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Wie die Schweiz ihre Innovationsfähigkeit bewahren kann

Die Schweiz will auch in Zukunft innovationsfähig bleiben. Dies kann sie erreichen, wenn sie dafür sorgt, dass ihr Bildungs-, Forschungs- und Innovationssystem (BFI-System) lebensfähig bleibt, also in der Lage ist, sich selbstständig einem veränderten Umfeld anzupassen. Eine neue Studie macht dazu erstmals die inneren Zusammenhänge im BFI-System sichtbar, mit teils überraschenden Erkenntnissen.

Foto: SBFI


Ob ein Land ein fruchtbarer Boden für Innovationen ist oder nicht, hängt von unzähligen Faktoren ab. Wie aber behält ein Land seine Innovationsfähigkeit, wenn man akzeptiert, dass wir nicht jeden dieser unzähligen Faktoren einzeln bewerten und kontrollieren können, ja mitunter nicht einmal kennen?

Zwei Überlebensstrategien


Das Schweizer Innovationssystem ist ein historisch gewachsenes, komplexes System. Für komplexe Systeme gibt es unterschiedliche Strategien, um erfolgreich zu sein. So gibt es Systeme, die sich optimal auf eine bestimmte Umgebung angepasst haben und erfolgreich sind, weil sie in dieser Umgebung genau das vorfinden, was sie benötigen. Sie haben sich so stark auf ihre Umwelt hin ausgerichtet und optimiert, dass sie zwar ein Höchstmass an Effizienz erreicht haben, aber alles abgebaut haben, was für den Erfolg unter diesen bestimmten Bedingungen nicht benötigt wird. Die Biologie lehrt uns, dass diese Strategie nur so lange erfolgreich ist, wie sich die Umgebung nicht grundlegend ändert. Das derart angepasste System ist langfristig auf Stabilität, Gleichförmigkeit und Berechenbarkeit angewiesen – und entsprechend verwundbar. Spätestens seit Nassim Taleb wissen wir, dass diese Strategie früher oder später in den Untergang führt.
Nassim Nicolas Taleb (2010): Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, DTB. Nassim Nicolas Taleb (2012): Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen, Random House.Eine ganz andere Strategie besteht darin, darauf zu achten, dass das System derart aufgestellt ist, dass es sich bei veränderten Rahmenbedingungen mitverändern kann, ohne seine eigene Existenzgrundlage zu zerstören. Dadurch bleibt es flexibel und funktionsfähig, auch in unsicheren Zeiten. Diese Fähigkeit wird in der Kybernetik als Lebensfähigkeit (Viability) bezeichnet; die Gesetzmässigkeiten lebensfähiger Systeme sind in der Wissenschaftsliteratur hinlänglich beschrieben.
Die Grundlagen finden sich in den Werken von William R. Ashby, Stafford Beer, Warren McCulloch und Heinz von Förster. Eine leicht lesbare Übersicht findet sich bei Dietrich Dörner (1989): Die Logik des Misslingens, Rowohlt. Lebensfähig ist ein System beispielsweise dann, wenn es ein vernetztes Wirkungsgefüge aus geschlossenen Regelkreisen bildet und dabei mehr negative (regulierende) als positive (selbstverstärkende) Regelkreise beinhaltet. Das System muss in wichtigen Bereichen zwingend Redundanzen beinhalten, diese stets aufrechterhalten und (in Subsystemen) Versuch und Irrtum im kleinen Rahmen zulassen, ohne das Gesamtsystem dabei zu gefährden. Die lebensfähigsten Systeme finden sich in der Natur: Jeder heute bekannte höherentwickelte Organismus ist nach diesen Gesetzmässigkeiten aufgebaut.Die Innovationsfähigkeit der Schweiz ist, so meine Behauptung, mit der Lebensfähigkeit des hiesigen BFI-Systems gleichzusetzen. Nach dieser These bewahrt die Schweiz ihre überdurchschnittlich hohe Innovationsfähigkeit so lange, wie die Lebensfähigkeit des BFI-Systems erhalten bleibt oder verbessert wird. Unmöglich? Keineswegs.

Die Sensitivitätsanalyse – angewandt auf das BFI-System


Den Arbeiten des Kybernetikers Frederic Vester verdanken wir eine fundierte und inzwischen über Jahrzehnte verfeinerte Methode, die Lebensfähigkeit eines Systems zu eruieren, zu testen und gegebenenfalls zu verbessern.
Die Sensitivitätsanalyse von Frederik Vester wird ausführlich in seinen Büchern «Denken, Lernen, Vergessen» (DTV 1978), «Neuland des Denkens – Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter» (DTV 1984) und «Die Kunst, vernetzt zu denken» (DTV 1999) beschrieben. Mit der Methode der Sensitivitätsanalyse und der heute damit verbundenen Software können sowohl positive als auch negative Rückkopplungskreisläufe eines Systems erkannt und verstanden werden. Die dabei zugrundeliegenden Einflussgrössen (Variablen) werden in ihrer Systemqualität sichtbar und können bewertet werden.Das Ziel der Sensitivitätsanalyse ist nicht, ein möglichst detailliertes Modell zu erhalten. Das wäre beispielsweise für das BFI-System gar nicht erreichbar, da es sich in der Zeit, in der die Daten erhoben und ausgewertet werden, bereits wieder verändert. Die Sensitivitätsanalyse will das BFI-System als grobe, quasi «über den Daumen gepeilte» Momentaufnahme erfassen und damit in erster Linie einen Überblick über die Zusammenhänge und Wechselwirkungen geben. Gleichzeitig liefert die nachgelagerte Analyse nach Vester erste Anhaltspunkte, welche Potenziale für unterschiedliche zukünftige Entwicklungen darin enthalten sind. Das Gesamtbild, das dadurch entsteht, ist eher ungenau und nicht allgemeingültig – und erst recht keine normative Sicht, wie das System sein sollte. Aber es macht eine klare Aussage darüber, ob das System austariert und anpassungsfähig (sprich zukunftsfähig) ist, oder ob bereits erkennbar ist, dass es instabil wird.Erstaunlicherweise hat kein Land bisher versucht, sein BFI-System mit der Vester’schen Methode auf seine Lebensfähigkeit hin zu analysieren.
Soweit bekannt. Eine diesbezügliche umfangreiche Recherche hat keine Treffer hervorgebracht. Den heutigen Lizenzgebern der Methode ist ebenfalls kein Land bekannt, dass sein BFI-System mit dieser Methode untersucht hätte. Ein kleines Team der nationalen Innovationspolitik hat es unter wissenschaftlicher Aufsicht im Jahr 2012 im Rahmen eines Pilotversuchs gewagt
Das Team bestand aus Manfred Grunt, Sascha Kuster, Rahel Zurfluh und Sebastian Friess, alle im Ressort Grundlagen Innovationspolitik des früheren Bundesamts für Berufsbildung und Technologie. Begleitet wurde das Team von Christiane Gebhardt und Peter Pattis vom Malik Management Zentrum St. Gallen. – die ersten Zwischenergebnisse sind verblüffend.

Wenige quantitative, viele qualitative Variablen


Grundlage der Studie waren etwa zwei Dutzend Variablen, die nach Ansicht der Studienautoren das BFI-System grob in seiner Breite und Tiefe beschreiben können. Es handelt sich dabei um eine höchst subjektive Auswahl der Autoren. Als Variable kam alles in Frage, das veränderbar (variabel) ist und potenziell eine Rolle im BFI-System spielt. Einerseits waren dies quantifizierbare Variablen wie Fachkräfteangebot, Wertschöpfung oder private / öffentliche Gelder im System. Andererseits handelte es sich um eine weitaus höhere Zahl rein qualitativer Variablen wie beispielsweise Bildungsqualität, Forschungsqualität, Image, Stabilität und Rechtssicherheit sowie ein Set von «Swissness»-Variablen wie Qualitätsbewusstsein, Leistungsorientierung oder Diskretion. Die den Variablen inhärente Unschärfe ist gewollt und typisch für eine Lebensfähigkeitsanalyse. Damit wird schnell klar, dass das derart modellierte BFI-System nichts mit der herkömmlichen Beschreibung der Akteure und Institutionen des Schweizer BFI-Systems zu tun hat; auch fehlen beispielsweise die klassischen ökonometrischen Output-Messgrössen der Innovation – wie Anzahl Patente, Anzahl Publikationen usw. – gänzlich. Dieser Bruch ist nicht etwa Zufall, sondern Absicht. Mit der Sensitivitätsanalyse wird nichts gemessen, sondern die inneren Strukturen und Zusammenhänge des Systems werden sichtbar gemacht.

Ergebnisse: Vorsicht bei Eingriffen ins System


In der Studie werden viele bekannte Ansichten über die Schweizer Innovationslandschaft bestätigt. Sie bietet aber auch einige neue, teilweise überraschende Erkenntnisse zu deren Funktionieren. Die Studie zeigt, dass das heutige BFI-System ein sich selbst stabilisierendes System ist, das somit Eingriffe von aussen weder dringend benötigt noch honoriert. Das heisst auch, dass an der Grundstruktur des Systems nichts ohne Not verändert werden soll: Das System als Ganzes funktioniert gut mit den bestehenden Zuständigkeiten, Institutionen und Geldflüssen. Die kritische Ausrichtung des BFI-Systems, so das wichtigste Ergebnis der Systemanalyse, hängt ganz wesentlich davon ab, wie sich die privaten Akteure mit ihren Investitionen verhalten. Das Funktionieren des gesamten BFI-Systems hängt aber nicht nur vom Verantwortungsbewusstsein der privaten Akteure ab, sondern auch davon, dass grundlegende gesellschaftliche Werte von diesen Akteuren geteilt, anerkannt und gefördert werden. Würde sich daran etwas ändern, wären die Folgen kaum absehbar – das System würde sehr rasch sehr instabil.Die Grundwerte (u.a. Qualitätsbewusstsein, Wettbewerbsorientierung und Leistungsbereitschaft), an denen sich unsere Gesellschaft seit langem orientiert, sind im Gefüge des Schweizer BFI-Systems unerwartet zentral und wesentlich mitverantwortlich für sein heutiges gutes Funktionieren. Im Modell zeigt sich dies daran, dass die meisten der «Swissness»-Variablen in die Kategorie der kritischen Variablen fallen (zur Klassifizierung der Variablen siehe Kasten 2

Variablen


Die Klassifizierung der Variablen wird durch ein spezielles Verfahren der Sensitivitätsanalyse ermittelt, welches für jede Variable grob bestimmt, wie stark sie direkt auf jede andere Variable einwirkt (Konnektivitätsmatrix, heute Software-basiert):

  • Kritische Variablen beeinflussen das System stark und werden auch von anderen Variablen stark beeinflusst.
  • Aktive Variablen beeinflussen das System stark, werden aber kaum von anderen Variablen beeinflusst.
  • Passive Variablen beeinflussen selbst nur wenige andere Variablen, werden aber stark vom System beeinflusst.
  • Puffernde Variablen wirken schwach auf das System und werden nur schwach von anderen Variablen beeinflusst.
  • Neutrale Variablen können keiner der vorherigen Kategorien zugeordnet werden.


). Die kritischen Variablen sind für zentrale Steuerungsstellen unangenehm: Sie wirken zwar oft wie attraktive Eingriffspunkte, sind aber so stark im System vernetzt, dass die Nebenwirkungen eines Eingriffs kaum einschätzbar sind.Das Pilotmodell enthält gemäss Sensitivitätsanalyse insgesamt viele kritische Variablen. Damit kommt zum Ausdruck, dass das System über einen hohen Grad an Selbstorganisation und damit an Anpassungsfähigkeit verfügt. Es mahnt gleichzeitig zur Vorsicht bei Eingriffen. Sind sie zu wenig durchdacht, können sie das Gleichgewicht empfindlich stören und die Fähigkeit zur Selbstorganisation untergraben.Weniger überraschend bestätigte sich in der Analyse die kritische Rolle der privaten BFI-Aufwendungen sowie die internationale Zusammenarbeit und die Vernetzung des BFI-Systems innerhalb und ausserhalb der Schweiz.Sozusagen das Rückgrat des Schweizer BFI-Systems bildet eine Bevölkerung, die auf allen Stufen (akademisch und berufspraktisch) solide ausgebildet ist. Dieser Aspekt verbirgt sich im Modell hinter der neutralen Variable Bildungsqualität. Sie wirkt ausgleichend und stabilisierend. Sinkt die Bildungsqualität, könnte dies das Funktionieren und damit die Lebensfähigkeit des gesamten Systems gefährden.Weitere neutrale Variablen sind mit dem politischen System der Schweiz verbunden, allem voran die öffentlichen Gelder im System. Letztere stellen sicher, dass das System auf eine grundlegende Art funktionieren kann – ohne aber wie die private Finanzierung kritisch zu sein. Weitere stabilisierende Variablen sind etwa die Varietät (Sprachen-, Branchen- und Angebotsvielfalt), die Inklusivität (Sozialpartnerschaft und Arbeitsfriede) und Citizenship (mündige, interessierte Bürger). Die hohe Zahl neutraler Variablen ist wie die Zahl der kritischen Variablen ein Zeichen dafür, dass sich das System in einem hohen Mass selbst organisieren kann und lebensfähig ist.Eine besondere Schlüsselvariable für die Lebensfähigkeit des BFI-Systems ist eine gut ausgebaute Infrastruktur. Sie wurde durch die Sensitivitätsanalyse als stärkste aktive Variable bewertet: Aktive Variablen eignen sich zur Steuerung, weil man keine unkontrollierbaren Nebenwirkungen befürchten muss. Demnach dient eine starke Infrastruktur der Stabilisierung des BFI-Systems. Investitionen in die Infrastruktur sind die einfachste Möglichkeit, die Lebensfähigkeit des BFI-Systems zu verbessern.Die Studie zeigt, dass man sich zwar berechtigterweise Gedanken über das Image des BFI-Systems macht, diese Variable aber nur als Indikator dienen kann. Sie ist die stärkste passive Variable und wird vom System stark beeinflusst, hat aber selbst keinen grossen Einfluss auf andere Variablen. Damit wäre es verfehlt, besonders viel Aufwand in Imagekampagnen oder eine Imagekorrektur zu investieren – sie sind nur Kosmetik, solange die Faktoren, die das Image beeinflussen, nicht verändert werden. Interessanterweise ist gemäss Analyse auch die Forschungsqualität eine solche passive Variable, die anzeigt, wie gut das System im Augenblick funktioniert.Schliesslich gibt es zwei Variablen, die im System puffernd wirken: Chancengerechtigkeit und Diffusion (verstanden als institutionalisierter Wissens- und Technologietransfer WTT). Puffernde Variablen sorgen am Rande des Systems dafür, dass plötzliche Schocks aufgefangen werden. Oft handelt es sich dabei aber um sogenannte «Wolf-im-Schafspelz»-Variablen, die hochkritisch werden können, wenn sie einen bestimmten Schwellenwert überschritten haben. Nach Vester sollten wichtige Programme nicht auf diesen Variablen abgestützt werden, da die Effekte leicht verpuffen. Sie unbeachtet zu lassen, wäre aber ein noch schwerwiegenderer Fehler.

Der spätere Mehrwert


Wohin führt der nächste Schritt? Das von den Studienautoren entwickelte Pilotmodell muss nun verfeinert und validiert werden. Danach kann der eigentliche Mehrwert der Sensitivitätsanalyse ausgespielt werden: Einzelne Variablen können gezielt – aber selbstverständlich rein virtuell – verstärkt oder abgeschwächt werden, wodurch die Auswirkungen auf das Gesamtsystem ersichtlich werden. Durch solche Simulationen können langfristige Auswirkungen auf das System betrachtet werden; die Lebensfähigkeit lässt sich im Detail modellieren. Ein so validiertes BFI-Modell dient als Grundlage, um letztlich Fragen nach sinnvollen Eingriffsmöglichkeiten, zukünftiger Entwicklung oder möglichen Systemverbesserungen beantworten zu können, zum Beispiel die Frage, ob die bestehenden Förderagenturen im System richtig platziert sind oder ob es allenfalls eine andere Logik der Förderpolitik bräuchte. Gleichzeitig zeigt sich, an welchen Punkten Eingriffe besser nicht stattfinden sollten – unabhängig davon, wie attraktiv diese erscheinen.

Kasten 1: Angaben zur Studie

Angaben zur Studie


Sensitivitätsanalyse des BFI-Systems Schweiz, Studie 2012 im Auftrag des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie, Christiane Gebhardt, Peter Pattis, Malik Management Zentrum St. Gallen. Veröffentlichung erfolgt im Herbst 2013 im Rahmen der SBFI Schriftenreihe: http://www.sbfi.admin.ch.

Kasten 2: Variablen

Variablen


Die Klassifizierung der Variablen wird durch ein spezielles Verfahren der Sensitivitätsanalyse ermittelt, welches für jede Variable grob bestimmt, wie stark sie direkt auf jede andere Variable einwirkt (Konnektivitätsmatrix, heute Software-basiert):

  • Kritische Variablen beeinflussen das System stark und werden auch von anderen Variablen stark beeinflusst.
  • Aktive Variablen beeinflussen das System stark, werden aber kaum von anderen Variablen beeinflusst.
  • Passive Variablen beeinflussen selbst nur wenige andere Variablen, werden aber stark vom System beeinflusst.
  • Puffernde Variablen wirken schwach auf das System und werden nur schwach von anderen Variablen beeinflusst.
  • Neutrale Variablen können keiner der vorherigen Kategorien zugeordnet werden.

Zitiervorschlag: Sebastian Friess (2013). Wie die Schweiz ihre Innovationsfähigkeit bewahren kann. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.