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Freizügig und flankiert: Konträre Ansprüche an den Arbeitsmarkt

Die Schattenseite der Personenfreizügigkeit ist die damit verbundene Regulierung: Insbesondere die flankierenden Massnahmen beeinträchtigen die Flexibilität des Arbeitsmarktes und liefern verschiedenen Akteuren einen willkommenen Deckmantel für Protektionismus.

Freizügig und flankiert: Konträre Ansprüche an den Arbeitsmarkt

Wäre die private Sicherheitsdienstleistungsbranche ohne Regulierung international wettbewerbsfähig? (Bild: Keystone)

Die Personenfreizügigkeit mit den EU- und Efta-Staaten löste die Migrationspolitik der vorangehenden Jahrzehnte ab, welche auf niedrig qualifizierte Arbeitskräfte ausgerichtet war und faktisch strukturerhaltend wirkte. Indem die Schweiz den Inländervorrang und die Kontingente ab 2004 sukzessive aufhob, richtete sie die Zuwanderung an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes aus. Gleichzeitig verlangte der Grundsatz der Nichtdiskriminierung[1] die Abschaffung der vorgängigen Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen für EU-/Efta-Bürger. Damit verbunden war für Teile der Politik die Angst vor einem Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Daher war die Personenfreizügigkeit politisch nur zum Preis einer stärkeren Regulierung des Arbeitsmarktes in Form der flankierenden Massnahmen zu haben.

Auch die schrittweise Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten zwischen 2006 und 2017 ging jeweils mit einer weiteren Verschärfung der flankierenden Massnahmen einher. Es stellt sich daher die Frage, wie hoch dieser Preis mit Blick auf die zusätzliche Bürokratie und – noch wichtiger – mit Blick auf die Eingriffe in den flexiblen Arbeitsmarkt ausfällt (zu Bürokratiekosten siehe Kasten).

Flankierende Massnahmen – ein Bündel von Bestimmungen


Das politisch formulierte Ziel der flankierenden Massnahmen ist es, die «missbräuchliche Unterschreitung» der orts-, berufs- oder branchenüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen durch ausländische Arbeitskräfte zu verhindern – zum Schutz der Arbeitnehmenden, aber auch zur Gewährleistung des fairen Wettbewerbs.[2] Damit Letzteres in beide Richtungen sichergestellt ist, müssen die flankierenden Massnahmen von ausländischen und inländischen Arbeitgebern gleichermassen eingehalten werden. Das Massnahmenbündel umfasst im Wesentlichen die folgenden Punkte:

  • Erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (GAV): Wird in einer Branche mit einem gültigen, aber noch nicht allgemeinverbindlichen GAV wiederholt missbräuchlich gegen übliche Löhne oder Arbeitszeiten verstossen, so kann dieser GAV «erleichtert» auf die ganze Branche ausgedehnt werden. Mit anderen Worten: Die Allgemeinverbindlicherklärung kann bereits dann erfolgen, wenn die am GAV beteiligten Arbeitgeber die Hälfte aller Erwerbstätigen einer Branche beschäftigen. Für eine ordentliche Allgemeinverbindlicherklärung müssen zusätzlich je 50 Prozent der Arbeitnehmenden und -gebenden bereits dem GAV unterstellt sein.[3]
  • Normalarbeitsverträge: In Branchen ohne GAV können tripartite Kommissionen (Sozialpartner und staatliche Vertretung) bei Feststellung einer wiederholten und missbräuchlichen Unterbietung der üblichen Löhne vom Bund oder den Kantonen den Erlass eines befristeten Normalarbeitsvertrages mit zwingenden Mindestlöhnen beantragen.
  • Entsendung von Mitarbeitern: Ausländische Arbeitgeber, d. h. mit Sitz im Ausland oder ausländische Unternehmen mit einer Niederlassung in der Schweiz, sind bei der Entsendung von Arbeitnehmenden im Rahmen einer grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung zur Einhaltung der «minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen» verpflichtet.


Die Einhaltung der formulierten Massnahmen wird von den Sozialpartnern sowie dem Bund und den Kantonen kontrolliert.

Allgemeinverbindliche GAV – ein Instrument im Aufwind


Dass die flankierenden Massnahmen keineswegs ein zahnloser Papiertiger sind, zeigt sich an der klar steigenden Zahl von allgemeinverbindlichen GAV (siehe Abbildung 1). Auf Bundesebene nahm deren Zahl seit 2004 von 22 auf 41 im Jahr 2016 zu. In den Kantonen gelten heute 33 allgemeinverbindliche GAV; im Jahr 2004, als die flankierenden Massnahmen in Kraft traten, waren es noch 19 gewesen. In diesem Zeitraum stieg die Zahl der einem allgemeinverbindlichen GAV unterstellten Arbeitnehmenden um fast die Hälfte auf über 720’000 Personen; die Zahl der Arbeitgeber nahm um fast ein Drittel auf 78’800 zu. Unter Berücksichtigung des generellen Zuwachses an Arbeitnehmenden relativiert sich die Zahl etwas: Waren 2004 rund 16 Prozent der Arbeitnehmenden einem allgemeinverbindlichen GAV unterstellt, betrug der Anteil zwölf Jahre später ein Fünftel.

Abb. 1: Anzahl allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsverträge (1990–2016)




Anmerkung: Der Stichtag ist jeweils der 1. Juli. Dadurch können kurzfristig grössere Schwankungen entstehen.

Seco (2014) / Die Volkswirtschaft

Auch wenn andere Entwicklungen wie die Ausdehnung der gewerkschaftlichen Aktivitäten im Dienstleistungssektor, die Abschaffung des Beamtenstatus (ab 2000) oder die grosszügige Handhabung des bundesrätlichen Spielraums bei den ordentlichen Allgemeinverbindlicherklärungen eine Rolle für die Zunahme der allgemeinverbindlichen GAV spielten, ist der Zusammenhang mit den flankierenden Massnahmen eindeutig.[4] So greift in Branchen ohne allgemeinverbindliche GAV bei «missbräuchlichen Lohnunterbietungen» die erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung.

Zudem hat die Öffnung des Arbeitsmarktes in binnenorientierten Branchen zu einer Interessenverschiebung der Arbeitgeberorganisationen hin zum Schutz ihrer Produkt- und Dienstleistungsmärkte vor günstigerer ausländischer Konkurrenz geführt. Zwischen den Sozialpartnern – beispielsweise im Baugewerbe oder in der privaten Sicherheitsdienstleistungsbranche – herrscht immer öfter ein Konsens hinsichtlich der Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV.[5] Dem Anspruch dieser Wirtschaftskreise nach «Flankierung» – sprich Protektion –  des eigenen Marktes steht die ökonomische Forderung nach internationaler Wettbewerbsfähigkeit dank Freizügigkeit und Flexibilität des Arbeitsmarktes diametral entgegen.

Der Arbeitsmarkt – ein liberaler Trumpf unter Druck


Der liberale Arbeitsmarkt wird oft als Trumpf für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz und für die im internationalen Vergleich tiefen Arbeitslosenzahlen ins Feld geführt. Die wachsende Zahl an allgemeinverbindlichen GAV – im Besonderen die darin enthaltenen Mindestlöhne, die in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen haben[6] – stellen aber ein nicht unerhebliches Risiko für den flexiblen Arbeitsmarkt dar.

Zwar nimmt das System von GAV-Mindestlöhnen im Vergleich zu einem schweizweiten Mindestlohn besser Rücksicht auf orts-, berufs- und branchenübliche Löhne. Dennoch können auch regionale oder branchenweise Mindestlöhne kontraproduktiv sein. Bei Berufs- oder Quereinsteigern, die im Branchenvergleich typischerweise tiefe Löhne aufweisen[7], können Mindestlöhne den Einstieg in den Arbeitsmarkt oder den Berufswechsel erschweren. Dies kann beispielsweise zu einem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit führen, wie er in den Jahren 2005 bis 2016 im Vergleich zur Periode 1991 bis 2004 stattgefunden hat.

Abb. 2: Offene Stellen und Arbeitslose (Beveridge-Kurve; 1995–2016)




Anmerkung: Eine Verschiebung vom Nullpunkt nach rechts oben ist Ausdruck eines weniger effizienten Arbeitsmarktes: Die beiden Seiten des Arbeitsmarktes finden sich schlechter, was sich in der Koexistenz von Erwerbslosen (Definition gemäss ILO) und offenen Stellen bemerkbar macht. Das Niveau der strukturellen Arbeitslosigkeit – also der von der Konjunktur unabhängigen Komponente – steigt.

BFS (2017) / Die Volkswirtschaft

Wie sich die Effizienz des Arbeitsmarktes im Allgemeinen entwickelt hat, illustriert die Gegenüberstellung von Arbeitslosigkeit und offenen Stellen im Zeitverlauf (siehe «Beveridge-Kurve» in Abbildung 2). Der trendmässig synchrone Anstieg von Arbeitslosen und offenen Stellen deutet auf eine Abnahme der Effizienz hin. Die flankierenden Massnahmen und die steigende Abdeckung von allgemeinverbindlichen GAV dürften ihren Teil dazu beitragen, indem in individuellen Verhandlungen getroffene Vereinbarungen kollektiv auf die ganze Branche übertragen werden. Aus ökonomischer Sicht stellen die flankierenden Massnahmen daher einen stetig steigenden Preis für den Erhalt der Personenfreizügigkeit dar.

Die Zahlungsbereitschaft der politischen Akteure dürfte aber noch höher liegen, denn die fragile Mehrheit zur Personenfreizügigkeit scheint zu einem rechten Teil vom Bekenntnis zu den flankierenden Massnahmen abzuhängen. Deshalb wird die Arbeitsmarktregulierung wohl auch künftig dem Credo «Freizügig, aber flankiert» folgen. Den Trumpf des flexiblen Arbeitsmarktes sollte man aber nicht leichtfertig aus der Hand geben, weshalb für die flankierenden Massnahmen gelten sollte: «so wenig wie möglich – so viel wie nötig».

  1. Art. 2 des bilateralen Freizügigkeitsabkommens vom 12. Juni 1999 (SR 0.142.112.681). []
  2. Kaufmann (2010). []
  3. Art. 2 Abs. 3 und 3bis Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (SR 221.215.311). []
  4. Seco (2014). []
  5. Oesch (2012). []
  6. Seco (2014). []
  7. Bundesrat (2015). []

Bibliographie

Zitiervorschlag: Tobias Schlegel (2017). Freizügig und flankiert: Konträre Ansprüche an den Arbeitsmarkt. Die Volkswirtschaft, 23. März.

Bürokratiekosten von Personenfreizügigkeit und flankierenden Massnahmen

Wie gross die bürokratische Entlastung durch die Personenfreizügigkeit ist, zeigt eine Gegenüberstellung der Regulierungskosten für die Zulassung von EU- und Efta-Bürgern und für Bürger aus Drittstaaten. Während die Kosten der Bewilligungen für EU-25- und Efta-Zuwanderer im Jahr 2011 auf rund 6,8 Millionen Franken geschätzt wurden, kosteten die Bewilligungen für die rund neun Mal tiefere Zahl an Erwerbstätigen aus Drittstaaten 13,2 Millionen Franken.a

Nicht berücksichtigt sind allerdings die neu entstandenen Bürokratiekosten aus Mitwirkungspflichten im Rahmen von Kontrollen der flankierenden Massnahmen. Hier fällt auf, dass die mit der Umsetzung betrauten Organe ihre Kontrolltätigkeit grosszügig – und je nach Kanton sehr unterschiedlich – auslegen. So wurden im Jahr 2015 gesamtschweizerisch fast 70 Prozent mehr Kontrollen durchgeführt als von der Entsendeverordnung vorgesehen.b

aBundesrat (2013).

bArt. 16e der Entsendeverordnung (SR 823.201) und Seco (2016).