Suche

Abo

«Wirtschaft und Politik haben sich voneinander entfernt»

Der Leiter der Wirtschaftsredaktion der «Neuen Zürcher Zeitung», Peter A. Fischer, äussert sich im Gespräch mit der «Volkswirtschaft» zum Verhältnis zwischen dem globalisierten Wirtschaftsstandort Schweiz und der Schweizer Politik. Manchen Managern fehle wohl die Zeit, sich um den Heimstandort zu kümmern, sagt der Ökonom. Er erklärt, warum er sich weniger Politprofis im Parlament wünscht.
«Ich bin durch das, was ich in China und Russland gesehen habe, zu einem noch stärkeren Anhänger der direkten Demokratie geworden.» Peter A. Fischer im Staatssekretariat für Wirtschaft SECO in Bern. (Bild: Die Volkswirtschaft)

Nach der Finanzkrise gewinnt die Forderung nach dem Primat der Politik an Legitimation. Bereitet das dem Leiter des liberalen NZZ-Wirtschaftsressorts Sorgen?


Über die Forderung nach dem Primat der Politik diskutieren wir gelegentlich auch hausintern. Ich halte die Diskussion einerseits für banal und andererseits für gefährlich. Banal, weil es doch völlig klar ist, dass die Wirtschaft nicht in einem luftleeren Raum operiert, sondern innerhalb eines politisch bestimmten Ordnungsrahmens. Zudem hoffe und denke ich, dass sich die meisten Manager bewusst sind, dass sie von einem Standort aus handeln, für den sie eine gewisse Mitverantwortung tragen.

Warum halten Sie die Diskussion für gefährlich?


Weil sie oft die Vorstellung ausdrückt, uns ginge es so gut, dass wir alles machen können – ob es nun der Wirtschaft schadet oder nicht.  Das ist gefährlich. Es stimmt zwar: Uns geht es sehr gut. Aber nur, weil wir immer wieder entschieden haben: Was für die Wirtschaft gut ist, ist auch für das Land gut. Und wer träge wird und denkt: «Na ja, das ist ja alles egal, wir sind sowieso besser», der läuft Gefahr zurückzufallen. Ich bin Ökonom, und für mich sind Freiheit und Verantwortung wichtig. Das funktioniert nur, wenn Wirtschaft und Politik Hand in Hand gehen.

Sind sich die Manager ihrer Verantwortung bewusst?


In den letzten Jahrzehnten haben sich meines Erachtens Wirtschaft und Politik etwas voneinander entfernt. Das hängt damit zusammen, dass die Schweizer Wirtschaft – zum Glück – sehr global orientiert ist. Viele Manager sind stark unter Druck. Sie müssen um die Welt reisen und sind immer knapp an Zeit.

Wollen Sie sagen, den Managern sei das Verständnis für die Schweizer Politik abhandengekommen?


Manchen fehlt wohl die Zeit, sich um den Heimatstandort zu kümmern. Vielleicht empfinden sie manchmal auch das Provinzielle der Politik als fremd. Und das ist gefährlich, wie sich in einigen Abstimmungen gezeigt hat. Denn das Wesen der Schweizer Demokratie beruht darauf, dass der Ordnungsrahmen wirtschaftsfreundlich ist. Bisher ist es fast immer gelungen, eine Mehrheit der Stimmbürger davon zu überzeugen. Deshalb ist es wichtig, dass sich Unternehmer äussern und für ihre Sache kämpfen.

Ist das nicht zu pauschal mit der Entfremdung? In den vergangenen Jahren ist der Binnensektor stärker gewachsen als die Exportwirtschaft.


In den letzten Jahren sind tatsächlich geschützte, oft staatsnahe Binnensektoren wie beispielsweise das Gesundheitswesen und die öffentliche Verwaltung überproportional gewachsen. Das ist aber eher ein Alarmzeichen. Denn unser Wohlstand wird ganz wesentlich im exportorientierten Sektor erwirtschaftet, der sehr produktiv ist. Ohne florierende Exportwirtschaft könnte auch der eng damit verzahnte Binnensektor niemals so hohe Löhne bezahlen.

Stellen Sie eine gewisse Trägheit in der Schweiz fest?


Wohlstand fällt nicht vom Himmel. Die ausländischen Konkurrenten schlafen nicht. Ich habe zehn Jahre in Russland und in China gearbeitet. Da sah ich: Gerade in China sind die Leute bereit, viel dafür zu tun, dass es ihnen besser geht. In der Schweiz müssen wir deshalb zu unserer durchaus  vorhandenen Effizienz und Geschicktheit Sorge tragen.

Wie?


Ganz entscheidend ist für mich: Was wir machen, müssen wir effizient tun. Lasst Märkte effizient funktionieren. Danach können wir diskutieren, ob wir das Marktergebnis politisch verändern wollen – indem wir beispielsweise umverteilen. Wobei: Jeder Eingriff verursacht Kosten. Deshalb sollten solche Aktionen zielgerichtet und effizient sein. Der Erhalt der Freiheit ist aus ökonomischer Sicht zentral.

Das heisst Nachtwächterstaat?


Nein, das heisst nicht Nachtwächterstaat. Es braucht einen starken, aber schlanken, dem Bürger verpflichteten  Staat. Denken wir etwa an das Schlagwort Marktversagen. Der Markt ist sehr effizient. Aber er braucht in vielen Fällen eine effiziente Regulierung. Und wenn wir von Marktversagen sprechen, hat dies häufig mit Politik- oder Regulierungsversagen zu tun – und nicht mit Marktversagen selbst. Es braucht den Staat also einerseits, um diesen Ordnungsrahmen sicherzustellen, aber es braucht ihn auch, um politisch bestimmte Verteilungsfragen zu lösen.

Denken wir an die Finanzkrise, wo der Markt versagt hat: 
Begrüssen Sie die neuen Finanzmarktregulierungen?


Eine zentrale Erkenntnis aus der Finanzkrise ist: Es geht nicht, dass Gewinne privatisiert und Verluste vergemeinschaftet werden. Der Staat soll nicht für Verluste aufkommen, die durch ein zu risikoreiches Verhalten generiert wurden. Deshalb ist die Lösung des «Too big to fail»-Problems zentral. Banken müssen in Konkurs gehen können, und sie müssen einstehen für das, was sie machen. Zu viel Regulierung ist allerdings gefährlich.

Inwiefern?


Sie verursacht den Banken nicht nur hohe Kosten. Die Überregulierung führt verstärkt zu einer «Tick the box»-Mentalität: Manager verbringen ihre Zeit, Listen abzuarbeiten, und haken ab, ob alle Bedingungen der Finanzmarktaufsicht und der Corporate-Governance erfüllt sind. Bei einer solchen Arbeitsweise stehen strategische Fragen und Fragen der Verantwortung nicht mehr im Zentrum. Und das ist heikel.

Gehen die Reformen zu den Finanzmarktgesetzen auch in Richtung Überregulierung der Banken?


Die Reformen haben eine gewisse Berechtigung. Erstens, weil wir einen internationalen Finanzplatz haben, und der muss global agieren können. So verlangt die EU beispielsweise für einen Marktzutritt regulatorische Äquivalenz. Das heisst, die Regulierung in der Schweiz muss gleichwertig sein. Da können wir nicht einfach sagen: Das kümmert uns nicht. In der Schweiz haben wir zum Glück die Tradition, zuerst die Prinzipien festzulegen und sie dann mit Vernunft anzuwenden. Dabei sprechen wir miteinander. Und nicht: Wir legen Regeln für jedes Detail fest und nehmen dann einfach das Handbuch aus dem Regal.

Was ist schlecht daran, wenn durch das Finanzdienstleistungsgesetz die Anleger besser geschützt werden sollen?


Die Frage ist doch: Wen schützt man wirklich? Wie beispielsweise beim Arbeitnehmerschutz. Wenn man zu sehr reguliert beim Arbeitsmarkt, dann ist der Arbeitnehmer arbeitslos und findet keine neue Stelle.

Wir sprechen hier vom Bankenwesen.


Das Bankenwesen funktioniert beim Anlegerschutz ähnlich. Die Bank muss unzählige Formulare ausfüllen, die besagen, dass der Kunde dieses oder jenes zur Kenntnis genommen hat. Damit sichert sie sich letztlich bloss selber ab. Deshalb gilt auch hier: Der Kunde ist nicht dumm. Er trägt eine gewisse Verantwortung für sein Verhalten. Mehr Formulare und Zertifizierungen für Berater garantieren keineswegs eine bessere, verantwortungsvollere Dienstleistung. Die Gesetzesänderungsvorschläge schiessen teilweise deutlich über das Ziel hinaus.

Themenwechsel. Nach der Annahme der Masseneinwanderungs- und der Abzockerinitiative wurde kritisiert, die direkte Demokratie schade der Wirtschaft. Teilen Sie diese Kritik?


In Russland und in China hat man mir immer erklärt, die direkte Demokratie überfordere die Bürger. Im Sinne von Churchills bekanntem Zitat kann ich sagen: Die direkte Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, mit Ausnahme aller anderen, die ich kenne. Ich bin durch das, was ich in diesen Ländern gesehen habe, zu einem noch stärkeren Anhänger der direkten Demokratie geworden. Erstens, weil bei uns Entscheidungen breit abgestützt werden: Interessengruppen werden dazu gebracht, sich zu erklären, um anschliessend einen Konsens zu finden. Zweitens, weil die Stimmbürger hierzulande nicht nur darüber abstimmen können, welche Ausgaben sie wollen, sondern auch, wie sie diese finanzieren. Das halte ich für ganz zentral. Vereinzelt habe ich mich aber auch schon gefragt, ob die direkte Demokratie manche Stimmbürger überfordert.

Bei einer Stimmbeteiligung von 40 Prozent zum Beispiel?


Die Stimmbeteiligung ist nicht so entscheidend. Jeder kann ja entscheiden, ob er abstimmen will. Aber ich war schon sehr betroffen, als die Masseneinwanderungsinitiative angenommen wurde. Da führten durchaus berechtigte Sorgen und Ängste dazu, dass man einem Instrument zugestimmt hat, das viele neue Probleme schafft und uns schadet – ohne die eigentlichen Probleme zu lösen. Ich glaube, da waren sich zumindest einige Stimmbürger nicht ganz bewusst, was das bedeutet.

Sie sagen, die direkte Demokratie trage zum Konsens bei. Aber die Entscheide an der Urne werden eben gerade nicht durch einen Kompromiss gefällt.


Der binäre Entscheid ist das eine. Aber schauen wir doch auch, was nachher kommt. Im Fall der Masseneinwanderungsinitiative ist nun ein längerer Prozess in Gang gesetzt worden, dessen genaues Ergebnis noch unklar ist. Das haben wir der direkten Demokratie zu verdanken. Nun hoffe ich, dass es uns gelingen wird, eine Lösung zu finden, die es erlaubt, unser Verhältnis zu Europa zu bewahren und gleichzeitig die Migrationsfrage so zu regeln, dass wieder ein Konsens entsteht.

Dennoch: Bei solchen Volksabstimmungen kommen Emotionen hoch. Das ist Gift für die Wirtschaft.


Mit solchen Situationen muss man umgehen können. Es ist gefährlicher, wenn sich Emotionen in politischem Extremismus entladen. In der Schweiz führen solche Volksentscheide immer zu langen Diskussionen – und einer Konsenssuche. Initiativen müssen ja auch umgesetzt werden. Was mich mehr beunruhigt: Diese stark etablierte Konsenskultur ist in letzter Zeit in Bedrängnis geraten – durch die Polarisierung auf beiden Seiten des politischen Spektrums.

Auch Referenden und Initiativen haben in den vergangenen Jahren zur Polarisierung beigetragen.


Ja. Traditionell war ja die Volksinitiative ein Instrument für Gruppen, die im parlamentarischen Betrieb kein Gehör fanden. Heute verwenden es Parteien immer mehr, um Wahlkampf zu betreiben. Das ist eine ungute Entwicklung. Dennoch ist jetzt keine Panik angesagt. Nach der Masseneinwanderungsinitiative kamen komplexe Initiativen zur Abstimmung: Ecopop, Goldinitiative und Pauschalsteuer. Wären sie angenommen worden, wären sie alle schädlich für die Wirtschaft und für das Land gewesen – doch alle wurden deutlich abgelehnt. Das zeigt doch, dass die direkte Demokratie in der Schweiz funktioniert. Insofern sehe ich die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative auch als ein Weckruf an die Wirtschaft, dass etwas nicht stimmt.

Wollen Sie sagen: Die direkte Demokratie weist die Wirtschaft in Schranken, wenn sie überschiesst?


Die direkte Demokratie definiert den Ordnungsrahmen, in dem die Wirtschaft agieren kann. Sie definiert etwa, ob ein Unternehmen Fachkräfte genug schnell finden kann und deshalb lieber hier tätig ist als an einem ausländischen Standort. Wenn nicht, dann wandern eben Arbeitsplätze ins Ausland ab.

Haben wirtschaftspolitische Themen einen Einfluss  auf den Wahlkampf und das Wahlergebnis?


Wirtschaftspolitische Themen sollten beim Wahlkampf präsent sein. Und zwar nicht nur im Sinne von Schlagwörtern, sondern weil es wirklich um ernsthafte Fragen geht. Die Schweiz ist wirtschaftlich erfolgreich. Wir haben sehr viele internationale Unternehmen, und unsere KMU sind eng verzahnt mit den vielen internationalen Unternehmen. Wenn ein Teil der grossen Firmen wegzieht, dann kommt schnell Sand ins Getriebe.

Ist es erfolgversprechend für die Parteien, solche Fragen aufzunehmen?


Ich glaube, es ist noch nicht allen genügend bewusst, wie sehr die Frankenstärke zusammen mit der Unsicherheit über unser künftiges Verhältnis zu Europa und der Zukunft der Unternehmensbesteuerung für den Wirtschaftsstandort Schweiz ein gefährlicher Schock ist. Darauf müssen wir geschickt reagieren. Ich hoffe, dass die Wähler wirtschaftspolitische Themen ernst nehmen und überlegen, welche Parteien vernünftige Antworten haben. Die Schweiz leidet in vielen Bereichen wieder unter einem Reformstau, weil für längerfristig orientierte, vernünftige Reformen die notwendigen soliden politischen Mehrheiten fehlen. Die Stimmbürger haben es in der Hand, das zu ändern.

Die Forschung zeigt aber, dass im Jahr 2011 die Frankenstärke von den Parteien nicht in Wählerstimmen umgemünzt werden konnte.


Ich hoffe, dass die wirtschaftspolitischen Themen mehr Einfluss haben werden als bei den letzten Wahlen. Das ist eine Chance für die Parteien. Die direkte Demokratie hat sehr viel mit Erklären zu tun und mit der Fähigkeit, komplexe Sachverhalte herunterzubrechen. Die Wirtschaft hat es in den letzten Jahren etwas verpasst, zu vermitteln, dass es nicht nur darum geht, Abstimmungskämpfe zu gewinnen. Es geht um das Grundverständnis: Was für die Wirtschaft gut ist, ist in einem guten Ordnungsrahmen auch für die Gesellschaft gut.

Der freie Markt steht in der Kritik bei der Bevölkerung. Das führt zu Misstrauen gegenüber der Position der Wirtschaftsvertreter.


Es braucht glaubwürdige Wirtschaftsvertreter, die ihre Position nachvollziehbar erklären. Es braucht auch Medien, die wirtschaftspolitische Zusammenhänge aufzeigen, analysieren und kommentieren. Es braucht hoffentlich die NZZ (lächelt). Wenn ich die Länder in Europa und die Schwellenländer mit der Schweiz vergleiche, ist das Verständnis der Bevölkerung für wirtschaftliche Zusammenhänge bei uns deutlich grösser. Ich glaube, das verdanken wir der direkten Demokratie. Insofern bin ich nicht so pessimistisch. Es gibt einen Grundkonsens, dass eine marktwirtschaftliche liberale Grundordnung der Schweiz zu ihrem Erfolg verholfen hat. Wir haben einen attraktiven Standort. Die Schweiz ist politisch stabil, verlässlich und solide, manchmal sind wir halt etwas langweilig und langsam.

Wie steht es um die Verfilzung in unserem Land?


Ich habe lange in grossen Ländern gearbeitet und bin deshalb überzeugt: «Small is beautiful.» Man kennt sich, kommt regelmässig zusammen, muss sich immer wieder begegnen und mit den Argumenten des anderen auseinandersetzen. Das bedeutet, dass man immer wieder den Konsens suchen muss. Es ist wichtig, dass die Politiker die Anliegen der Wirtschaft verstehen. Und deswegen ist es auch wichtig, dass Interessenvertreter den Politikern das erklären.

Sie halten wenig von der Kritik am Lobbyismus…


Ich glaube nicht, dass Politiker in der Schweiz gekauft werden können. Aber es ist manchmal ein Problem, dass die Politik die Wirtschaft und die Probleme eines Unternehmers nicht mehr versteht und umgekehrt. Deshalb wäre es mir eigentlich lieber, wenn es wieder mehr Durchlässigkeit zwischen Politik und Wirtschaft gäbe und etwas weniger klassische Politprofis im Parlament.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar, Susanne Blank, (2015). «Wirtschaft und Politik haben sich voneinander entfernt». Die Volkswirtschaft, 03. April.

Zur Person

Peter A. Fischer ist seit November 2010 Leiter der Wirtschaftsredaktion der NZZ in Zürich. Zuvor war der Doktor der Ökonomie während dreieinhalb Jahren NZZ-China-Korrespondent in Peking. Von 2001 bis 2007 wirkte er als Wirtschaftskorrespondent für Russland, Zentralasien und den Kaukasus in Moskau. Sein Eintritt in die Wirtschaftsredaktion der NZZ erfolgte 1999. Die Dissertation erlangte Fischer in Hamburg zum Thema «Ökonomie der Immobilität». Das Studium der Wirtschaftswissenschaften absolvierte der Ökonom in Bern, Kiel und Hamburg. Fischer ist verheiratet und lebt in Wetzikon bei Zürich.