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Keine Polarisierung in der Schweizer Berufsstruktur

Hoch qualifizierte Berufe haben in der Schweiz seit den Siebzigerjahren an Bedeutung gewonnen, während viele Tieflohnjobs verschwunden sind. Dies wirkt sich positiv auf die Berufsstruktur aus.
Guter Lohn dank hoher Qualifikation: Technische Experten testen eine Drohne. (Bild: Shutterstock)

Seit der industriellen Revolution sind Beobachter des sozialen Wandels fasziniert von der Frage nach der Entwicklung der Berufsstruktur: Führen technologischer Fortschritt und Strukturwandel zu einer breiten Mittelschicht? Oder höhlen sie diese im Gegenteil aus und führen zu einer Polarisierung der Gesellschaft?

Für die Nachkriegszeit lautet die Antwort nein: Überall in Westeuropa nahm die Beschäftigung in wenig qualifizierten Berufen der Landwirtschaft und der Industrie ab. Zugleich wurden bei den Unternehmensdienstleistungen, in der Gesundheit und der Bildung viele hoch qualifizierte Stellen geschaffen. Das Resultat war ein starkes Wachstum der Mittelklasse (zum Begriff siehe Kasten 1).

Nach der Jahrtausendwende hat sich der Glaube an die stete Aufwertung der Berufsstruktur verflüchtigt. Mit der Digitalisierung der Wirtschaft sind nicht mehr nur Landarbeiter und Maschinenbediener von der Automatisierung betroffen, sondern auch kaufmännische Angestellte und Postbeamte. Als Folge verbreitete sich in der Ökonomie die These, dass der technologische Wandel zur Polarisierung der Berufsstruktur und der Erosion der Mittelklasse führe. Ob sie stimmt, haben wir für die Schweiz mit der Volkszählung und der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake) untersucht (siehe Kasten 2).

Topberufe legen zu


Zwischen 1970 und 2010 ist die Beschäftigung in der Schweiz in jedem Jahrzehnt am stärksten im obersten Quintil gewachsen. Dieses umfasst jene 20 Prozent der Erwerbstätigen, die in den am höchsten bezahlten Berufen arbeiten (siehe Abbildung). Der Beschäftigungszuwachs hat sich dabei von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verstärkt.

Im Gegensatz dazu schrumpfte die Beschäftigung in den am schlechtesten bezahlten Berufen (unterstes Quintil). Der Stellenrückgang am unteren Ende des Arbeitsmarkts war nach der Ölkrise 1973 sowie nach der Rezession Anfang der Neunzigerjahre besonders ausgeprägt. Während des Baubooms der Achtzigerjahre nahm die Beschäftigung im untersten Quintil, und damit in den niedrig entlohnten Berufen, hingegen nochmals zu. Damit sind die Achtzigerjahre das einzige Jahrzehnt, in welchem sich die Beschäftigungsstruktur polarisiert hat.

In den zwei folgenden Jahrzehnten wurden hingegen nirgends so wenige Stellen geschaffen wie im untersten Quintil. Seit 1990 finden wir keinerlei Anzeichen für einen polarisierten Wandel der Berufsstruktur. Im Gegenteil: In den Neunziger- und Nullerjahren wuchs die Beschäftigung am deutlichsten im obersten Quintil und nahm im untersten Quintil am stärksten ab.

Veränderung in der schweizerischen Beschäftigungsstruktur (1970 bis 2010)




Lesebeispiel: Zwischen 1970 und 1980 nahm die Beschäftigung im Quintil 1, welches 1970 jene 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung umfasste, die in den am tiefsten entlohnten Berufen arbeiteten, um 113’000 Stellen ab.

Quelle: Volkszählungen (1970–2010), Strukturerhebung (2010) / Die Volkswirtschaft

Die «neue» Mittelklasse


Die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung zeigt, welche Berufsklassen sich seit Anfang der Neunzigerjahre hinter den wachsenden und schrumpfenden Quintilen verbergen. Die Berufsstruktur wurde in den letzten 25 Jahren dank des starken Wachstums der lohnabhängigen Mittelklasse aufgewertet: Zwischen 1991 und 2016 legte der Beschäftigungsanteil von Managern und Projektmitarbeitern um 8,5 Prozentpunkte zu, jener von soziokulturellen Experten wie Ärzten, Lehrern und Sozialarbeitern stieg um 3,3 Punkte, und der Beschäftigungsanteil von technischen Experten wie Ingenieuren, Informatikern und Technikern erhöhte sich um 2,1 Punkte (siehe Tabelle). Insgesamt ist in den letzten zwei Jahrzehnten der Anteil dieser «neuen» Mittelklasse an der Beschäftigung von 34 auf 48 Prozent gestiegen.

Veränderung der Beschäftigung nach Berufsklassen (zwischen 1991/92 und 2015/16)




Anmerkung: Die Tabelle zeigt die Verteilung der Beschäftigung der 18- bis 65-Jährigen mit einer Wochenarbeitszeit von 20 Stunden oder mehr. Es sind jeweils die Durchschnitte von 1991 und 1992 sowie von 2015 und 2016 aufgeführt. Die Berechnungsbasis ist der detaillierte Berufscode (ISCO 4-Digit).

Zwei Berufsgruppen haben zwischen 1991 und 2016 stark an Gewicht verloren: Der Beschäftigungsanteil von Produktionsarbeitern hat sich um 7 Prozentpunkte verringert, und jener von Bürohilfskräften – dem Backoffice – ging um 8 Prozentpunkte zurück. Bei beiden Gruppen handelt es sich nicht um den Kern der Mittelschicht, sondern um die traditionelle Arbeiterklasse einerseits sowie die wenig gesicherte untere Mittelklasse andererseits.

Nur eine Kategorie der Arbeiterklasse konnte seit 1991 zulegen: Die persönlichen Dienstleistungsangestellten steigerten ihren Beschäftigungsanteil um 2 Prozentpunkte. Dieses Wachstum war jedoch bei Weitem zu schwach, um den Abbau in den wenig qualifizierten Stellen der Landwirtschaft, der Industrie und des Backoffice zu kompensieren. Anders als von der Polarisierungsthese erwartet, wurden in der Schweiz neue Arbeitsplätze vor allem in den hoch qualifizierten Dienstleistungsberufen geschaffen: bei Programmierern, Juristen und Beratern – und nicht bei Haushaltshilfen, Verkäufern oder Barkeepern.

Bildungsexpansion als Treiber


Wie in den meisten westeuropäischen Ländern gibt es somit in der Schweiz – im Gegensatz zu den USA und Grossbritannien – keine Anzeichen für eine Polarisierung der Beschäftigungsstruktur.[1] Der Strukturwandel der letzten Jahrzehnte hat nicht die Mittelklasse erodiert, sondern die Ränge der Industriearbeiter und Bürohilfskräfte ausgedünnt. In der Folge schrumpfte die Arbeiterklasse. Dennoch ist sie keineswegs verschwunden. Auch heute noch finden wir beim Medianlohn Berufe wie Maurer, Mechaniker, städtische Reiniger und Lastwagenfahrer – Berufe, die traditionell den Arbeitern, und nicht der Mittelschicht, zugeordnet werden.

Es ist bemerkenswert, dass diese Aufwertung der Berufsstruktur nicht zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit oder einem Rückgang der Erwerbsquote in der Schweiz geführt hat. So lag die Erwerbsquote zwischen 1991 und 2010 konstant bei 82 Prozent. Die Arbeitslosenquote, wiederum, betrug zwischen 1991 und 2000 durchschnittlich 3,5 Prozent und zwischen 2001 und 2010 3,1 Prozent.

Der Grund für diese Stabilität ist, dass das Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten eine wachsende Anzahl von Schulabgängern mit mittleren und höheren Abschlüssen hervorgebracht hat. Die Bildungsexpansion hat mit dem technologischen Wandel Schritt gehalten und – gemeinsam mit den zunehmend besser ausgebildeten Einwanderern – die wachsende Qualifikationsnachfrage der Unternehmen befriedigt.[2]

Unser Ergebnis der Aufwertung der Berufsstruktur widerlegt somit zwei unerfreuliche Annahmen: Erstens führt die Digitalisierung der Wirtschaft nicht zwingend zu einer Polarisierung der Beschäftigung. Und zweitens ist auch die Annahme falsch, dass postindustrielle Volkswirtschaften nur Vollbeschäftigung erreichen können, wenn sie ihr Lohngefüge nach unten hin öffnen und viele gering bezahlte Dienstleistungsstellen schaffen.

  1. Oesch (2013), Eurofound (2015). []
  2. Murphy and Oesch (2017). []

Literaturverzeichnis

  • Eurofound (2015). Upgrading or Polarisation? Long-term and Global Shifts in the Employment Structure: European Jobs Monitor 2015. Dublin: European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions.
  • Kocka, J. (1995). The Middle Classes in Europe. Journal of Modern History 67(4): 783–806.
  • Murphy, E. und Oesch, D. (2017). Is Employment Polarization Inevitable? Occupational Change in Ireland and Switzerland, 1970–2010. Work, Employment and Society, im Erscheinen.
  • Oesch, D. (2013). Occupational Change in Europe. How Technology and Education Transform the Job Structure. Oxford: Oxford University Press.

Bibliographie

  • Eurofound (2015). Upgrading or Polarisation? Long-term and Global Shifts in the Employment Structure: European Jobs Monitor 2015. Dublin: European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions.
  • Kocka, J. (1995). The Middle Classes in Europe. Journal of Modern History 67(4): 783–806.
  • Murphy, E. und Oesch, D. (2017). Is Employment Polarization Inevitable? Occupational Change in Ireland and Switzerland, 1970–2010. Work, Employment and Society, im Erscheinen.
  • Oesch, D. (2013). Occupational Change in Europe. How Technology and Education Transform the Job Structure. Oxford: Oxford University Press.

Zitiervorschlag: Daniel Oesch, Emily Murphy, (2017). Keine Polarisierung in der Schweizer Berufsstruktur. Die Volkswirtschaft, 23. November.

Kasten 1: Der Begriff der Mittelklasse

Die Mittelklasse wird in der Schweiz umgangssprachlich auch als Mittelschicht oder Mittelstand bezeichnet und oft als mittlere Einkommensgruppe definiert. Das Bundesamt für Statistik (BFS) zählt Personen (und Haushalte) mit Einkommen zwischen 70 Prozent und 150 Prozent des medianen Einkommens zur Mittelklasse. Nicht dazu gehört jenes Fünftel der Bevölkerung, das weniger als 70 Prozent des Medianeinkommens verdient. Dieses Fünftel liegt nahe an der Armutsgrenze und lebt mehrheitlich von Sozialleistungen. Eine Arbeiterklasse gibt es gemäss dieser Definition nicht: Entweder man ist arm oder Teil der Mittelklasse. Ebenso wenig zur Mittelklasse gehört jenes Fünftel, welches mehr als 150 Prozent des medianen Einkommens verdient. Diese Definition führt zu einer aufgeblähten Oberklasse, die auch Gymnasiallehrer, Ingenieure und Apotheker mit einschliesst.

Aus historischer Sicht ergibt diese Definition keinerlei Sinn. Der Begriff der Mittelklasse bezeichnete nie die arithmetische, sondern die hierarchische Mitte der Sozialstruktur. Er wurde im 19. Jahrhundert für eine kleine Gruppe von Erwerbstätigen wie Bankiers und Unternehmer, Ärzte und höhere Beamte verwendet, die ihr Einkommen nicht mit manuellen, sondern intellektuellen Fertigkeiten verdienten.a In der Klassenhierarchie war die Mittelklasse unterhalb der noch kleineren Oberklasse von Adligen und Grossgrundbesitzern angesiedelt, welche von ihrem Kapital lebten. Zugleich befand sie sich oberhalb der grossen Masse von Land- und Fabrikarbeitern, Handwerkern und Dienstboten, die von manueller Arbeit lebten und der Arbeiterklasse zugerechnet wurden. Die Mittelklasse war eine Minderheit und erstreckte sich gerade nicht über die Mitte der Einkommensverteilung.

aKocka (1995)

Kasten 2: Die Studie im Detail

Die Studie von Murphy und Oesch (2017) unterscheidet in einer ersten Analyse die Berufe aller Erwerbstätigen (Lohnabhängige und Selbstständige aller Sektoren) so präzise wie möglich und gruppiert sie, basierend auf ihrem Medianlohn, in fünf gleich grosse und hierarchisch geordnete Berufsklassen, sogenannte Quintile. Zu Beginn jedes Jahrzehnts umfasst jedes Quintil 20 Prozent der Gesamtbeschäftigung. Das unterste Quintil enthält jene 20 Prozent, die in den Berufen mit dem niedrigsten Medianeinkommen arbeiten (z. B. Haushaltshilfen und Reinigungsangestellte), während das oberste Quintil jene 20 Prozent umfasst, die in Berufen mit dem höchsten Medianeinkommen tätig sind (z. B. Anwälte und Ärzte). Die Daten der Volkszählungen von 1970 bis 2010 sowie der Strukturerhebung 2010 dokumentieren, wie sich die Beschäftigung in den einzelnen Quintilen verändert hat.

Eine zweite Analyse untersucht mit der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake), wie sich der Beschäftigungswandel zwischen 1991 und 2016 auf die Klassenstruktur ausgewirkt hat. Das Klassenschema beruht auf zwei Dimensionen: dem Anforderungsniveau eines Berufs und der Arbeitslogik (siehe Tabelle). Drei Klassen bilden das Rückgrat der neuen lohnabhängigen Mittelklasse: soziokulturelle Experten, technische Experten sowie Manager und Projektmitarbeitende. Eine vierte Klasse vereint die beiden Komponenten der alten Mittel- und Oberklasse, Unternehmer und die freien Berufe. Kleingewerbler und Bauern sowie Bürohilfskräfte werden der unteren Mittelklasse zugerechnet. In den zwei letzten (Arbeiter-)Klassen (Produktionsarbeiter und persönliche Dienstleistungsangestellte) finden wir vor allem Arbeiterberufe.