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«Die Arbeit wird für alle anspruchsvoller»

Mit der Digitalisierung der Wirtschaft werde die Weiterbildung entscheidend, sagt Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann gegenüber der «Volkswirtschaft». Heute befänden wir uns in der vierten industriellen Revolution, die fünfte werde bestimmt irgendwann kommen. Primär sei jeder Einzelne und jede Einzelne selber verantwortlich, dass er oder sie up to date bleibe.
«Es braucht mehr denn je permanente, lebenslange Weiterbildung.» Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann im Gespräch mit der «Volkswirtschaft». (Bild: Viviane Futterknecht / Die Volkswirtschaft)

Herr Schneider-Ammann, welches ist Ihre Lieblingsapp?


Eine Gib-mir-mehr-Zeit-App müsste man noch erfinden (überlegt)… Meine Lieblingsapp ist natürlich die «Volkswirtschaft»-App (schmunzelt).

Das gefällt uns. Sie engagieren sich seit einem Jahr sehr stark für das Thema Digitalisierung. Woher kommt dieses Feuer?


Einerseits fasziniert mich Technologie seit je – ich studierte ja vor 40 Jahren an der ETH Elektrotechnik, das waren die Anfänge der Digitalisierung. Anderseits ist die erfolgreiche Nutzung der digitalen Transformation massgeblich für die Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes – und damit für Jobs und Perspektiven in der Schweiz. Dafür brennt mein Feuer. In den vergangenen drei industriellen Revolutionen hatte der technologische Fortschritt trotz aller Ängste positiven Einfluss: Es gab mehr Jobs und mehr Wohlstand in unserem Land. Wir haben eine hervorragende Ausgangslage, damit sich das nun wiederholt. Aber wir müssen noch viel tun.

Was sind die Konsequenzen des Wandels?


Der Wandel führt dazu, dass ganze Tätigkeitsfelder und Berufe abgelöst werden. Aufgrund dieser technologischen Realitäten kann es nicht unser Ziel sein, Uber und Airbnb zu verbieten. Aber wir müssen verstehen, welche Rahmenbedingungen für diese Firmen und im Sinne des gesellschaftlichen Gemeinwohls den grösstmöglichen Nutzen stiften. Der Kaufmännische Verband spricht von 100’000 Arbeitsplätzen in der Branche, die verschwinden werden. Das kann ich nicht ausschliessen. Gleichzeitig haben wir für die Schweiz aber die Ambition, dass mehr als 100’000 neue Arbeitsplätze insgesamt geschaffen werden. Diese neuen Stellen setzen moderne Grundlagen in der Bildungspolitik voraus. Wir machen eine Chancenpolitik und nicht eine Angstbewirtschaftungspolitik.

Im Bericht zur digitalen Wirtschaft schreibt der Bundesrat, dass insgesamt mit keinem Rückgang der Beschäftigung zu rechnen sei. Sie sagen sogar, das Ziel sei es, die Beschäftigung noch auszubauen. Ist das nicht Schönfärberei?


Nein, mein Ziel ist es, jeder Person in diesem Land eine Perspektive zu geben. Jede und jeder soll zuerst eine Ausbildung abschliessen und dann eine Tätigkeit ausüben. Im Laufe der dritten industriellen Revolution in den Achtzigerjahren hatte ich in meinem Unternehmen entschieden, dass wir komplett von der Mechanik auf die numerische Steuerung umstellen. Einige der Kader im Betriebsbereich sträubten sich damals dagegen. Ich wies sie darauf hin, dass sie nicht erstaunt sein sollten, wenn es für sie später keinen Platz mehr gebe. Am Schluss waren alle dabei. Die Firma machte Produktivitätsfortschritte, gewann an Wettbewerbsfähigkeit und war deshalb weiterhin im Markt. In der vierten Revolution passiert nichts anderes: Es gibt eine Effizienzsteigerung und einen Wettlauf. Deshalb ist es nicht Schönfärberei. Wir können die gute Ausgangslage, die die Schweiz hat bei der Digitalisierung, nutzen und nach wie vor eine hohe Beschäftigung aufweisen. Wenn wir hingegen versuchen zu bremsen, dann findet die Digitalisierung anderswo statt – und dort entstehen dann auch die neuen Arbeitsplätze. Das müssen wir verhindern.

Warum muss sich der Bundesrat mit der Digitalisierung beschäftigen? Es gibt zahlreiche private Initiativen, wie etwa Digitalswitzerland.ch


Erstens begrüsse ich Initiativen wie Digitalswitzerland.ch. Insbesondere wenn dadurch sichergestellt wird, dass Jungunternehmer und bewährte Kräfte aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft zusammenfinden und sich gemeinsam den Herausforderungen der digitalen Transformation stellen. Die Entwicklung ist so komplex, dass der Staat diese nicht von oben steuern kann. Und das wollen wir auch gar nicht. Das führt mich zum zweiten Punkt: Der Bundesrat macht eine saubere Ordnungspolitik. Sauber heisst: Der Bund stellt die Rahmenbedingungen bereit und bietet möglichst viel Freiraum für die Privaten. Der Bundesrat kommt grundsätzlich zum Schluss, dass es derzeit keinen legislativen Handlungsbedarf gibt.

Auch bei der Sharing-Economy heisst das Fazit des Bundesrates, dass die aktuelle Gesetzgebung diese Geschäftsmodelle angemessen erfassen kann. Ist es nicht zu einfach, nichts zu tun?


Wir tun ja nicht nichts. Aber manchmal ist es besser, man hört zu, bevor man sich als Besserwisser ausgibt. Bei diesen Regulativen ist das genauso: Weil unser Arbeitsmarkt liberaler ist als der unserer Nachbarländer, gibt es a priori mehr Raum, um neue Prozesse und Technologien übernehmen zu können, ohne dass man erst die Gesetze dazu machen muss. Wo das Korsett eng ist und kein Spielraum besteht, muss man es erst öffnen – und das Öffnen ist viel schwieriger als das Einführen neuer Gesetze.

Die neuen Arbeitsmodelle stellen auch Herausforderungen an die Sozialversicherungen. Ist der Uber-Fahrer selbstständig oder unselbstständig?


Man muss jedes Tätigkeitsgebiet, ja jeden einzelnen Fall für sich beurteilen. Das tun derzeit Gerichte. Es gibt keine allgemein gültige Regel. Momentan ist die Digitalisierung in der Mobilität mit Uber im Fokus. Es muss sichergestellt sein, dass für alle Marktteilnehmer in einem bestimmten Segment die gleichen oder vergleichbare Rahmenbedingungen gelten.

Mit anderen Worten heisst das, dass Mitarbeiter von Uber Angestellte sein werden und der Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge einziehen und abgeben muss?


Das habe ich nicht gesagt. Grundsätzlich lautet die Frage doch, ob das bestehende Recht ausreichend Ermessensspielraum zulässt, damit die Bestimmungen beispielsweise zum Vertragsrecht oder zu den Sozialversicherungen auch auf die neuen Arbeitsformen, Berufsbilder und Arbeitsbedingungen der Sharing-Economy beziehungsweise der Plattformbeschäftigten angewendet werden können. Dieser und andere Fragen geht der Bund in seinem Bericht zum Postulat Reynard nach, der im Herbst in den Bundesrat kommt. Ich greife dem nicht vor.

Durch den Strukturwandel gibt es auf dem Arbeitsmarkt eine Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage. Den Bauarbeiter kann man nicht einsetzen, um Software zu programmieren. Auch Leute im kaufmännischen Bereich sind davon betroffen. Wie gehen Sie diese Herausforderung an?


Für mein Verständnis bleibt die Bildungspyramide gültig: mit der Grundbildung für die breite Bevölkerung und den Nobelpreisgewinnern ganz oben. Die Pyramide wird per se etwas nach oben geschoben. Das heisst, die Arbeit wird für alle anspruchsvoller. Trotzdem bleibt es eine Pyramide.

Gibt es für die unten in der Pyramide noch Platz im Arbeitsmarkt?


Natürlich. An einer Hochschule gibt es weiterhin angewandte Forschungstätigkeiten im Labor. Da braucht es Laboranten, die künftig ganz selbstverständlich neue elektronische Geräte bedienen können. Junge Leute, die damit aufwachsen, beherrschen das. Das wird ganz organisch geschehen. Es braucht auch weiterhin Zudientätigkeiten – zwar etwas digitalisiert, aber es braucht sie immer noch. Ergo müssen wir dafür sorgen, dass wir alle miteinander die Pyramide nach oben schieben können, ohne dass die Basis wegfällt.

Und wie machen wir das? Braucht es eine Nachholbildung für diese Leute?


Weiterbildung ist ein Begriff mit grosser Zukunft. Es braucht mehr denn je permanente, lebenslange Weiterbildung, und zwar für alle, nicht nur für die bereits Gutgebildeten. Damit bleibt man auf dem Arbeitsmarkt gefragt und kann die Karriere beeinflussen. Heute befinden wir uns in der vierten Revolution, die fünfte wird bestimmt irgendwann kommen. Weiterbildung ist also entscheidend.

Wer ist dafür verantwortlich?


Primär ist jeder Einzelne und jede Einzelne selber verantwortlich, dass er oder sie up to date bleibt. Wir prüfen zurzeit, ob es für gering qualifizierte und insbesondere ältere Arbeitnehmende noch spezielle finanzielle Impulse braucht.

Inwiefern ist auch der Arbeitgeber einzubeziehen?


Der wird automatisch einbezogen. Die Märkte verlangen vom Arbeitgeber, dass er bei den Besten ist und technisch kompetitiv bleibt. Damit hält die Digitalisierung Einzug beim Arbeitgeber. Die Mitarbeiter müssen die Bereitschaft haben, diesen Sog mitzumachen. Sie müssen sich bewegen und sich weiterbilden. Und die Arbeitgeber unterstützen sie dabei, in ihrem eigenen Interesse.

Braucht es bei der Arbeitslosenversicherung mit den arbeitsmarktrechtlichen Massnahmen eine Neuausrichtung?


Wir haben diese Diskussion geführt und sind der Meinung, dass nicht speziell etwas angepasst werden muss. Die Instrumente in der Arbeitslosenversicherung bestehen und sollten auch in Zukunft genügen.

Sie sagten, die Schweiz verfüge über eine gute Ausgangslage bei der Digitalisierung. Wie kommt es, dass sie beim E-Government im internationalen Vergleich Nachholbedarf aufweist?


Es gibt Bereiche, bei denen wir im Rückstand sind, es gibt auch Bereiche, wo wir gut unterwegs sind. Ich sass als Bundesrat einige Jahre im Steuerungsausschuss des E-Government-Projekts. Wegen der föderalistischen Struktur ist es zeitaufwendig, Bund, Kantone, Städte und Gemeinden auf eine gemeinsame Schiene zu bringen. In der Konsequenz führt das zu etwas Rückstand, aber wenn eine Lösung vereinbart ist, dann wird sie von allen getragen. Wir wären nicht in vielen Bereichen ganz vorne mit dabei, wenn diese demokratische, föderale und aufwendige Konzeption von Projekten falsch wäre. Einige Projekte haben wir trotzdem zum Abschluss gebracht.

Meinen Sie etwa E-Health?


Das ist eines davon. Es ist zwar noch lange nicht reif, aber von der Idee her durchbuchstabiert. E-Voting ist in der Testphase und bereits relativ weit fortgeschritten. Inzwischen probieren das fünf Kantone aus. Es ist aber noch nicht ganz wasserdicht, und deshalb lässt man es noch nicht in allen Kantonen zu. In den fünf Jahren, die ich als Bundesrat im Steuerungsausschuss war, habe ich immer wieder nach dem One-Stop-Shop gefragt. In der Finanzierungsbotschaft des letzten Jahres musste ich deswegen um fünf Millionen kämpfen, die man mir abklemmen wollte. Die Version 1.0 des One-Stop-Shops wird im Verlauf 2017 live gehen. Sie wird erste elektronische Behördenleistungen für die Unternehmen anbieten und dann fortlaufend weiterentwickelt.

Wie steht es um das Innovationspotenzial in der Schweiz? Die letzte digitale Innovation aus der Schweiz – die Computermaus – ist schon mehrere Jahrzehnte her.


Es ist überhaupt nicht so, dass zwischenzeitlich nichts passiert wäre. Die innovativen Ideen entstehen rund um die EPFL, ETH, Universitäten und Fachhochschulen. Zentral sind die kreativen Köpfe und eine gute Zusammenarbeit zwischen Schule, Forschung und KMU-Umsetzungspartner. In der Innovationsentwicklung kommt irgendwann die Frage, ob man den Markteintritt finanzieren kann oder nicht. Und die meisten können es nicht. Diese Jungunternehmen werden sozusagen weggeschnappt, und deshalb sind die Innovationsleistungen nicht mehr öffentlich sichtbar wie seinerzeit bei der Computermaus.

Was meinen Sie mit weggeschnappt?


Sie werden aufgekauft. Neun von zehn Projekten überleben das Death Valley nicht. Bevor sie abstürzen, müssen sie also von jemandem übernommen werden, der über Mittel verfügt. Das sind in der Regel die grösseren Unternehmen.

Sind diese genügend interessiert?


Ja, die sind sogar darauf angewiesen. Firmen wie Nestlé oder Novartis haben hierzulande an der ETH und weltweit Screening-Trupps, welche nach marktfähigen Innovationen suchen. Das wird systematisch gemacht.

Wie soll man die innovativen Start-ups in der Schweiz zusätzlich fördern?


Let it happen. Lassen wir ihnen möglichst viel Spielraum. Dabei ist es nicht unwichtig, dass Professoren der Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne nebst ihrer Haupttätigkeit relativ grosszügig sogenannte Nebentätigkeiten ausführen dürfen. Es gibt im Moment politische Kräfte, die versuchen, die Hochschullehrer in den Lehrsaal zurückzudrängen. Das ist falsch, denn so reduziert man ihre Kapazität, an Projekten mitzuarbeiten und diese zu fördern. Man muss den Leuten vertrauen, dass sie ihren Hauptauftrag – die Ausbildung und die hochschulgewollte, unabhängige Forschung – wahrnehmen.

Sie sollen sich also vernetzen können?


Ja, es geht um die Vernetzung – einen der wesentlichen Treiber der digitalen Transformation – und darum, dass man Umsetzungspartner findet. Das sind in der Regel die Kleinunternehmen. Man muss die beiden zusammenführen und ihnen helfen, Projekte zu starten. Das ist es, was wir mit der Innosuisse, der Nachfolgeorganisation der Kommission für Technologie und Innovation, machen wollen. Auch der Schweizerische Nationalfonds macht nichts anderes, als zu helfen, Projekte voranzutreiben. So entsteht dann beispielsweise die aussergewöhnliche Position der Schweizer Medizinaltechnik.

Denken Sie, es ist wichtig, dass Schweizer in schweizerische Start-ups investieren, oder kann das Geld auch vom Ausland kommen?


Ich will die Arbeitsplätze hier haben, das will ich betonen. Aber es ist für mich ohne Weiteres denkbar, dass diese Stellen mit ausländischem Kapital finanziert werden. Wir sind ein offenes Land mit internationalem Personal und Studenten an den Hochschulen. Es wäre völlig falsch, zu glauben, wir würden unser Glück gut schmieden, wenn wir nur Schweizer Investoren zulassen.

Die Schweiz hat in der zweiten und der dritten industriellen Revolution erfolgreiche Grossunternehmen hervorgebracht. Ist das in der vierten Revolution wieder möglich?


Niemand ist besser aufgestellt als unsere Pharmabranche oder Konzerne wie Nestlé. Für den Erfolg ist mir wichtig, dass wir nicht nur über die ganz grossen Unternehmen sprechen, sondern auch über die kleineren. Wenn sich ganz grosse Unternehmen im Markt begegnen, dann bleiben dazwischen Nischenmärkte bestehen, die man anvisieren kann. Innovative Kleinunternehmen finden dort ihren Platz. Wenn der Markt jedoch unter vielen kleinen Unternehmen aufgeteilt wird, dann sind diese Nischen so klein, dass sie kaum mehr von Interesse sind.

Durch die zunehmende Digitalisierung werden viele Unternehmen auch immer wieder von Hackerangriffen heimgesucht. Bereitet Ihnen das Sorgen?


Das gibt es, und es ist nicht ganz zu verhindern. Aber man kann sich wappnen dagegen, indem man es rechtzeitig merkt. Für mich hat das nichts mit Technologie zu tun, sondern mit Führung. Wenn Sie eine Kultur vorgeben, in der die Leute den Mut haben, zu sagen, wenn sie nicht sicher sind und Hilfe brauchen, dann haben Sie die Chance, dass Sie einen Angriff entdecken und frühzeitig Gegenmassnahmen treffen können. Wenn Sie eine Kultur haben, wo jeder Angst hat und die Kommunikation nicht läuft, dann werden sie dauerhaft überrannt und überrascht.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar, Susanne Blank, (2017). «Die Arbeit wird für alle anspruchsvoller». Die Volkswirtschaft, 23. Februar.

Johann N. Schneider-Ammann
Der Vorsteher des Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF), Johann N. Schneider-Ammann, ist seit 2010 Mitglied des Bundesrates. Zuvor war der 65-jährige Berner über zehn Jahre FDP-Nationalrat. In dieser Zeit präsidierte der damalige Verwaltungsratspräsident des Langenthaler Maschinenbauunternehmens Ammann Group den Verband der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie Swissmem und war Vizepräsident des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. In das Familienunternehmen seiner Frau trat er 1981 ein. Schneider-Ammann studierte Elektrotechnik an der ETH Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.