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Der Bund muss seine Berggebietsförderung überprüfen

Frankenstärke, Zweitwohnungsinitiative und sinkende Wasserzinse machen den Berggebieten zu schaffen. Hat der Bund eine Strategie, um die Berggebiete zu unterstützen? Ein Postulat verlangt vom Bundesrat eine Antwort.

Der Bund muss seine Berggebietsförderung überprüfen

Der Strukturwandel setzt dem Bündner Dorf Bivio am Julierpass zu. 2016 fusionierte es mit weiteren Dörfern zur Gemeinde Surses. (Bild: Keystone)

Die Berggebiete prägen das Bild der Schweiz und spielen im kollektiven Selbstverständnis eine wichtige Rolle. Sie sind nicht nur Lebensraum rund eines Viertels der Schweizer Bevölkerung, sondern haben darüber hinaus wichtige Funktionen als Identifikations-, Wirtschafts- und Erholungsraum mit besonders hohen Natur- und Landschaftswerten. Damit sind sie wichtig für das Land und spielen für die nachhaltige Entwicklung eine zentrale Rolle.

Wirtschaftliche Herausforderungen nehmen zu


Die wirtschaftlichen Herausforderungen der Berggebiete haben sich in jüngster Zeit akzentuiert. Durch die topografischen Hindernisse und die geringe Dichte an Bevölkerung und Unternehmen haben die Berggebiete im Vergleich mit den grossen Zentren des Mittellandes grundsätzlich schwierigere Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung. Während die Bevölkerung schweizweit wächst, nimmt sie in einigen Regionen des Alpenraums und der Voralpen ab (siehe Abbildung 1). Der Anteil Personen über 64 Jahren wächst im Berggebiet stärker als in der übrigen Schweiz (siehe Abbildung 2). Hinzu kommen jetzt zusätzliche externe Schocks, welche die wirtschaftliche Basis des Berggebiets bedrohen. Die Restriktionen der Zweitwohnungsgesetzgebung und die sinkende Nachfrage nach Ferienimmobilien reduzieren die Umsätze im Baugewerbe und erschweren Um- und Neubauten in der Hotellerie. Der starke Franken verschlechtert die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz gegenüber den ausländischen Feriendestinationen. Die alpinen Tourismusregionen verzeichnen teilweise stark rückläufige Logiernächte (siehe Abbildung 3). Gleichzeitig bedrohen sinkende Strompreise die Einnahmen der Gebirgskantone und -gemeinden aus dem Wasserzins. Trotzdem: Im Vergleich zu den ländlichen Regionen vieler OECD-Mitgliedsstaaten fallen die entwicklungspolitischen Herausforderungen der Schweizer Bergregionen gering aus.

In der Frühjahrssession 2017 hat der Nationalrat ein Postulat[1] des Bündner SVP-Nationalrats Heinz Brand überwiesen. Der Bundesrat wird damit beauftragt, einen Bericht über die mittel- und langfristige wirtschaftliche Entwicklung des Alpenbogens aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorzulegen. Gemäss dem Postulatstext soll der Bericht konkrete inhaltliche und zeitliche Massnahmen aufzeigen, wie der Bund trotz der dramatisch veränderten Rahmenbedingungen die wirtschaftliche Existenz und Entwicklung des Alpenbogens weiterhin sicherstellen und der absehbaren Abwanderung wirksam begegnen will. Der Bundesrat muss das Postulat innert zweier Jahre beantworten.

Abb. 1: Jährliches Bevölkerungswachstum in Prozent (2010–2015)


Quelle: BFS, regiosuisse / Die Volkswirtschaft

Anmerkung: Die Karten bilden die sogenannten MS-Regionen ab. Dabei handelt es sich um Kleinarbeitsmarktgebiete mit funktionaler Orientierung auf regionale Zentren.


Abb. 2: Veränderung des Anteils Einwohner über 64 Jahren in Prozentpunkten (2010–2015)




Quelle: BFS, regiosuisse / Die Volkswirtschaft

Abb. 3: Veränderung der Logiernächte (Total) in Prozent (2010–2016)




Quelle: BFS, regiosuisse / Die Volkswirtschaft

In funktionalen Räumen denken


Tatsache ist, dass der Alpenbogen nicht homogen ist und unterschiedliche Raumtypen darin vorkommen (siehe Kasten). Multifunktionale Talböden mit grösseren Agglomerationen wie Chur oder Siders stehen nicht vor den gleichen Chancen und Herausforderungen wie alpine Tourismuszentren oder periphere Räume. Um die wirtschaftliche Entwicklung des Alpenraums zu stimulieren, braucht es räumlich differenzierte Strategien, welche die Chancen und Herausforderungen der unterschiedlichen Raumtypen berücksichtigen und die positiven Wechselwirkungen zu nutzen versuchen. Stadt und Land sind eng funktional verflochten und wechselseitig abhängig voneinander. Das Denken und Handeln in Stadt-Land-übergreifenden funktionalen Räumen ist zentral für eine nachhaltige Raumentwicklung und zielführender als starre Definitionen. Zu diesem Credo bekennt sich die Schweiz sowohl in ihrem Raumkonzept als auch in den UNO-Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals).

Breite Palette an Instrumenten


Der Bund setzt bereits eine Vielzahl von Sektoralpolitiken ein, die ihre Wirkung grösstenteils in den Berggebieten und ländlichen Räumen der Schweiz entfalten: die Neue Regionalpolitik (NRP), die Tourismuspolitik, die Pärkepolitik zur Förderung von Nationalpärken und regionalen Naturpärken, die Landwirtschaftspolitik, den Finanzausgleich (NFA) und viele mehr (siehe Abbildung 4). Da ein Grossteil der Agglomerationen im ländlichen Raum und einige sogar im Berggebiet liegen, ist auch die Agglomerationspolitik für die ländlichen Räume und Berggebiete ein relevantes Förderinstrument.

Den übergeordneten strategischen Orientierungsrahmen bilden das Raumkonzept Schweiz und die Politik für die ländlichen Räume und Berggebiete (P-LRB), die der Bundesrat gemeinsam mit der weiterentwickelten Agglomerationspolitik im Februar 2015 verabschiedet hat. Diese beiden Querschnittspolitiken tragen zu einer kohärenten Raumentwicklung in der Schweiz bei. Die P-LRB ist im Wesentlichen eine strategische Klammer, um die Ziele und Beiträge des Bundes für das Berggebiet und die ländlichen Räume zu bündeln und zu koordinieren. Sie fördert spezifische Massnahmen – vorwiegend im Gouvernanzbereich –, um die Wirkung und die Synergienutzung zwischen den Sektoralpolitiken zu verbessern.

Anreize für private Initiativen


Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) betrachtet das Postulat Brand als Chance, die Politik für die ländlichen Räume und Berggebiete in wirtschaftlichen Belangen zu schärfen und zu konkretisieren. Dazu soll die Zusammenarbeit mit den interessierten Verbänden vertieft werden. So bieten sich etwa im Tourismus Ansatzpunkte, um das Berggebiet verstärkt zu unterstützen. Hier gilt es, den Strukturwandel weiterhin fokussiert zu begleiten und zu unterstützen. Der Bund überarbeitet dazu aktuell seine Tourismusstrategie. Inhaltlich stehen vier Themen im Vordergrund: Digitalisierung, Unternehmertum, Rahmenbedingungen und Attraktivität des Angebots. Die Strategie soll im Herbst vom Bundesrat verabschiedet werden.

Die Chancen der Digitalisierung besser zu nutzen, wird verstärkt auch im Fokus der NRP stehen. Hierzu lässt das Seco zurzeit eine Studie erarbeiten, welche den Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Zielgebiete der NRP auf den Grund geht. Einen interessanten Fundus an Ideen für die weiter gehende Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des Schweizer Berggebiets bietet auch die Studie «Strukturwandel im Schweizer Berggebiet» des wirtschaftsnahen Thinktanks Avenir Suisse.[2]

Letztendlich muss die Bewältigung des Strukturwandels aber primär von den privaten Akteuren im Berggebiet getragen werden. Der Bund kann subsidiär zu Kantonen und Gemeinden gezielt und marktorientiert Anreize für Eigeninitiative und Innovation privater Akteure setzen, die den Strukturwandel ermöglichen. Und er kann dazu beitragen, Härten abzufedern. Dabei soll aber keinesfalls der Strukturwandel behindert werden.

Abb. 4: Beiträge des Bundes an die kohärente Raumentwicklung, in Franken




Anmerkung: Die Grafik zeigt die Beiträge für alle Räume, nicht nur das Berggebiet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

 

Quelle: Seco, ARE / Die Volkswirtschaft

 

 

 

  1. Postulat 15.3228: «Bericht über die Entwicklungsperspektiven des Alpenbogens aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen». Weiterführende Informationen auf Parlament.ch. []
  2. Siehe auch den Beitrag von Daniel Müller-Jentsch in diesem Fokus. []

Zitiervorschlag: Annette Spoerri (2017). Der Bund muss seine Berggebietsförderung überprüfen. Die Volkswirtschaft, 25. September.

Was umfasst das «Berggebiet»?

Eine einheitliche geografische oder statistische Definition, was in der Schweiz unter «Berggebiet» oder «Alpenbogen» verstanden wird, existiert nicht. Zwar offiziell, aber veraltet ist die Definition der Ende 2007 ausgelaufenen Investitionshilfegesetzgebung (IHG) des Bundes. Sie unterscheidet im Alpenraum und im Jura total 54 Regionen. Diese Regionen basieren einerseits auf sozioökonomischen Kriterien und auf funktionalräumlichen Verflechtungen, anderseits aber auch auf einem politischen Aushandlungsprozess.

Verschiedene Sektoralpolitiken des Bundes kennen räumliche Differenzierungen ihrer Zielgebiete, die in der einen oder anderen Form eine Annäherung an das Berggebiet vornehmen. Der nationale Finanzausgleich definiert die geografisch-topografischen Sonderlasten etwa über drei Kriterien: Höhenlage, Steilheit und feingliedrige Besiedlung. Der landwirtschaftliche Produktionskataster erfasst erschwerende Produktionsverhältnisse und Lebensbedingungen, die bei der Anwendung des Landwirtschaftsgesetzes angemessen zu berücksichtigen sind.