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Eiertanz um die Entbürokratisierung

Sie ist ein Dauerbrenner der Schweizer Wirtschaftspolitik: die «administrative Entlastung». Unter diesem Titel versuchen Bund und Kantone seit Ende der Neunzigerjahre die durch staatliche Auflagen verursachte Belastung der Unternehmen in Schach zu halten. Allein seit 2006 wurden auf Bundesebene über 200 Massnahmen zur Entlastung der Firmen verabschiedet und grösstenteils umgesetzt. Um das politische Bewusstsein der Folgen von Regulierungen zu schärfen, existiert auch das Instrument der Regulierungsfolgenabschätzung. Mit dem KMU-Forum nimmt schliesslich eine ausserparlamentarische Kommission regelmässig kritisch Stellung zu den neuen Gesetzesvorhaben. Alles in allem verfügt die Schweiz – mit wenigen Ausnahmen – über ein Instrumentarium der administrativen Entlastung, das sich im Lichte einer internationalen «good practice» sehen lässt. Alles paletti, sollte man meinen.

Falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Die Belastung der Regulierung nimmt weiter zu. Die Anzahl Seiten Rechtserlasse erreichte 2015 allein auf Bundesebene einen Bestand von rund 69’000 Seiten Landes- und Staatsvertragsrecht – rund ein Fünftel mehr als zehn Jahre zuvor. Die dauerhaft steigende Regulierungsdichte gehört nach wie vor zu den Hauptsorgen der Unternehmen, obwohl das Bundesparlament zu diesem Thema allein in den letzten vier Jahren mehr als 80 Vorstösse verfasste. Wie ist dies möglich? Ist es ein Zeichen von leeren politischen Versprechen? Gehen die Behörden mutlos vor? Sind wir alle Opfer einer unaufhaltbaren Bürokratisierung der Gesellschaft? Oder sind möglicherweise die Erwartungen an die Politik der administrativen Entlastung zu hoch?

Mut zur Deregulierung


Die Politik der administrativen Entlastung grenzt sich begrifflich bewusst von einer Deregulierungspolitik – wie sie in den Neunzigerjahren in vielen Industrieländern geführt wurde – ab. Im Gegensatz dazu werden staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen heute nicht grundsätzlich infrage gestellt; die Notwendigkeit der Regulierung wird anerkannt. Das Ziel liegt vielmehr bei der Optimierung des Vollzugs: Staatliche Auflagen im Bereich des Umweltschutzes beispielsweise werden als legitim betrachtet, hingegen soll der Aufwand der Unternehmen bei Erfüllung der Vorgaben minimiert werden.

Dieses Politikverständnis hat den Vorteil, dass eigentlich niemand gegen eine administrative Entlastung sein kann. Wer will schon unnötige Bürokratie? Folgerichtig ist die Unterstützung für diese Politik der kleinen Schritte über die Parteigrenzen hinweg gegeben. Als Kehrseite muss nach bald 20 Jahren administrativer Entlastung wohl eingestanden werden: Die Wirksamkeit dieses Ansatzes stösst an Grenzen. Auch bei optimiertem Vollzug führen viele neue Eingriffe zu mehr bürokratischer Belastung.

Deshalb ist realistischerweise davon auszugehen, dass die Regulierungsdichte kaum abnehmen wird, solange nicht bewusst auf neue Regulierungen verzichtet oder bestehende Regelungen zurückgefahren werden. Politische Forderungen nach einem eigentlichen Regulierungsstopp oder einem Programm zur Deregulierung des Wirtschafts- und Alltagslebens sind in der Öffentlichkeit aber kaum zu hören. Administrative Entlastung ist mehrheitsfähig, Deregulierung nicht. Der Ruf nach weniger Bürokratie ist gut, derjenige nach weniger staatlichen Eingriffen verdächtig. Dann und wann entsteht der Eindruck eines Eiertanzes, zu dem das Begriffsmonster «Regulierungsentbürokratisierung» passen würde.

Zitiervorschlag: Eric Scheidegger (2016). Eiertanz um die Entbürokratisierung. Die Volkswirtschaft, 25. Mai.