bis unmöglich wäre, den zur Identifikation der geeigneten Investitionsprojekte notwendigen Rechercheaufwand selbst vorzunehmen. Dies gilt analog für die fachmännische Überwachung laufender Investitionsprojekte (Überwachungsfunktion). Eine wesentliche Aufgabe des Finanz­sektors besteht im Pooling von Sparbeiträgen und Investitionen, um unterschiedliche Fristen und variierende Volumina zusammenzubringen (Ersparnispoolingfunktion mit [Fristen-]Transformationsfunktion). Durch das Pooling reduziert sich auch das Risiko für den einzelnen Investor (Risikodiversifikationsfunktion). Darüber hinaus übernehmen in vielen Anlageformen die Finanzinstitute selbst auch einen Teil des Risikos direkt.

Je grösser, desto besser?


Wenn der Finanzsektor die oben genannten Funktionen wahrnimmt, kann eine Volkswirtschaft effizienter wirtschaften. Wenn ein grösserer Finanzsektor diese Aufgaben besser erfüllen kann, profitiert eine Volkswirtschaft umso mehr, je grösser er ist. In der jüngeren Literatur werden jedoch vermehrt auch die Risiken in Bezug auf ein unbegrenztes Wachstum des Finanzwesens diskutiert. Die Kritikpunkte sind indes häufig weniger klar und werden stärker durch die Beobachtung krisenhafter Erscheinungen getrieben als durch eine theoretische Fun­dierung. Im Folgenden werden kurz einige wesentliche Kritikpunkte aufgegriffen.

Systemrisiken und Wachstumsvolatilität


Eine hohe Volatilität des Wirtschaftswachstums, die sich in stark ausgeprägten Konjunkturzyklen ausdrückt, ist aus sozialer und wirtschaftlicher Sicht mit erheblichen Kosten verbunden. Easterly, Islam und Stiglitz (2000) kommen zum Ergebnis, dass eine starke Finanzentwicklung diese Volatilität erhöhen kann. Zwar sinkt die Volatilität bis zu einem bestimmten Niveau der Finanzentwicklung. Übersteigt das Volumen «privater Kredite (durch Einlagenkreditinstitute) in Relation zum Bruttoinlandprodukt (BIP)» aber eine kritische Schwelle, erhöht eine ­weitere Ausweitung der Finanzaktivitäten die Wachstumsvolatilität. Länder, in denen Unternehmen einen hinreichenden Verschuldungsgrad aufweisen und Finanzinstitutionen hochgradig gehebelt sind, ziehen sozusagen Schocks an, da gerade deren Finanzinstitute unter Druck stehen, bei Abschwüngen die Kreditvergabe an Unternehmen einzuschränken.
Vgl. Easterly, Islam und Stiglitz (2000). Folglich vertiefen sich gemäss diesem Szenario wirtschaftliche Abschwünge gegenüber Volkswirtschaften mit geringerem Kreditvolumen. Die Autoren orten die kritische Schwelle bei einem Niveau von 100%.

Too-big-to-fail-Problematik


Die jüngere Krise liefert die Grundlage für einen zweiten Kritikpunkt. Im Zuge der Subprime- wie auch der laufenden Wirtschafts- und Finanzkrise im Euro-Währungsraum wurden Schulden und Haftung für Verbindlichkeiten grosser (systemrelevanter) Finanzinstitute von der Gesellschaft übernommen, um einen Zusammenbruch des Finanzsystems zu vermeiden. Mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist dies jedoch unvereinbar: Erfolglose Unternehmen müssen vom Markt verschwinden (Selbst­reinigung des Marktes). Berücksichtigen ­systemrelevante Finanzinstitute mögliche Rettungsaktionen bereits in ihrer Unternehmensstrategie, können sie das Risiko ihrer Geschäfte auf Kosten des Gemeinwesens über das wettbewerblich sinnvolle Mass hinaus erhöhen. Sie schaffen somit systematisch die Grundlage für Krisen. Die Too-big-to-fail-Problematik bildet somit selbst ein Systemrisiko und ist eng mit der Problematik der Erhöhung der Wachstumsvolatilität verbunden.

Brain-Drain


Der Finanzsektor konkurriert mit der übrigen Wirtschaft um knappe Ressourcen. Dies gilt insbesondere am Arbeitsmarkt für hochqualifizierte Fachkräfte.
Vgl. Cecchetti und Kharroubi (2012): «[] people who might have become scientists, who in another age dreamt of curing cancer or flying to Mars, today dream of becoming hedge fund managers». Diese Fachkräfte fehlen damit an anderer Stelle in ­Wissenschaft oder Wirtschaft, zumal die Innovationsfähigkeit ganzer Branchen unter Umständen von einer relativ kleinen Anzahl von Personen geprägt wird. Cecchetti und Kharroubi (2012) untersuchen, wie die Finanzentwicklung mit dem gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstum korreliert. Aus ihren Ergebnissen schliessen sie, dass die nachweislich hohe Anziehungskraft des Finanzsektors tatsächlich relevante Ressourcen von der Realwirtschaft fernhalten könnte.

Holländische Krankheit


In der ökonomischen Theorie beschreibt die Holländische Krankheit den Zusammenhang zwischen einer zunehmenden Aus­beutung natürlicher Ressourcen und dem Rückgang des produzierenden Gewerbes innerhalb derselben Volkswirtschaft. Der zunehmende Export natürlicher Ressourcen sorgt demnach für eine Aufwertung der inländischen Währung, was sich in eine dauerhafte Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit anderer Branchen – vor allem des produzierenden Gewerbes – übersetzt. Der Zufluss an ausländischem Kapital, der letztlich die «Krankheit» auslöst, kann aber auch andere Gründe haben. So sind die Finanzsektoren kleinerer und wirtschaftlich erfolgreicher Länder (mit eigenständiger Währung und geringem Staatsschuldenniveau) als Save Havens während der anhaltenden Währungs- und Finanzkrise in Europa durch ausländisches Kapital geflutet worden; dies gilt auch für die Schweiz. Die Währungen dieser Länder wurden sprunghaft und dauerhaft aufgewertet. Diese Entwicklung kann eine relevante Einschränkung der Geschäfte – potenziell konkurrenzfähiger – exportierender Unternehmen bewirken und bei Persistenz einen Strukturwandel einleiten. Ein solcher Strukturwandel kann mit dem unwiderruflichen Verlust von kritischem Wissen einhergehen und verschlechtert damit nachhaltig die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes.

Empirische Befunde


Die drei beschrieben Risiken deuten an, dass es sinnvoll ist, den Finanzsektor zumindest aus regulatorischer Sicht kritisch zu begleiten. Ob es jedoch eine Grösse gibt, ab der sich ein weiteres Wachstum des Finanzsektors als nachteilig für die Volkswirtschaft erweist, oder ob die positiven Auswirkungen in einem marktwirtschaftlichen Umfeld die negativen immer überwiegen, lässt sich durch die Analyse der Einzeleffekte nicht beantworten. Nur empirische Studien können hier Einblicke liefern.Die modernen Studien zu Wirtschaftswachstum und Finanzentwicklung lassen sich grob in zwei Strömungen einteilen: jene, die in den 1990er-Jahren entstanden sind und jene, die in den 2000er-Jahren durchgeführt worden sind (vgl. schematische Darstellung in Grafik 1). In der Forschung der 1990er-Jahre finden sich mehrheitlich Studien, die einen positiv-linearen Zusammenhang von Finanzentwicklung und Wirtschaftswachstum sehen (obere Kurve). Sie nehmen damit eine ungeteilt optimistische Sicht ein: Je grösser ein Finanzsektor ist, desto mehr profitiert die gesamte Wirtschaft. Die Studien von King und Levine (1993) sowie Beck, Levine und Loayza (2000) gehören hier zu den prominenten Beispielen. Die obigen Studien wurden für einige Aspekte kritisiert. Vielfach waren ihre ökonometrischen Methoden relativ einfach, und sie nutzten nur vereinzelt Datensets, die zeitliche Variation umfassen (wie Paneldatensätze). Vor allem aber liessen die Autoren mit den gewählten Spezifikationen die Möglichkeit ausser Acht, dass ein nicht-linearer Zusammenhang von Finanzentwicklung und Wirtschaftswachstum vorliegen könnte. Mit der Jahrtausendwende setzte der jüngere Forschungsstrang ein. Er nahm wesentliche Kritikpunkte früherer Studien auf, vor allem die Identifizierbarkeit nicht-linearer Zusammenhänge in den Modellen. Diese Studien zeigten, dass tatsächlich eine abnehmende Stärke des Zusammenhangs (mittlere Kurve) oder gar ein Maximum bestehen könnte, nach dessen Überschreitung eine weitere Ausweitung von Finanzaktivitäten das gesamtwirtschaftliche Wachstum hemmt (untere Kurve). Beispiele dafür stammen von Easterly, Islam und Stiglitz (2000), Arcand, Berkes und Panizza (2011) sowie Cecchetti und Kharroubi (2012). Beide Forschungsstränge berücksichtigen jedoch kaum regionale Daten und betrachten oftmals Industrie- und Entwicklungsländern.Die vorliegende Studie von BAK Basel führt die laufende Diskussion in der Forschung fort.
Vgl. BAK Basel (2013): Der Finanzsektor und die Volkswirtschaft: Stütze oder Last? Die Studie baut auf der International Benchmarking-Database (IBD) von BAK Basel sowie der Datenbank «Financial Development and Structure 1960-2010» der Weltbank auf. Für die Untersuchung werden die Daten von 19 OECD-Staaten
Sample: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland , Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Irland, Italien, Japan, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, USA. bzw. 281 
Regionen aus diesen Staaten von 1980 bis 2010 genutzt.Von der Nutzung eines regionalen Datensets verspricht sich BAK Basel eine Reihe von Vorteilen. So dürften sich die Zusammenhänge zwischen Finanzentwicklung und Wachstum auf regionaler Ebene besser nachweisen lassen als auf nationaler Ebene, da die verwendeten Regionen die funktional zusammenhängenden Wirtschaftsräume besser abbilden als Länderdaten. Darüber hinaus fällt die Varianz der verwendeten Variablen interregional oft deutlich grösser als international, was das Potenzial erhöht, Zusammenhänge zu identifizieren. Nicht zuletzt hilft dabei auch die höhere Anzahl an Beobachtungen. Einschränkend ist allerdings, dass regional nicht die volle Bandbreite an Indikatoren insbesondere zum Finanzmarkt vorliegt. Durch die Konzentration auf die OECD-Länder soll ebenfalls die Chance auf eine Identifikation der interessierenden Zusammenhänge erhöht werden: Die nicht-linearen Zusammenhänge liegen tendenziell im weiter rechts liegenden Teil von Grafik 2, wo vorrangig auch die OECD-Länder zu finden sind.

Beschäftigungsanteil des Finanzsektors und Wirtschaftswachstum


Grafik 2 zeigt den Zusammenhang zwischen regionalem Wirtschaftswachstum und dem Beschäftigungsanteil des Finanzsektors an der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigung als Indikator für die Finanzentwicklung, ermittelt mit einer Panelschätzung über die gesamte Zeitperiode und mit allen Regionen.Der Zusammenhang weist auf Höhe eines Beschäftigungsanteils von etwa 8,5% ein gesamtwirtschaftliches Wachstumsmaximum auf. Schon bei etwa 7,6% liegt das Wachstumsmaximum für die Realwirtschaft (definiert als der Teil der Gesamtwirtschaft, der nicht zum Finanzsektor gehört). Bis zu diesen Beschäftigungsanteilen ist das Wachstum – mit abnehmenden Raten – stets positiv mit der Finanzentwicklung korreliert; jenseits der Maxima hingegen kehrt sich der Zusammenhang ins Negative um. Die Häufigkeitsverteilung der Regionen zeigt, dass die überwältigende Mehrheit der betrachteten Regionen innerhalb des Bereichs liegt, in dem sie von Finanzentwicklung profitieren. Aber es gibt auch einige hochspezialisierte Regionen, denen ihr eigener Finanzsektor zur Last geworden sein könnte.Die Schätzung des realwirtschaftlichen Wachstums hat eine ergänzende Funktion zur Schätzung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums. Da der Finanzsektor selbst in vielen Regionen einen gewichtigen Teil der Gesamtwirtschaft ausmacht, kann es möglich sein, dass die Beschäftigungsentwicklung und das Wachstum des Finanzsektors selbst das gesamtwirtschaftliche Wachstum prägen. Am Beispiel einer Region mit einem grossen, vor allem im Ausland tätigen Finanzsektor lässt sich dies illustrieren: Obwohl keine der oben genannten «Funktionen des Finanzwesens als Netzsektor» zugunsten der regionalen Wirtschaft erfüllt wird, generiert der Finanzsektor selbst durch Dienstleistungsexporte Wachstum. Die Ergebnisse könnten also auch nur einen Zusammenhang innerhalb des Finanzsektors wiedergeben. Das ergänzende Ergebnis für das realwirtschaftliche Wachstum verdeutlicht, dass der verzerrende Einfluss der hochspezialisierten Regionen das dargestellte Ergebnis nicht entscheidend beeinflusst: Auch die isolierte Betrachtung der Realwirtschaft lässt den Kurvenverlauf und den Ort des Wachstumsmaximums weitgehend unverändert.Ergänzend durchgeführte Robustheitstests zeigen, dass ein Wachstumsmaximum auch dann nachgewiesen werden kann, wenn Top-Finanzregionen (Zürich, London, New York u.a.) und bestimmte Zeiträume (z.B. aktuelle Krisenjahre 2006-2010) aus dem Sample eliminiert werden. Die Grundaussagen der Ergebnisse ändern sich mit den Variationen der Spezifikation nicht. Die wichtigsten Robustheitstests sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Es kann festgehalten werden, dass das vorliegende Ergebnis damit die jüngere eher kritische Sicht auf den Zusammenhang von Finanzsektor und gesamtwirtschaftlichem Wachstum bestätigt. Die gewählte quadratische Spezifikation zeigt nichtlineare Zusammenhänge an und weist auf eine wachstums­optimale Grösse des Finanzsektors hin (Maximum). Allerdings legt auch diese Spezifikation noch funktionale Begrenzungen fest und erzwingt einen Extrempunkt. Gerade angesichts der Tatsache, dass das festgestellte Maximum nahe am höchsten beobachteten Beschäftigungsanteil des Finanzsektors liegt, wären die Ergebnisse wohl auch mit einem positiven, aber bei zunehmender Grösse des Finanzsektors stark abnehmenden (und gegen Null tendierenden) Einfluss auf das Wachstum kompatibel. In Grafik 1 entspricht ein solcher abnehmender Grenznutzen der mittleren Kurve gegenüber einem tatsächlichen Rückgang gemäss der unteren Kurve. Ein streng linearer positiver Zusammenhang kann gemäss diesen Resultaten jedoch ausgeschlossen werden.

Die Schweiz und ihr Finanzsektor


Wie Finanzsektor und Volkswirtschaft harmonisch zusammenwirken, ist für die Schweiz von fundamentaler Bedeutung. Im Vergleich zu strukturell ähnlichen Ländern und Regionen in Europa ist die Schweiz – insbesondere ihr bedeutendstes Finanzzentrum Zürich – finanziell hoch entwickelt und spezialisiert. Diese Tatsache bringt mit sich, dass die Schweiz einerseits die Früchte ernten kann, andererseits aber allen potenziellen Risiken des Sektors im Ernstfall in besonderem Masse ausgesetzt ist.Die vergangenen Jahre zeigten, dass Aktivitäten auf den Finanzmärkten zu makroökonomischen Risiken werden können. So stellt die Frankenstärke weiterhin einen Hemmschuh für die Schweizer Exportindustrie dar, was zumindest teilweise auf Kosten der Funktion der Schweiz als «Tresor der Welt» zurückzuführen ist und den Voraussetzungen der Holländischen Krankheit ähnelt. Angesichts der Ergebnisse der vorliegenden und weiterer Studien könnte auch der hohe Spezialisierungsgrad der Region Zürich Anlass geben, die Wirkungen des Finanzsektors auf das regionale Wachstum kritisch zu hinterfragen. Mit einem Beschäftigungsanteil von 10,5% an der Gesamtwirtschaft (2010) hat dieser eine Grösse erreicht, in der möglicherweise das gesamtwirtschaftliche Wachstum eher gehemmt als gestützt wird. Beispielsweise ist ein unerwünschter Brain-Drain zulasten anderer exportorientierter Branchen nicht auszuschliessen. Allerdings dürfen die Spezifika des Einzelfalls nicht vollkommen ignoriert werden – der «im Schnitt» ermittelte Effekt muss nicht zwingend in jedem Einzelfall gelten. So weist gerade der Schweizer Finanzplatz einige spezifische Charakteristika auf, wie beispielsweise eine besonders starke Ausrichtung auf die Vermögensanlage bei einer relativ geringen Bedeutung des Investment Bankings. Die Ergebnisse verdeutlichen jedoch, dass die Entwicklung durchaus kritisch begleitet werden muss und Chancen wie Risiken zukünftig noch besser gegeneinander abgewogen werden sollten. Für ein finanziell hoch entwickeltes Land wie die Schweiz zahlt es sich langfristig aus, die Aktivitäten seiner zahlreichen Finanzakteure stets kritisch zu begleiten und die Regulierung den sich ändernden Verhältnissen anzupassen. So kann sichergestellt werden, dass der Finanzsektor weiterhin in den Dienst der gesamten Wirtschaft gestellt wird.

Grafik 1: «Zusammenhang von Finanzentwicklung und Wirtschaftswachstum in der Literatur»

Grafik 2: «Zusammenhang des regionalen Beschäftigungsanteils des Finanzsektors mit dem regionalen Wachstum der Realwirtschaft und Gesamtwirtschaft, 1980–2010»

Tabelle 1: «Robustheitstests: Variation von Zeiträumen und Regionstypen»

Kasten 1: Weitere Ergebnisse der Studie

Weitere Ergebnisse der Studie


In weiteren Spezifikationen wurden anhand verschiedener Finanzentwicklungsindikatoren die Zusammenhänge mit dem Wachstum der Bruttowertschöpfung, der Wachstumsvolatilität der Bruttowertschöpfung und den Patentanmeldungen als Proxy für Innovationen getestet. Die Gleichungen wurden – je nach Datenverfügbarkeit – auch für einzelne Branchen geschätzt.

Die Qualität der ökonometrischen Ergebnisse scheint stark von der Verfügbarkeit regionaler Daten für die jeweilige Spezifikation abzuhängen. Insgesamt erlauben die Ergebnisse der Studie keine abschliessende Aussage für eine bestimmte Form des Zusammenhangs von Wachstum und 
Finanzentwicklung. Jedoch ist zu erkennen, dass der positiv-lineare Zusammenhang (obere Kurve in Grafik 1) zu Recht hinterfragt wird.

Finanzentwicklungsindikatoren

  • Beschäftigtenzahl im Finanzsektor in Relation zur Gesamtbeschäftigung;
  • Privater Kredit (durch Einlagenkreditinstitute) in Relation zum Bruttoinlandprodukt (BIP);
  • Versicherungsprämienvolumen in Relation zum BIP (ohne Lebensversicherungsprämien);
  • Aktienhandelsumsatz in Relation zur durchschnittlichen realen Marktkapitalisierung;
  • Ausländisches Nettovermögen in Relation zum BIP.


Abhängige Variablen

  • Wachstum der Bruttowertschöpfung;
  • Wachstumsvolatilität der Bruttowertschöpfung;
  • Patentanmeldungen (Innovation).


Kasten 2: Literatur

Literatur

  • Arcand, J.-L., Berkes, E., & Panizza, U. (2011). Too Much Finance. International Monetary Fonds Working Paper.
  • Cecchetti, S., & Kharroubi, E. (2012). Reassessing the Impact of Finance on Growth. Bank for International Settlements Working Papers, Nr 381.
  • Demirgüç-Kunt, A., & Levine, R. (2008). Finance, Financial Sector Policies, and Long-Run Growth. World Bank Policy Research Working Paper Series, Nr. 11.
  • Easterly, W., Islam, R., & Stiglitz, J. E. (2001). Shaken and Stirred: Explaining Growth Volatility. In: Annual World Bank Conference on Development Economics (Vol. 191, S. 211).
  • King, R. G., & Levine, R. (1993). Finance and Growth: Schumpeter Might Be Right. The Quarterly Journal of Economics, 108(3), S. 717–737.
  • Levine, R., Loayza, N., & Beck, T. (2000). Financial Intermediation and Growth: Causality and Causes. Journal of Monetary Economics, 46(1), S. 31–77.
  • Levine, R. (2005). Finance and Growth: Theory and Evidence. Handbook of Economic Growth, Vol. 1, Part A, S. 865–934.
  • Rajan, R. (2006). Has Finance Made the World Riskier? European Financial Management, 12(4), S. 499–533.

Zitiervorschlag: Martin Eichler, Max Kuennemann, Alessandro Torti, (2013). Finanzsektorgrösse und Volkswirtschaft: Zu viel des Guten. Die Volkswirtschaft, 01. Mai.