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Ein Plädoyer für den Freihandel

In der Ökonomie herrscht Einigkeit: Der Freihandel erhöht die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Trotzdem ertönt in der Politik regelmässig der Ruf nach Protektionismus – da die lange Sicht vergessen geht.
Handel erschliesst den Exportunternehmen neue Märkte. (Bild: 123RF)

Würde man eine Volksinitiative zur Einführung einer Planwirtschaft lancieren, wären ihre Erfolgsaussichten wohl sehr begrenzt. Denn Demokratie und Marktwirtschaft sind in der Schweiz zwei unbestrittene Ordnungsprinzipien. Diesen Grundpfeilern des modernen Staates verdanken wir materiellen und immateriellen Wohlstand.

Anders sieht es derzeit offenbar beim Freihandel aus. Der internationale Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr wird für eine Vielzahl gesellschaftlicher Probleme verantwortlich gemacht. Dies ist aus ökonomischer Sicht erstaunlich, nicht zuletzt, da «Freihandel» nicht als Handel frei von jeglichen Regeln zu verstehen ist, sondern internationalen Spielregeln unterliegt.

Bei der Einschätzung des Stellenwertes des freien grenzüberschreitenden Handels schliessen sich die Reihen der Ökonomen weitgehend. Laut einer Expertenumfrage der von der University of Chicago getragenen Initiative on Global Markets (IGM) sehen 80 Prozent der befragten Ökonomen den Nutzen von Freihandelsabkommen für die USA bestätigt.[1] Umgekehrt sagt eine klare Mehrheit, die Behinderung des Handels durch Zölle oder Importkontingente sei wohlfahrtsmindernd.

Auch über die Wirkungskanäle von Freihandel herrscht weitgehende Einigkeit: Handel erhöht den Wettbewerb und spornt die Unternehmen zu Effizienz und Innovation in der Herstellung von Waren und Dienstleistungen an.[2] Die Nutzung von Skaleneffekten, der Druck zu Spezialisierung sowie Technologietransfer stärken die Konkurrenzfähigkeit.

Handel stärkt nicht nur den Exportsektor, sondern die Leistungsfähigkeit der gesamten Wirtschaft. Konkret: Er erschliesst nicht nur den Exportunternehmen neue Absatzmärkte, sondern erweitert deren Beschaffungsmärkte («Sourcing») und stärkt die Wettbewerbsfähigkeit von Firmen – unabhängig davon, ob sich diese auf Weltmärkte ausrichten oder im Heimmarkt als Zulieferer von Exportunternehmen positioniert sind. Konsumenten profitieren von einem Zugang zu einem diversifizierteren Angebot an Konsumgütern. Unternehmen haben eine grössere Auswahl bei der Beschaffung von Kapitalgütern wie Werkzeugmaschinen, Zwischenprodukten wie IT-Chips und Vorleistungen wie Forschung und Entwicklung (F&E).[3]

Auf dieser Grundlage haben sich seit den Neunzigerjahren die Wertschöpfungsketten verstärkt global aufgespalten. Innerhalb «verketteter» Netzwerke verlagern international tätige Firmen über Outsourcing oder Offshoring (mindestens) Teile ihrer Beschaffung, F&E-Aktivitäten und/oder Produktionsprozesse in Länder mit entsprechenden Standortvorteilen. Analysen zeigen, dass die Integration in globale Wertschöpfungsketten die Schweizer Produktion deutlich wettbewerbsfähiger gemacht hat.[4] Abgesehen von tieferen Vorleistungspreisen und einer Steigerung der Produktivität mildern globale Wertschöpfungsketten auch die Wirkung von Wechselkursschwankungen auf die Exportpreise und reduzieren damit das Währungsrisiko der Unternehmen.

Heute steht in der Fachdebatte die digitale Form der Internationalisierung im Vordergrund (siehe Abbildung). Seit knapp zwei Jahrzehnten werden vermehrt Daten, Informationen, Ideen und Know-how grenzüberschreitend ausgetauscht.[5] Dieser digitalen Globalisierung wird ein grosses Potenzial als Treiber eines langfristigen Wirtschaftswachstums zugeschrieben.[6] Dank elektronischer Plattformen können kleine und mittlere Unternehmen (KMU) gewissermassen «von zu Hause aus» ohne kostspielige physische Präsenz in Auslandmärkten globale Nischenmärkte erschliessen. Zu dieser Form des grenzüberschreitenden Austausches gehören auch virtuelle Studien- und Lehrgänge, welche weltweit unzähligen Studenten Zugang zu guten Ausbildungen ermöglichen.

Wie Menschen 2016 von der Globalisierung betroffen sind




 

Facebook, AliResearch, US Department of Commerce, OEDC, World Bank, MGI, Berechnung: OECD (2016) / Die Volkswirtschaft

Protektionismus: Doppelbödige Begründung


Angesichts dieser Vorteile des Freihandels mag es verwundern, dass Protektionismus in zyklischer Regelmässigkeit die politische Oberhand gewinnt. Stand im Altertum mit der Erschliessung der Seidenstrasse oder der Gewürzroute noch bewusst die Förderung des Handels im Vordergrund, änderte sich dies mit der irreführenden merkantilistischen Logik des 16. Jahrhunderts, die besagt: Wer Wohlstand sucht, muss im Inland die wirtschaftliche Produktion maximieren, davon möglichst viel im Ausland verkaufen und gleichzeitig die Importe von Konkurrenzprodukten hemmen. Das Arsenal protektionistischer Massnahmen besteht dabei aus Zöllen, Einfuhrverboten, Importquoten, Subventionen, staatlichen Monopole und nicht tarifären Importhemmnissen in mannigfaltiger Form.

Der deutsche Ökonom Friedrich List konterte sodann die bahnbrechende Erkenntnis David Ricardos zur Bedeutung der komparativen Vorteile im 19. Jahrhundert mit einer weiteren irreführenden Gedankenführung: Freihandel kann vorteilhaft sein – aber nur, wenn die eigene Wirtschaft schon auf genügend starkem Fundament steht. Auch dieses sogenannte Infant-Industry-Argument tönt verlockend: Aufkommende, «junge» und «vielversprechende» Wirtschaftszweige müssen so lange mittels Zöllen (sogenannter Erziehungszoll) geschützt werden, bis sie gegenüber der ausländischen Konkurrenz genügend wettbewerbsfähig sind.

In den 1980er-Jahren wurde mit einer vergleichbaren Gedankenführung der Grundstein für die «strategische» Handelspolitik gelegt. Dieser ökonomische Ansatz geht von einer unvollständigen Konkurrenz und Skaleneffekten in der Produktion aus. Entsprechend können staatliche Eingriffe als wohlfahrtssteigernd modelliert werden. Der konzeptionelle Leitgedanke zu «America First» wurde also lange vor dem letzten US-Wahlkampf erfunden.

Abgesehen davon, dass der Staat gar nicht in der Lage ist, die «vielversprechenden» Wirtschaftszweige ex ante zu identifizieren, sind diese theoretischen Erklärungsansätze zugunsten einer lenkenden Handelspolitik auch zum Scheitern verurteilt, weil sie grundlegende Erkenntnisse der politischen Ökonomie ausklammern: Staatliche Interventionen stehen unter dem Einfluss von Interessengruppen, die direkt vom Importschutz profitieren. Deren Partikularinteressen sorgen dafür, dass die Vorteile von Handelsbeschränkungen ihrer kleinen und politisch gut organisierten Gruppe zugutekommen – während die gesamtwirtschaftlichen Kosten auf die diffuse Masse der Kunden abgewälzt werden. Deshalb ist es blauäugig, zu denken, eine lenkende Handelspolitik könne zum Wohle der Gesamtwirtschaft ausgestaltet werden.

Warum meldet sich der Protektionismus trotz dieser langen Erfahrung in modernen Demokratien dennoch immer wieder zurück? Zunächst: Es gehört zum Wesen des Strukturwandels, dass der Verlust von Arbeitsplätzen offensichtlich wahrnehmbar ist, während die längerfristigen positiven Auswirkungen mit vielen Jahren Verzögerung eintreten können. Dies drängt die Politik in der kurzen und mittleren Frist oft dazu, protektionistischen Schutzforderungen nachzugeben. Andere Erklärungen verweisen auf den Umstand, dass die negativen Folgen des technologiegetriebenen Strukturwandels fälschlicherweise dem Freihandel zugeschrieben werden.[7] Während Handel nicht die Ursache des Strukturwandels ist, kann er ihn jedoch unter Umständen beschleunigen. Der US-Ökonom Bryan Caplan liefert einen weiteren interessanten Erklärungsansatz[8]: Erstens haben Wähler eine inhärente Neigung, Freihandel als Wettrennen zu verstehen, bei dem das eigene Land ins Hintertreffen getrieben wird («anti-foreign bias»). Zweitens unterschätzen Staatsbürger die Bedeutung marktwirtschaftlicher Prinzipien als Treiber des Wohlstandes («anti-market bias»). Und drittens setzen sie Wohlstand mit der Anzahl (und dem Erhalt) von Arbeitsplätzen gleich und nicht mit der Entwicklung von Wertschöpfung («make-work bias»). In dieser Logik ist es gut nachvollziehbar, dass merkantilistische Versprechen auch im 21. Jahrhundert attraktiv bleiben.

Zentrale nationale Handlungsfelder


Technischer Fortschritt und internationale Öffnung einer Volkswirtschaft sind keine hinreichenden, jedoch notwendige Bedingungen für Wohlstand. Dies gilt umso mehr, wenn eine Volkswirtschaft, wie die Schweiz, über einen kleinen Binnenmarkt verfügt. Damit die Gewinne des Handels bei der Bevölkerung ankommen, ist allerdings mehr nötig. So bieten die im Vergleich zu 1989 nahezu stagnierenden realen Haushalteinkommen in den USA etwa nicht wegen, sondern trotz des internationalen Güteraustausches berechtigten Anlass zur Sorge.

Folgerichtig fordern Ökonomen die nationale Politik auf, die wesentlichen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die zur Wohlstandsförderung notwendig sind, in den Fokus zu rücken – statt das Augenmerk auf die Abschottung zu lenken.[9] Aus der Literatur lassen sich wichtige Handlungsfelder ableiten, welche Regierungen auch in Zukunft beachten müssen. Dazu gehören einerseits ein qualitativ hochstehendes sowie arbeitsmarktnahes System der Aus- und Weiterbildung sowie flexible Arbeitsmärkte zur raschen Eingliederung von Stellensuchenden. Anderseits zählt ein kohärentes Steuer- und Sozialsystem dazu, welches nicht nur eine gezielte Umverteilung zugunsten armer Haushalte erlaubt, sondern auch negative Anreize bei der Arbeitsmarktpartizipation vermeidet.

Zu guter Letzt ist ein Plädoyer für die Internationalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft unvollständig, wenn man die weltwirtschaftliche Integration auf den Beitrag zum Wirtschaftswachstum reduziert. Die Erschliessung ausländischer Märkte geht mit dem Austausch mit anderen Kulturen einher. Freihandel erweitert den Erkenntnisgewinn aus dem Umgang mit ausländischen Partnern. Die Sicherung von Freihandel – über das multilaterale Handelssystem der Welthandelsorganisation (WTO), über bilaterale Handelsabkommen oder über die internationale Entwicklungszusammenarbeit – ist letztlich auch deshalb von Bedeutung, weil sie grundlegenden Prinzipien von Demokratie und Marktwirtschaft folgt: dem Verzicht auf Willkür und dem Gebot der Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit.

  1. IGM Forum (2014); siehe auch Mankiw (2015) und IMF, World Bank Group, WTO (2017). []
  2. OECD (2010); eine gute Literaturübersicht geben Ahn et al. (2016). []
  3. OECD (2011). []
  4. Nathani et al. (2014). []
  5. Baldwin, R. (2016). []
  6. Manyika et al. (2016). []
  7. IMF, World Bank Group, WTO (2017). []
  8. Caplan, B. (2007). []
  9. OECD (2015). []

Literaturverzeichnis

  • Ahn, J., Dabla-Norris, E., Duval, R., Hu, B., Njie L. (2016). Reassessing the Productivity Gains form Trade Liberalization, IMF Working Paper WP/16/77.
  • Baldwin, R. (2016). The Great Convergence – Information Technology and the New Globalization, The Belknap Press of Harvard University.
  • Caplan, B. (2007). The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies. Policy Analysis No. 594, Cato Institute.
  • IGM Forum (2014). Fast-Track Authority, 11. November.
  • IMF, World Bank Group, WTO (2017). Making Trade an Engine of Growth for All: The Case for Trade and for Policies to Facilitate Adjustment.
  • Mankiw, G. (2015). Economists Actually Agree on This: The Wisdom of Free Trade, New York Times, 25. April 25.
  • Manyika, J., Lund, S., Bughin, J., Woetzel, J., Stamenov, K., Dhingra, D. (2016). Digital Gloablization: The New Area of Global Flows, McKinsey Global Institute, Washington.
  • Nathani, C., Hellmüller, P., Peter, M., Bertschmann D., Iten R. (2014). Die volkswirtschaftliche Bedeutung der globalen Wertschöpfungsketten für die Schweiz – Analysen auf Basis einer neuen Datengrundlage, Strukturberichterstattung Nr. 53/1, Seco.
  • OECD (2010). Seizing the Benefits of Trade for Employment and Growth, G-20 Summit Meeting Seoul, 11. bis 12. November.
  • OECD (2011). Globalization, Comparative Advantages and the Changing Dynamics of Trade.
  • OECD (2015). Economic Policy Reforms 2015: Going for Growth.

Bibliographie

  • Ahn, J., Dabla-Norris, E., Duval, R., Hu, B., Njie L. (2016). Reassessing the Productivity Gains form Trade Liberalization, IMF Working Paper WP/16/77.
  • Baldwin, R. (2016). The Great Convergence – Information Technology and the New Globalization, The Belknap Press of Harvard University.
  • Caplan, B. (2007). The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies. Policy Analysis No. 594, Cato Institute.
  • IGM Forum (2014). Fast-Track Authority, 11. November.
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  • Manyika, J., Lund, S., Bughin, J., Woetzel, J., Stamenov, K., Dhingra, D. (2016). Digital Gloablization: The New Area of Global Flows, McKinsey Global Institute, Washington.
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  • OECD (2010). Seizing the Benefits of Trade for Employment and Growth, G-20 Summit Meeting Seoul, 11. bis 12. November.
  • OECD (2011). Globalization, Comparative Advantages and the Changing Dynamics of Trade.
  • OECD (2015). Economic Policy Reforms 2015: Going for Growth.

Zitiervorschlag: Eric Scheidegger (2017). Ein Plädoyer für den Freihandel. Die Volkswirtschaft, 23. Mai.