Suche

Abo

Angepasste Arbeitsmethoden können psychosozialen Risiken vorbeugen

Stress ist das wichtigste, aber nicht das einzige psychosoziale Risiko am Arbeitsplatz. Viele KMU und Kleinstunternehmen verfügen noch nicht über die nötigen Kenntnisse, um dieser Verantwortung nachzukommen. Eine Studie soll die Wirkung einer entsprechenden Präventionskampagne der Arbeitsinspektorate messen.
Joggen über Mittag? Eine flexible Arbeitsorganisation stärkt die Ressourcen von Mitarbeitern. (Bild: Keystone)

Im Bereich Gesundheit am Arbeitsplatz ist in den letzten Jahrzehnten der Begriff «psychosoziale Risiken» immer wichtiger geworden. Er umfasst einerseits Risikofaktoren, die insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeitsorganisation, den zwischenmenschlichen Beziehungen sowie den Stressmechanismen – den sogenannten pathogenen Prozessen – stehen. Ausserdem beschreibt er auch deren Folgen für die Gesundheit: beispielsweise Erschöpfung, Burn-out, Depression oder kardiovaskuläre Erkrankungen.

Die Berücksichtigung dieser Phänomene wirft Fragen auf, die nicht so einfach zu beantworten sind. Denn würden Sie als Geschäftsführer eines Unternehmens akzeptieren, dass das Arbeitsinspektorat Sie über Ihren Umgang mit der Belegschaft und Ihre Arbeitsorganisation befragt? Und wie würden Sie umgekehrt als Arbeitsinspektor einen Arbeitgeber auf Themen wie Mobbing oder Stress ansprechen? Angesichts der zunehmenden Komplexität und des gestiegenen Drucks in der heutigen Berufswelt stellt sich auch für die Gewerkschaften die Frage, wie sie sich für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzen können.

Die meisten westlichen Regierungen haben zur Prävention psychosozialer Risiken Massnahmen ergriffen. Dabei kommt den Arbeitsinspektoraten eine entscheidende Rolle zu. In einer kürzlich durchgeführten systematischen Analyse der bestehenden Literatur zu diesem Thema[1] konnten wir zeigen, dass die Arbeitsinspektorate in einem günstigen Kontext eine positive Präventionswirkung erzielen können. Dazu braucht es insbesondere eine gut entwickelte Sozialpartnerschaft sowie geschulte Inspektoren, die über genügend Zeit und Ressourcen verfügen – beispielsweise um Betriebe zu zweit zu kontrollieren und über längere Zeit begleiten zu können. Zudem muss auch die Mitwirkung der Mitarbeitenden möglich sein. Und schliesslich sollten neben den Kontrollbesuchen auch andere Informations- und Kommunikationskanäle genutzt werden.

Innovative Studie in der Schweiz


Die Wirkung öffentlicher Massnahmen auf die Prävention psychosozialer Risiken wurde bisher erst selten untersucht. Die bestehenden Studien stammen grösstenteils aus den nordischen Ländern. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) leitet nun in Zusammenarbeit mit den kantonalen Arbeitsinspektoraten und der Universität Lausanne eine Studie, um diese Lücke zu schliessen. Das Ziel der Studie ist es, die Wirkung des für den Zeitraum 2014 bis 2018 festgelegten Vollzugsschwerpunkts zu messen. Dabei wurden die Inspektoren bezüglich der psychosozialen Aspekte der Gesundheit am Arbeitsplatz geschult und aufgefordert, dieses Thema in ihre Kontrollbesuche zu integrieren. Zusätzlich wurde Informationsmaterial für die Unternehmen erstellt.

Um die Wirkung dieses Vollzugsschwerpunkts zu messen, haben die Verantwortlichen der Studie ein Panel mit 400 Unternehmen aus allen drei Sprachregionen zusammengestellt. In jedem dieser Betriebe wurde die Person, die sich am besten mit der Gesundheit am Arbeitsplatz auskennt – meist der Geschäftsführer oder eine höhere Führungskraft –, im Abstand von einem Jahr zweimal mittels eines Fragenkatalogs telefonisch oder schriftlich befragt. Nach der ersten Befragung war für die Hälfte der beteiligten Unternehmen ein Besuch vom kantonalen Arbeitsinspektorat vorgesehen. Die andere Hälfte setzt sich aus vergleichbaren Betrieben zusammen, bei denen kein Besuch erfolgte. Sie bilden die Kontrollgruppe. Jetzt – ein Jahr nach der ersten Befragung – läuft gerade die zweite Befragung. Die Ergebnisse werden im Herbst vorliegen.

Bisherige Erkenntnisse


Aus den bisherigen Befragungen geht hervor, dass die Arbeitgeber den durch Zeitdruck und die Arbeitsbelastung entstehenden Stress als wichtigstes psychosoziales Risiko für ihre Mitarbeitenden sehen. Angriffe auf die persönliche Integrität, wie Mobbing, Belästigung, Diskriminierung, Gewalt usw., stufen sie als Randerscheinungen ein. Weitere Risikofaktoren, wie starre oder unregelmässige Arbeitszeiten, schwierige Kundschaft, Kommunikationsprobleme und Arbeitsunsicherheit, schätzen sie als mittelwichtig ein.

Aus der Datenanalyse wird deutlich, dass es zwei Präventionsarten gibt: Die eine Art fokussiert auf Managementmassnahmen, wie formelle Prozesse für den Umgang mit Konflikten, Mobbing, Belästigung oder Gewalt, sowie Schulungen und Informationen für die Mitarbeitenden. Solche Vorkehrungen existieren vor allem in grossen Betrieben. Die zweite Präventionsart umfasst Massnahmen zur allgemeinen Verbesserung der Arbeitsbedingungen, beispielsweise hinsichtlich der Arbeitszeiten, der Arbeitsorganisation, des Personalbestands oder der Hilfsmittel. Dieser Ansatz ist in fast allen Unternehmen, auch in KMU und Kleinstunternehmen, anzutreffen. Auf diese Weise lassen sich die Ressourcen der Mitarbeitenden sehr direkt optimieren. Allerdings nehmen Arbeitgeber solche Massnahmen nicht als Prävention wahr, sondern eher als Instrument zur Stärkung ihrer eigenen Produktionsmittel.

Die Studie zeigt, dass es nicht ausreicht, sich eines Risikos bewusst zu sein, damit Verbesserungen umgesetzt werden. Die Präventionspraxis hängt vor allem von der Grösse des Unternehmens und seinem Tätigkeitsbereich ab (siehe Punkt 1 in der Abbildung), aber auch vom allgemeinen Niveau des Gesundheits- und Sicherheitsmanagements (2) und von den Mitwirkungsmöglichkeiten des Personals (3). Das Empfinden, wonach die Mitarbeitenden einem Risiko ausgesetzt sind, scheint dabei nebensächlich zu sein: Einzig der Zusammenhang zwischen Angriffen auf die persönliche Integrität und spezifischen Massnahmen ist statistisch signifikant (4).

Unternehmen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten weisen bei den Angriffen auf die persönliche Integrität sowie bei den anderen Risikofaktoren überdurchschnittliche Werte auf. Entsprechende formelle Prozesse und Schulungen bestehen in diesen Unternehmen eher selten (5). Die Arbeitgeber, die die Existenz psychosozialer Risiken ansprechen, sind oftmals von krankheitsbedingten Absenzen, einer grossen Mitarbeiterfluktuation (hoher Turnover) und Rekrutierungsschwierigkeiten betroffen (6).

Faktoren, die mit der Prävention psychosozialer Risiken verbunden sind




Weissbrodt und Giauque / Die Volkswirtschaft

Mögliche Ansätze für die öffentliche Hand


Die bisherigen Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, die Unternehmen – insbesondere die kleinsten – bei der Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen im Bereich Gesundheit am Arbeitsplatz und bei der Identifikation von Massnahmen, die ihren Bedürfnissen entsprechen, zu unterstützen. Die Unternehmen sollten für das Thema psychosoziale Risiken generell sensibilisiert werden und ein umfassendes Verständnis dafür entwickeln, das sich nicht auf Mobbing, Belästigung, Gewalt oder zwischenmenschliche Konflikte beschränkt. Die öffentliche Hand könnte sich ihrerseits verstärkt für konkrete organisatorische Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen.

Aus der wissenschaftlichen Literatur geht hervor, dass der direkte Kontakt zwischen den Arbeitsinspektoren und den Arbeitgebern ein zentraler Faktor für die Prävention ist. Angesichts der begrenzten öffentlichen Mittel bietet sich allerdings eine Zusammenarbeit mit verschiedenen Drittstellen an, beispielsweise mit den Sozialpartnern oder mit Fachpersonen für Gesundheit am Arbeitsplatz. Zudem ist unter Forschenden die Frage umstritten, ob die psychosozialen Risiken in den Rechtsgrundlagen expliziter erwähnt werden sollten. Einige sind der Ansicht, dass den Arbeitgebern dadurch die Ausrichtung ihrer Massnahmen leichterfallen würde und die Arbeitsinspektoren ihre Forderungen damit besser begründen könnten. Die gegenteilige Meinung, dass die generelle Präventionspflicht der Arbeitgeber ausreiche, ist in der analysierten Literatur weniger häufig vertreten.

Stress, Burn-out und Gewalt sind symptomatische Phänomene für die aktuellen Umwälzungen in der Arbeitswelt. Der gestiegene Druck und die immer grössere Flexibilisierung der Arbeitsformen tragen zur Zunahme der Disparitäten bei, deren gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Folgen die OECD seit Jahren mit Sorge beobachtet.[2] Das ist denn auch der Grund, weshalb sich nicht nur Fachpersonen für Gesundheit am Arbeitsplatz mit der Prävention psychosozialer Risiken auseinandersetzen sollten, sondern – und vielleicht vor allem – auch die Wirtschaftspolitik. Nur durch einen regelmässigen Dialog zwischen diesen beiden öffentlichen Handlungsfeldern liesse sich in dieser Hinsicht wirklich etwas bewirken.

 

 

  1. Siehe Weissbrodt R. und Giauque D. (2016). Labour Inspections and the Prevention of Psychosocial Risks at Work: A Realist Synthesis. In: Safety Science. []
  2. Siehe dazu «Income Inequality and Poverty» auf der Website der OECD. []

Zitiervorschlag: Rafaël Weissbrodt, David Giauque, (2017). Angepasste Arbeitsmethoden können psychosozialen Risiken vorbeugen. Die Volkswirtschaft, 22. Mai.