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Die untere Mittelschicht ist zusehends armutsgefährdet – mit gesellschaftlichen und politischen Folgen. Wirksame Gegenmittel sind Bildung für alle, höhere Kinderzulagen und bessere Vereinbarkeit für die Familien sowie ein Ausbau der Krankenkassenprämienverbilligung für die tiefen und mittleren Einkommen.
Martin Flügel, Dr. phil., Leiter Politik und Public Affairs, Caritas Schweiz, Luzern

Standpunkt

Die Mittelschicht ist heterogen. Die Situation der unteren Mitte ist beispielsweise stärker mit jener von einkommensschwachen Haushalten vergleichbar als mit jener der oberen Mitte, wie die 2016 veröffentlichte Studie «Wie geht es der Mitte?» des Bundesamtes für Statistik (BFS) zeigt. Einen Einfluss auf den Lebensstandard haben ausserdem die Lebenssituation und der Wohnort. Einzelne wirtschaftspolitische Massnahmen kommen deshalb nie der ganzen Mittelschicht zugute.

Allgemein kann man deshalb lediglich sagen: Steuersenkungen für die gesamte Mittelschicht sind fehlgeleitet, da diese zu enormen Einnahmenausfällen der öffentlichen Hand führen würden. Dadurch gefährdete man den qualitativ hochstehenden Service public etwa im Verkehr, in der Bildung und im Gesundheitswesen, welcher für die Mittelschicht von grösster Bedeutung ist.

Wenn nicht die gesamte Mittelschicht unterstützt, sondern eine möglichst breite Mittelschicht erhalten werden soll, sind hingegen gezielte Massnahmen möglich. Diese sollen in erster Linie ein Abrutschen der unteren Mittelschicht in die Zone der einkommensschwachen Haushalte verhindern. An vorderster Stelle steht dabei der Zugang zur Bildung und Weiterbildung. Angesichts der enormen strukturellen Veränderungen der Wirtschaft darf die Verantwortung dafür nicht einfach den Individuen aufgebürdet werden.

Erstens muss das Schlagwort des lebenslangen Lernens mit einem Weiterbildungsobligatorium in eine verbindliche und unterstützende Form gegossen werden. Heute ist Weiterbildung je nach Einkommen ungleich verteilt und nimmt mit steigendem Alter massiv ab. Nur ein Weiterbildungsobligatorium kann – analog zur Einführung des Schulobligatoriums in der ersten industriellen Revolution – die rasante Entwicklung der digitalen Revolution auffangen.

Zweitens braucht es Lösungen für die Organisation und die Finanzierung von Nachholbildung. In der Schweiz haben gut 600’000 Menschen im erwerbsfähigen Alter keinen Berufsabschluss, von ihnen sind mehr als 400’000 erwerbstätig. Viele gehören zur Mittelschicht, sind aber hochgradig abstiegsgefährdet. Nur mit einem Berufsabschluss in ihrem heutigen Tätigkeitsgebiet kann ihr Lebensstandard gesichert werden.

Höhere Kinderzulagen


Haushalte mit Kindern sind in der unteren Mitte und bei den einkommensschwachen Haushalten klar übervertreten. Um Familien besser in der Mittelschicht zu verankern, muss bei den Einkommen und bei den Ausgaben angesetzt werden. Auf der Einkommensseite sind Familienzulagen ein bewährtes Instrument. Sie entfalten aufgrund der progressiven Einkommenssteuern ihre grösste Wirkung bei unteren und mittleren Einkommen. Höhere Familienzulagen sind also ein Beitrag zur Absicherung der Mittelschichtfamilien.

Eine zweite Massnahme zielt auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Verbesserungen im Angebot der familienergänzenden Betreuung erzielen auf der Einkommens- und auf der Ausgabenseite Wirkung. Rein quantitativ ist das Angebot an familienergänzender Betreuung heute vielerorts genügend. Aber es ist kaum auf flexible Arbeitszeiten (Wochenende, Abend, Nacht) ausgerichtet, und die Kosten für die Eltern sind hoch. Ein besseres und günstigeres Angebot trägt gezielt zu zusätzlicher Erwerbstätigkeit und höherem Einkommen von Mittelschichtfamilien bei. Nachdem der Bund in der Sommersession 2017 dafür 100 Millionen Franken bewilligt hat, müssen nun die Kantone entsprechende Angebote bereitstellen.

Krankenkassenprämienverbilligung


Ein wichtiger Kostenfaktor für Haushalte der unteren Mittelschicht sind die Krankenkassenprämien. Da diese in den letzten zehn Jahren viel stärker gestiegen sind als die Löhne, schrumpfte das frei verfügbare Einkommen der unteren Mittelschicht. Eine massgebliche Rolle spielte dabei die Politik, welche die Prämienverbilligungen kürzte: Allein zwischen 2010 und 2014 sind in den Kantonen im Rahmen von Sparpaketen ungefähr 170 Millionen Franken an Prämienverbilligungen eingespart und damit weitgehend der unteren Mittelschicht aufgebürdet worden.

Hier können die Kantone unmittelbar Gegensteuer geben. Darüber hinaus muss der Bund mit klaren Vorgabe an die Kantone sicherstellen, dass nicht weitere Haushalte der unteren Mitte den Anspruch auf Prämienverbilligung verlieren und dadurch aus der Mittelschicht abrutschen.

Politische Folgen


Die erwähnte BFS-Studie kommt zu einem weiteren Schluss: In der unteren Mitte und bei den einkommensschwachen Haushalten ist ein signifikant tieferes Vertrauen in das Rechtssystem und die Politik vorhanden. Die politischen Ausprägungen dieses Misstrauens wurden in den letzten Jahren in vielen Ländern Europas sichtbar und haben sich auch in verschiedenen Abstimmungsergebnissen in der Schweiz manifestiert.

Aus diesem Grund ist die Stabilisierung der unteren Mittelschicht auch gesellschaftlich und politisch von grosser Bedeutung. Nur mit raschen und mutigen Schritten in den oben genannten Bereichen wird es gelingen, diese Entwicklung im Interesse einer offenen, solidarischen und prosperierenden Schweiz einzudämmen.

Zitiervorschlag: Martin Flügel (2017). Standpunkt: Abrutschen der unteren Mitte verhindern. Die Volkswirtschaft, 23. November.