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Dem Berggebiet geht es besser, als die Unkenrufe es verkünden. Das zeigt die Vielzahl nachhaltiger Initiativen. Mehr Kooperationen zwischen dem Berggebiet und seinen lokalen Zentren wären dennoch erstrebenswert.
Raimund Rodewald, Dr. phil. biol., Dr. h.c. iur., Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL-FP), Bern

Standpunkt

Statistiken sagen nicht alles. Im Sommer 2017 hatte ich die Gelegenheit zu mehreren Begegnungen mit engagierten Menschen in verschiedenen Berggebieten. Ich war beeindruckt von der guten Stimmung der Hoteliers sowie der Initiative der Einheimischen und Zweitwohnungsbesitzer, die sich mit Ideen und Taten einbringen. Zum Beispiel im Valle Malvaglia im Bleniotal: Seit über zehn Jahren findet dort eine Renaissance der Berglandwirtschaft statt. Die Landwirte interessieren sich wieder für die Bewirtschaftung der verbuschten Weiden auf den Kulturterrassen, für die Sanierung von Trockenmauern und historischen Gebäuden. Auch junge, auswärtige Bauern lassen sich in den Valli nieder und setzen innovative Ideen um. In Mergoscia, im Verzascatal, wird beispielsweise neben Reben auch der heimische Pro-Specie-Rara-Mais angepflanzt. Etwas nördlicher in Corippo entsteht ein dezentrales Dorfhotel, und in Boschetto, im Maggiatal, produziert man auf den wiederbewirtschafteten Wiesen und Weiden Formaggini und Salametti.

Nachhaltige Initiativen als Aushängeschild

Wenn also Avenir Suisse von geringer Wettbewerbsfähigkeit der Berggebiete im Vergleich zu den Topkantonen spricht, dann tönt dies beunruhigend. Gemessen an der Wettbewerbsfähigkeit schneidet der Kanton Tessin nur halb so gut ab wie der Kanton Zug, obwohl die Siedlungsstruktur beider Kantone mit dünn besiedeltem Berggebiet und hoch zersiedeltem Talgebiet ähnlich ist. Aber: Die Wettbewerbsfähigkeit ist in erster Linie nicht vom ländlichen Berggebiet abhängig, sondern von den Rahmenbedingungen in den urbanisierten Zentren. Während die sogenannte città diffusa – der zersiedelte Talboden – die Nähe zu Italien früher noch als wirtschaftlichen Segen erlebte, empfindet sie diese Nähe heute als Last. Gegenwärtig brilliert das Tessin nicht zuletzt durch die «piattaforma paesaggio» – ein Netzwerk verschiedener Amtsstellen wie Forstämtern und Regionalförderungsstellen. Zusammen mit ausserkantonalen Stiftungen wie der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz fördert sie lokale, nachhaltige Projekte.

Das Tessiner Berggebiet ist der schweizweite Motor einer Berggebietsarbeit, die sich der Pflege der eigenen Kulturlandschaft widmet. Heute glänzt das Berggebiet auch andernorts mit kulturellen Eigeninitiativen, etwa mit dem Origen-Festival im bündnerischen Surses, welches Kunst und Kultur in die Landschaft einwebt. Doch für solche Entwicklungen gibt es leider keine Statistik.

Mehr Kooperation zwischen den Institutionen

In Umfragen steht die Berglandschaft bei der Bevölkerung hoch im Kurs. Dies sollten die Berggebietspolitiker, die gegen den Landschaftsschutz wettern, nicht vergessen! Gewiss ist dies nur eine Seite der Realität. Ebenso real ist die wirtschaftliche Baisse, zu der auch die Zentren des Skitourismus beitragen: Sie haben hohe Investitionen in Infrastrukturen und Zweitwohnungen getätigt, die angesichts des Klimawandels und sich wandelnder gesellschaftlicher Bedürfnisse vielerorts nicht mehr rentieren.

Die städtischen Zentren innerhalb der Berggebiete sollten die Nähe zu den innovativen ländlichen Regionen besser nutzen. Die Wirtschaftsunternehmen in Visp, Thun, Chur oder Locarno könnten beispielsweise ihre Arbeitsplätze in die nahe gelegenen und in der Regel auch mit schnellen Internetverbindungen ausgerüsteten ländlichen Dörfer auslagern und so die leer stehenden Zweitwohnungen und Ortskerne wieder beleben. Solche «New Alpiners» – also Ankömmlinge aus nahen und fernen Städten – beleben ihrerseits die lokalen Läden und die Gastronomie. Ihre Einbindung in die lokale Politik wäre deshalb sinnvoll. Der Schlüssel zum Erfolg liegt überhaupt in der institutionellen Zusammenarbeit. Die erfolgreiche Arbeit für Kultur und Landschaft liefert hierfür ein Vorbild. In der Gastronomie und Hotellerie mangelt es jedoch an solchen Kooperationen.

Das Berggebiet wie das Nicht-Berggebiet sind wirtschaftlich und gesellschaftlich untrennbar verbunden. Herr und Frau Schweizer sind schon längst Bergler – nur die Politik merkt das nicht.

Zitiervorschlag: Raimund Rodewald (2017). Standpunkt: Wir sind alle Bergler!. Die Volkswirtschaft, 25. September.