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«Wir wissen jetzt schon, dass wir nicht viele Ausnahmen aushandeln können»

Die EU und die USA verhandeln derzeit über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, Leiterin des Staatssekretariats für Wirtschaft, erläutert gegenüber der «Volkswirtschaft», was im Falle einer Einigung beim TTIP-Abkommen auf die Schweiz zukäme. Bei der Option, dem Regelwerk beizutreten, sieht die Staatssekretärin noch Gestaltungsspielraum. Viele Ausnahmen liegen jedoch nicht drin.
«Die schwierigsten Fragen werden erst in der letzten Nacht gelöst.» Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch in ihrem Büro in Bern. (Bild: Marlen von Weissenfluh, Seco)
Frau Ineichen-Fleisch, als Seco-Chefin sind Sie häufig in anderen Ländern unterwegs. Was hören Sie über die Schweiz?

Ich höre viel Anerkennung, weil es uns mitten in Europa wirtschaftlich so gut geht. Ich werde deswegen häufig gefragt, wie wir das machen.

Und was antworten Sie?

Es sind unsere guten Rahmenbedingungen. Insbesondere unser duales Bildungssystem und unser anpassungsfähiger Arbeitsmarkt, der nicht durch flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne, sondern durch eine lebendige Sozialpartnerschaft geprägt ist. Als Drittes nenne ich unsere offene Volkswirtschaft, namentlich offene Märkte. Natürlich kommen noch unsere Stabilität, unsere Rechtssicherheit und unsere Innovationskraft hinzu.

Apropos offene Volkswirtschaft: Die Zahl der Freihandelsabkommen ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen. Ende April hat die Schweiz im Rahmen der Efta-Staaten mit den Philippinen ein Freihandelsabkommen unterzeichnet. Wie vielversprechend ist dieser Weg über bilaterale Freihandelsabkommen?

Es gab eine Zeit, da führte ein verbesserter Marktzutritt über das multilaterale Handelssystem. Der Weg über die heutige Welthandelsorganisation (WTO) ist in dem Sinn einfacher, als die Abkommen dann für alle WTO-Staaten gelten. Inzwischen ist es in der WTO aber bedeutend schwieriger geworden, Marktzugangsverbesserungen auszuhandeln. Mit ein Grund, weshalb Freihandelsabkommen an Bedeutung gewonnen haben. Für die Schweizer Wirtschaft sind sie vor allem in Asien wichtig, weil dieser Kontinent wirtschaftlich an Bedeutung gewinnt. Aber natürlich sind Freihandelsabkommen grundsätzlich für uns wichtig, um Diskriminierungen von Schweizer Unternehmen – vor allem gegenüber solchen aus der EU und den USA – zu vermeiden.

Wo stehen wir in den Verhandlungen mit Indonesien und Indien?

Indonesien ist ein riesiges Land, das noch nicht so viele Erfahrungen mit Freihandelsabkommen hat. Nachdem die Verhandlungen in einer ersten Phase harzig verlaufen waren, sind wir mit unseren Partnern übereingekommen, diesem Prozess einen neuen Anstoss zu geben. Mit Indien haben wir nach zweijähriger Pause demnächst wieder eine Sitzung der Chefunterhändler, die ich leiten werde. Wir haben da einige schwierige Punkte offen, aber ich hoffe, dass wir nach dieser langen Pause wieder ins Gespräch kommen können.

Im Moment sind die Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA aktuell. Worum geht es inhaltlich?

Wie bei jedem Abkommen geht es auch beim TTIP in erster Linie um Marktzugänge. Es geht neben dem Zollabbau insbesondere darum, sicherzustellen, dass Regulierungen den gegenseitigen Marktzugang nicht unnötig erschweren. Die Länder müssen selbstverständlich die Freiheit behalten zu regulieren. Es geht zum Beispiel darum, die Sicherheit von Produkten zu gewährleisten. Regulierungen können sich aber auch wachstumshemmend auswirken. Freihandelsabkommen fördern schliesslich die Zusammenarbeit zwischen den Behörden. Somit werden die Handelsflüsse erleichtert.

Wie informiert sich die Schweiz über den Verhandlungsstand?

Zusammen mit den übrigen Efta-Staaten haben wir mit den USA einen sogenannten Trade Policy Dialogue. Mit der EU benutzen wir unsere regelmässigen Kontakte auf allen Ebenen, um das TTIP zu thematisieren. Da die USA mit der EU verhandeln und nicht mit Dritten, erfahren wir zwar einiges, aber natürlich nicht alles. Weil wir die Interessen der beiden jedoch kennen, wissen wir, was die USA und was die EU üblicherweise fordern. Die von Greenpeace aufgedeckten TTIP-Leaks waren deshalb auch keine Überraschung.

Welche Bedeutung hat das TTIP-Abkommen für die Schweiz?

Momentan noch keine. Aber falls es zu einem Abschluss kommt, der den gegenseitigen Marktzugang stark verbessert, dann kämen wir in Zugzwang. Das betrifft sowohl unseren Marktzutritt in die USA, aber eventuell auch die Konkurrenz auf dem EU-Markt, sollten die USA eine bessere Behandlung in der EU erhalten. Exporte von Agrarprodukten würden beispielsweise auf dem EU-Markt einer stärkeren Konkurrenz ausgesetzt.

Die Optionen für die Schweiz heissen Andocken oder Fernbleiben?

Es gibt noch eine andere Option. Ein Freihandelsabkommen mit den USA. Welche Option die wahrscheinlichste ist, hängt einerseits vom Resultat ab und andererseits von der Bereitschaft der USA und der EU.

Nehmen wir an, die Schweiz entscheidet sich fürs Andocken. Was bedeutet das?

Dem Regelwerk beitreten. Man kann zwar beim Ausarbeiten des Regelwerks nicht mehr mitmachen, aber man könnte nachträglich noch Marktzugangslisten, das heisst Zolllisten aushandeln. Wir wissen allerdings jetzt schon, dass wir nicht viele Ausnahmen werden aushandeln können.

Wäre ein Mitmachen überhaupt möglich?

Die USA und die EU haben uns gegenüber angedeutet, es gebe keinen Grund, das TTIP nicht als offenes Abkommen auszugestalten. Offiziell haben die EU und die USA jedoch noch keine Entscheidung getroffen, ob und zu welchen Bedingungen ein TTIP-Beitritt möglich sein wird.

Berichte im Auftrag des Seco zu den wirtschaftlichen Auswirkungen eines TTIP auf die Schweiz wurden erstellt. Dabei schätzt man Veränderungen des BIP langfristig zwischen –0,5 und +2,9 Prozent ein. Wie beurteilen Sie diese Spannbreite?

Es kommt sehr auf die Inhalte des Abkommens an. Es kann sein, dass man bis Ende Jahr einen Abschluss hat, aber inhaltlich-materiell noch nicht das Niveau erreicht hat, das man anpeilt. In diesem Fall wird man das Abkommen später mittels Evolutivklauseln weiterentwickeln. Die Schätzung von –0,5 Prozent basiert auf der Annahme, dass ein wirklich gutes Abkommen zustande kommt und wir nicht mitmachen.

Weite Teile der EU-Bevölkerung befürchten eine Angleichung von Standards auf tieferem Niveau. Stichwort Chlorhühner, Hormonfleisch und genmanipulierte Nahrungsmittel. Verstehen Sie diese Bedenken der Bevölkerung?

Ja, ich verstehe die Bedenken. Ich bin aber überzeugt, dass die EU bei Themen wie genmodifizierten Produkten oder Hormonfleisch gegenüber den USA keine Konzessionen machen wird. Die EU wiederholt immer wieder, dass sie ihre Standards nicht senken wird.

Könnte das Abkommen deshalb kippen?

Einerseits könnten diese emotionalen Themen einen Abkommensabschluss erschweren. Andererseits könnte auch das Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren ein Knackpunkt sein. In solchen Fällen sollte nach Lösungen gesucht werden, die den politischen Vorgaben Rechnung tragen.

Was ist beim Streitbeilegungsverfahren strittig?

In der EU gibt es Kritik am sogenannten Investor-Staat-Streitschlichtungsmechanismus, der Klagen von ausländischen Investoren gegen Staaten ermöglicht. Sorgen bereiten die nationale Souveränität, die Transparenz oder die Unabhängigkeit der Schiedsrichter. Deshalb hat die EU eine Reform des Systems mit der Einrichtung eines Investitionsgerichtshofes vorgeschlagen.

Der Abschluss des TTIP ist also aus Ihrer Sicht noch unsicher. Wie schätzen Sie die Chancen ein?

Das ist schwierig einzuschätzen, denn die schwierigsten Fragen werden erst in der letzten Nacht gelöst. Bisher kann man sagen, dass beide Seiten den Willen haben, einen Abschluss herbeizuführen. Beide Lager streben nach einer weiteren Liberalisierung des Handels mit dem Ziel, Wachstum und Beschäftigung zu erhöhen. Die USA haben mit der TPP, also der Trans-Pacific Partnership, einen grossen Teil der pazifischen Zone abgedeckt. Nun soll mit der EU die atlantische Seite folgen. Damit hätten sie ihre grössten Interessen wohl abgedeckt. Auch die EU hat ein grosses Interesse an einer Handelsliberalisierung mit den USA. Wir wären deshalb schlecht beraten, wenn wir davon ausgingen, dass das sowieso nicht kommt.

Denken Sie, dass der Abschluss dieses Abkommens noch vor den US-Präsidentschaftswahlen kommt?

Beide Parteien sehen das so vor. Es ist schwierig, zu sagen, ob sie das schaffen. Aber man spürt von beiden Seiten den Willen, diese Verhandlungen abzuschliessen.

Ein wichtiges Thema ist ja auch die Landwirtschaft. Nicht nur beim TTIP ist die Landwirtschaft ein grosser Knackpunkt – auch für weitere Freihandelsabkommen, welche die Schweiz abschliessen möchte. Kommt die Öffnung in der Landwirtschaft früher oder später?

Bis jetzt konnten wir die Abkommen immer so abschliessen, dass wir unsere Agrarpolitik respektieren konnten. Auch mit China war das so. Unsere Partner haben bis anhin Verständnis für diese Position gezeigt. Auch Indien verlangt keine grossen Konzessionen in diesem Bereich. Mit anderen Partnern stossen wir jedoch je länger, je mehr an unsere Grenzen, und es wird schwieriger, ohne weiter gehende Zugeständnisse im Agrarbereich Freihandelsabkommen abzuschliessen. Bei den USA müssten wir namhafte Konzessionen machen – wir kennen die Position der USA diesbezüglich. Einige wenige Ausnahmen werden wir dort vielleicht bekommen, aber nicht in dem Umfang, den wir sonst immer bekommen. Dasselbe ist der Fall mit anderen Ländern, beispielsweise mit den beiden südamerikanischen Ländern Brasilien und Argentinien im Rahmen der Mercosur, die für die Schweiz auch ein interessanter Markt sind.

Aber das scheint ausweglos zu sein, denn politisch gibt es keinen Spielraum für eine Öffnung in der Landwirtschaft…

Die USA sind der zweitgrösste Markt für uns. Wenn das TTIP kommt und unsere Wirtschaft in den USA gegenüber den europäischen Konkurrenten plötzlich ins Hintertreffen gerät, dann wird eine Diskussion unumgänglich sein. Die Sektoren, die diskriminiert werden, werden gleich lange Spiesse fordern.

Die Schweiz und Europa ist ein weiteres ganz grosses Thema in diesem Jahr…

Das ist eindeutig das Thema, das mich am meisten beschäftigt. Es ist das wichtigste Thema in den nächsten zwei bis drei Jahren. Für die Wirtschaft ist es absolut von zentraler Bedeutung.

Sind Kontingente oder ein wirksamer Inländerschutz möglich, ohne das Freizügigkeitsabkommen zu verletzen?

Nein, das denke ich nicht.

Die Schweiz hat ein Freihandelsabkommen mit der EU aus dem Jahr 1972, reicht das nicht?

Dabei handelt es sich um ein Freihandelsabkommen der ersten Generation, das nur die Zölle für Industrieprodukte und verarbeitete Agrarprodukte abdeckt. Die Integration ist inzwischen viel weiter fortgeschritten – wir haben im gegenseitigen Interesse 120 weitere Abkommen mit der EU abgeschlossen. Etwa über die Anerkennung von Zertifizierungen und Produktvorschriften, über den Luftverkehr, das öffentliche Beschaffungswesen, über Forschung und Wissenschaft. In den Zustand von 1972 zurückzukehren – über 40 Jahre in die Vergangenheit –, wäre ein massiver Rückschritt.

Die EU wird niemals so weit gehen und uns die Bilateralen aufkündigen, oder?

Wer warum kündigen könnte, steht im Moment nicht im Vordergrund. Aber wir können ja nicht einfach in einem Zustand leben, in dem wir die Staatsverträge verletzen.

Das Seco ist ein Grossbetrieb mit über 700 Mitarbeitenden. Das Aufgabengebiet reicht von Exportkontrollen des Kriegsmaterials, Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden, KMU-Politik, Arbeitslosenversicherung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit bis hin zu den Freihandelsabkommen. Wo setzen Sie als Seco-Chefin Ihre Prioritäten?

Wie gesagt: Masseneinwanderung, EU und Bilaterale – das sind momentan die Hauptthemen. Und diese Themen beschäftigen verschiedene Bereiche des Seco: Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarkt, Personenfreizügigkeit und flankierende Massnahmen. Ich setze mich überall dort ein, wo meine Führung oder Unterstützung notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn Antworten auf neue Entwicklungen vorbereitet werden. Und wenn bei einem Freihandelsabkommen mit einem Land noch die letzten Hürden zu nehmen sind, dann nehme ich aktiv am Prozess teil. Schliesslich vertrete ich die Schweiz an zahlreichen Treffen mit Regierungsvertretern. Das kann die Jahresversammlung einer Entwicklungsbank sein oder eine Ministerkonferenz zu den Themen Arbeitsmarkt und Digitalisierung.

Das tönt nach Feuerwehrübungen.

Nein, das ergibt sich aus der Fülle und der Diversität der Aufgaben des Seco und macht meine Arbeit sehr spannend.

Wie würden Sie Ihren Führungsstil umschreiben?

Ich würde sagen: motivierend und entscheidungsfreudig, ein Mix aus Teamarbeit und Guidance. Die Direktionen sind unterschiedlich und brauchen je nach Thema unterschiedliche Führung. Manchmal mehr direkte, manchmal steht Coachen im Vordergrund.

Zitiervorschlag: Susanne Blank, Nicole Tesar (2016). «Wir wissen jetzt schon, dass wir nicht viele Ausnahmen aushandeln können». Die Volkswirtschaft, 22. Juni.

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch ist seit April 2011 Direktorin des Seco sowie Leiterin der Direktion für Aussenwirtschaft. Nach einem Rechtsstudium an der Universität Bern und einem MBA am Institut Européen d’Administration des Affaires im französischen Fontainebleau begann die heute 55-Jährige ihre Karriere beim Bund im ehemaligen Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi), dem Vorgängeramt des Seco. Ab 1999 leitete sie dort das Ressort Welthandelsorganisation (WTO). Von 2007 bis 2011 war sie Botschafterin und Delegierte des Bundesrates für Handelsverträge, Chefunterhändlerin der Schweiz bei der WTO sowie Mitglied der Geschäftsleitung des Seco.