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Brexit als Herausforderung für die Schweizer Handelspolitik

Der Brexit betrifft auch die Schweiz. Denn die bilateralen Abkommen mit der EU werden ihre Gültigkeit gegenüber dem Vereinigten Königreich verlieren – einem wichtigen Handelspartner der Schweiz. Solange allerdings Unklarheit über die britische Handelspolitik herrscht, sind Nachfolgeregelungen kaum absehbar.
Wie sieht die britische Handelspolitik in Zukunft aus? Premierministerin Theresa May hat noch keine klare Antwort geliefert. (Bild: Keystone)

Nachdem sich die britischen Stimmbürger im Juni 2016 für den Brexit ausgesprochen hatten, löste die Regierung den Austrittsprozess im vergangenen März (nach Ermächtigung durch das Parlament) offiziell aus. Als Folge wird das Vereinigte Königreich (UK) nach einer Verhandlungsfrist von zwei Jahren Ende März 2019 aus der EU austreten. Diese Frist kann im Einverständnis mit allen EU-Mitgliedsstaaten verlängert werden.

Die Zeit für einen geordneten Austritt des UK aus der EU ist knapp: Die Beziehungen mit den Mitgliedsstaaten sind eng, und die wirtschaftliche Integration über den EU-Binnenmarkt ist umfassend. Die zahlreichen Herausforderungen werden vorliegend am Beispiel des Güterhandels thematisiert. In diesem Bereich ist auch die Integration der Schweiz mit der EU und damit mit dem UK weit fortgeschritten.

Im Abstimmungskampf argumentierten viele Brexit-Befürworter, das UK gehöre wegen seiner geografischen Lage gar nicht richtig zur EU. Die Handelsausrichtung sei zu diversifiziert, als dass man sich einzig Richtung EU orientieren könne. Es stimmt zwar: Beim Güterhandel wies das UK vergangenes Jahr die stärkere Diversifizierung seines Aussenhandels als andere Mitgliedsstaaten auf. Es erzielte etwa die Hälfte des Handelsvolumens mit Staaten ausserhalb der EU (siehe Abbildung 1). In Italien (42%) Deutschland (38%) und Frankreich (35%) war dieser Anteil deutlich geringer.

Abb. 1: EU-Binnenmarkt-Anteil des Güterhandelsvolumens nach EU-Staaten (2016)




Quelle: Eurostat DS-018995, Berechnungen Wegmüller / Die Volkswirtschaft

Gleichwohl ist der Güterhandel des UK stark auf die EU ausgerichtet: Die britischen Warenimporte und -exporte im Wert von 466 Milliarden Euro im Jahr 2016 konnten innerhalb der EU reibungslos zirkulieren. Zölle oder vergleichbare Abgaben werden keine erhoben, und es bestehen keine mengenmässigen Beschränkungen. Auch für den Grenzübertritt dieser Waren braucht es keine zollamtliche Behandlung. Weil Produktevorschriften in der EU harmonisiert sind, müssen im UK produzierte Güter derzeit keine zusätzlichen Regeln erfüllen, damit sie in der EU verkauft werden können. Entsprechend müssen britische Produzenten für ihre Exporte in die EU keine speziellen Produktelinien herstellen und zusätzlichen Zertifizierungen beantragen.

Als EU-Mitglied profitiert das UK nicht nur vom Zugang zu einem der grössten Märkte der Welt, sondern auch von den vertraglich geregelten Handelsbeziehungen der EU mit Drittstaaten. Zu Letzteren gehören die Zollunion mit der Türkei, der gemeinsame Wirtschaftsraum mit den EWR/Efta-Staaten, die zahlreichen Freihandelsabkommen – und nicht zuletzt die bilateralen Beziehungen zur Schweiz. Insgesamt fallen zwei Drittel des britischen Handelsvolumens auf die EU-Länder sowie auf Staaten mit präferenziellem Marktzugang (siehe Abbildung 2). Addiert man den Güterhandel mit Staaten, die derzeit mit der EU in Verhandlung über ein Freihandelsabkommen stehen, sind sogar über vier Fünftel des britischen Handelsvolumens betroffen.

Abb. 2: Gesamtvolumen des britischen Güterhandels nach Partnern (2016)




Mit einem Handelsvolumen im Jahr 2016 von 5 Prozent ist die Schweiz ein wichtiger Handelspartner der Briten. Zum Vergleich: Das Volumen mit China betrug 7 Prozent, mit Kanada 2 Prozent und mit Indien 1 Prozent. Mit den Nachbarn Irland und Frankreich betrug das Volumen 4 respektive 6 Prozent. Das vergleichsweise grosse Volumen der Schweiz ist allerdings zu relativieren, denn die Schweiz und das UK sind wichtige Goldhandelsplätze. Entsprechend ist der Goldhandel zwischen diesen beiden Partnern gross. Sein Anteil am Gesamtgüterhandel betrug im Jahr 2016 beinahe 60 Prozent. Wird vom Goldhandel abgesehen, so waren Chemie- und Pharmaprodukte (47%), Präzisionsinstrumente, Uhren und Bijouterie (22%) sowie Maschinen, Apparate, Elektronik und Fahrzeuge (19%) die zentralen Handelsgüter.

Britische Position noch vage


Für die bestehenden Handelsbeziehungen müssen nun Nachfolgeregelungen gefunden werden. Dies gilt nicht nur für die Handelsbeziehungen zwischen dem UK und der EU, sondern auch für die Beziehungen zu allen Freihandelspartnern der EU. Um Einbussen beim Zugang zum Binnenmarkt der EU wettzumachen, sind die Briten gezwungen, den Marktzugang zu Staaten wie beispielsweise den USA, China, Indien oder Australien zu verbessern. Die zukünftige Ausrichtung der britischen Wirtschaftspolitik ist allerdings noch unklar. Die Unterhauswahlen von Anfang Juni haben keine Klarheit geschaffen. Im Gegenteil: Premierministerin Theresa May hat die absolute Mehrheit der Sitze verloren, und sie ist auf die Unterstützung einer nordirischen Kleinpartei angewiesen.

Zwar hat May wiederholt betont: «Brexit means Brexit.» Was darunter genau zu verstehen ist – ausser der Bestätigung des Austrittswillens –, bleibt jedoch weitgehend unbeantwortet (siehe Kasten 1). Einzig betreffend Personenfreizügigkeit und Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU hat die britische Regierung eine Leitlinie festgelegt: Beides soll nicht mehr gelten – weshalb ein Austritt aus dem Binnenmarkt notwendig wird. Stattdessen soll dereinst ein umfassendes Freihandelsabkommen die Handelsbeziehungen mit der EU regeln.

Für gewisse Bereiche – namentlich genannt wurden die Automobil- und die Finanzindustrie – wird die Fortführung der Harmonisierung von Produktevorschriften nicht ausgeschlossen.[1] Das zeigt, dass die britische Regierung eine Fortführung der Harmonisierung mit der EU nicht komplett ablehnt. Je umfassender die Harmonisierung ausfällt, desto kleiner ist jedoch der Handlungsspielraum für eine Orientierung zu anderen Handelspartnern. Angesichts der derzeitigen Güterhandelsausrichtung wird die EU wohl für zahlreiche Branchen der wichtigste Handelspartner bleiben. In den zwei bedeutendsten Exportbranchen des UK – Maschinen und Beförderungsmittel sowie Chemieerzeugnisse – macht das Handelsvolumen mit der EU 52 Prozent beziehungsweise 64 Prozent aus. Die Möglichkeiten für neue Regelungen mit anderen Staaten dürften entsprechend begrenzt sein.

Gleichzeitig zeigt die explizite Erwähnung der Automobil- und der Finanzbranche, dass die britische Regierung bei ihrer Neuorientierung Partikularinteressen einzelner Wirtschaftszweige mit zu berücksichtigen hat. Auch hier gilt: Je stärker solchen Interessen Gehör geschenkt wird, desto schwieriger wird es, neue weitreichende Freihandelsabkommen abzuschliessen. Dies trifft insbesondere auf die zukünftige Agrarpolitik zu. Beispielsweise könnte ein weitreichender Schutz der heimischen Fleischproduktion umfassende Freihandelsabkommen mit Partnern wie den USA oder Australien erschweren.

Darüber hinaus hängen die Möglichkeiten für eine neue Positionierung des UK in der Weltwirtschaft auch von den Positionen der einzelnen Handelspartner ab. So dürften die USA – trotz der viel zitierten «special relationship» – ein grösseres Interesse an einem umfassenden Freihandelsabkommen mit der EU als an einem entsprechenden Vertrag mit dem UK haben.

Brexit betrifft auch die Schweiz


Das UK war 2016 hinter Deutschland, den USA, Frankreich und Italien der weltweit fünftwichtigste Absatzmarkt für Schweizer Güter (ohne Gold). Die derzeitigen Handelsbeziehungen sind dabei massgeblich über die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU geregelt und basieren in zentralen Bereichen auf Rechtsharmonisierung. Damit hat die Schweiz einen weit umfangreicheren Marktzugang, als mit einem herkömmlichen Freihandelsabkommen möglich wäre.[2] Insbesondere harmonisierte Produktevorschriften für Industrie- und Agrargüter oder die gegenseitige Anerkennung von Zertifizierungsverfahren erleichtern den Güterhandel zwischen der Schweiz und der EU.

Weil die Schweizer Industrie ein Interesse an gleichen Produkteanforderungen hat – damit für den einheimischen Markt und den wichtigsten Exportmarkt nicht unterschiedliche Produktelinien produziert werden müssen –, waren die Schweizer Produktevorschriften auch schon vor den bilateralen Abkommen weitgehend mit der EU harmonisiert. Ob der Marktzugang hier über den Brexit hinaus aufrechterhalten werden kann, hängt nun davon ab, inwiefern das UK weiterhin seine Produktevorschriften mit der EU harmonisiert; beziehungsweise, ob die Schweiz und das UK bereit sind, Produkte, die von den einheimischen Vorschriften abweichende Standards erfüllen, in ihren Märkten zuzulassen.

Doch die Situation ist noch komplexer: Werden im UK zertifizierte Zwischenprodukte in der Schweiz weiterverarbeitet und das Endprodukt in die EU exportiert, so ist wiederum die Anerkennung der Gleichwertigkeit des Zwischenprodukts durch die EU notwendig. Wird die Gleichwertigkeit der in den bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU abgedeckten Produkte zukünftig nicht von allen Partnern anerkannt, würde dies zu Problemen für Schweizer Produzenten führen, die britische Zwischenprodukte verarbeiten. Sie müssten auf andere Zulieferer aus der EU ausweichen oder die Zwischenprodukte zusätzlich zertifizieren lassen (siehe Kasten 2).

«Mind the Gap»-Strategie


Um zeitgerecht bilaterale Lösungen mit dem UK zu finden, ist es für die Schweiz deshalb wichtig, stets über die wirtschaftspolitische Positionierung der Briten und den Verlauf der Verhandlungen mit der EU im Bilde zu sein. Dies gilt nicht nur für die erwähnten Produktevorschriften, sondern beispielsweise auch für Kontrollen und Formalitäten im Verkehr mit Industriegütern oder tierischen Produkten, die mit der Schaffung des gemeinsamen Zollsicherheitsraums beziehungsweise des gemeinsamen Veterinärraums zwischen der Schweiz und der EU vereinfacht werden konnten.

Die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU gehen aber über den Güterhandel hinaus. Sie regeln beispielsweise die Rechte von 34’000 im UK wohnhaften Schweizer Staatsangehörigen oder sind die Grundlage für die rund 150 täglichen Flugbewegungen zwischen der Schweiz und dem UK. Im Auftrag des Bundesrates haben deshalb die zuständigen Experten Kontakt mit ihren britischen Ansprechpartnern aufgenommen und erste exploratorische Gespräche geführt. Dabei sind sich die Schweiz und das UK einig, dass die gegenseitigen Rechte und Pflichten über den Zeitpunkt des Brexit hinaus sicherzustellen und Rechtslücken im bilateralen Verhältnis zu vermeiden sind. Diese Strategie wird in der Schweiz mit «Mind the Gap» umschrieben.

Im Handelsbereich konnte ein vertiefter Dialog etabliert werden. Dieser ermöglicht in einem ersten Schritt eine Diskussion zu Themen, die unabhängig von zukünftigen Regelungen zwischen dem UK und der EU angegangen werden können, sowie einen stetigen Informationsfluss über den aktuellen Verlauf der Verhandlungen mit der EU. Darauf aufbauend, können in einem zweiten Schritt gemeinsame Lösungen für alle übrigen handelspolitischen Bereiche, die auf Rechtsharmonisierung mit der EU basieren, ausgearbeitet werden. Diese Vorgehensweise soll es erlauben, möglichst umfassende Lösungen für die bestehenden Beziehungen zu finden und gleichzeitig Flexibilität zu wahren, damit neue Themen beispielsweise im Finanzbereich oder alternative Ansätze gegebenenfalls aufgenommen werden können.

Wahrscheinlich wird die zur Verfügung stehende Zeit zur Aushandlung einer kompletten Abkopplung des UK von der EU nicht ausreichen. Deshalb werden bereits heute Übergangsregelungen im gegenseitigen Verhältnis angedacht. In diesem Fall würde der Status quo für eine bestimmte Zeit aufrechterhalten, was die Ausgangslage für die Schweiz im kurzfristigen Vertragsverhältnis vereinfachen könnte. Gleichzeitig würden damit aber die Möglichkeiten beschränkt, zum jetzigen Zeitpunkt langfristige Nachfolgeregelungen auszuarbeiten.

Die Schweiz will nicht nur Rechtssicherheit im Hinblick auf den dereinstigen Brexit schaffen, sondern darüber hinaus die Grundlagen für bestmögliche und mindestens mit der EU gleichwertige langfristige Regelungen legen. So ist nicht auszuschliessen, dass für die künftigen Beziehungen zum UK je nach Zeithorizont unterschiedliche Lösungen vereinbart werden. Ziel bleibt kurz- wie langfristig, den heutigen Marktzugang für Schweizer Unternehmen zum fünftwichtigsten Exportmarkt mindestens so umfassend wie heute zu halten.

  1. Vgl. Grundsatzrede von T. May vom 17. Januar 2017 im Lancaster House oder das «Brexit White Paper» der Regierung vom 2. Februar 2017. []
  2. Vgl. Bericht des Bundesrats vom 5. Juni 2015 in Erfüllung des Postulats Keller-Sutter. []

Zitiervorschlag: Claudio Wegmüller (2017). Brexit als Herausforderung für die Schweizer Handelspolitik. Die Volkswirtschaft, 25. Juli.

Kasten 1: «Brexit means Breakfast»

Der Vorsitzende der Konservativen in der Walisischen Nationalversammlung, Andrew R. T. Davies, hat an einer Parteiversammlung unbeabsichtigt auf sich aufmerksam gemacht. Als er auf die Bekundung der Premierministerin Theresa May «Brexit means Brexit» verweisen wollte, sagte er irrtümlicherweise «Brexit means Breakfast». Der Versprecher wurde von verschiedenen Medien aufgenommen, um zu zeigen, wie unklar die derzeitige Situation ist. So gehen die Meinungen in Grossbritannien in Bezug auf die Frage, was ein Frühstück beinhaltet, stark auseinander: Je nach Hotel bedeutet «Breakfast», dass man einen Kaffee und ein Brötchen serviert bekommt oder eine grosse Auswahl an Spezialitäten in Form eines Buffets zur Verfügung steht. Analog kann der Brexit in Bezug auf die zukünftigen Beziehungen mit der EU für den Handelsbereich unterschiedlich vollzogen werden, von einem einfachen Freihandelsabkommen bis hin zum Verbleib in der Zollunion.

Kasten 2: Gegenseitige Anerkennung entscheidend: Beispiel Biozertifikate

Die Schweiz und die EU anerkennen aufgrund des Agrarabkommens ihre Biozertifikate gegenseitig. Als die EU und die USA im Sommer 2012 ebenfalls ihre Biozertifikate anerkannten, schuf dies Probleme für Schweizer Bioexporteure, die Rohstoffe aus der EU für Endprodukte mit Zielmarkt USA verwendet haben. Der Grund: Der Biorohstoff – beispielsweise Haferflocken aus der EU für ein Schweizer Müsli – benötigte für den späteren Export des Endprodukts in die USA ein Zertifikat des U. S. National Organic Program (NOP).

Mit dem Äquivalenzabkommen zwischen der EU und den USA liessen sich jedoch immer weniger EU-Produzenten NOP-zertifizieren, da dieses Zertifikat für ihre Exporte in die USA nicht mehr nötig war. Entsprechend schränkte sich die Auswahl an Lieferanten von zertifizierten Biorohstoffen für Schweizer Produzenten ein. Erleichterung brachte schliesslich ein Äquivalenzabkommen zwischen der Schweiz und den USA im Sommer 2015. Das Beispiel zeigt: Für einen reibungslosen Handel von Produkten und insbesondere von Zwischenprodukten zwischen mehreren Partnern ist nicht nur die Gleichwertigkeit der Produktevorschriften eine Voraussetzung, sondern auch die gegenseitige Anerkennung dieser Gleichwertigkeit durch alle Partner.