Suche

Abo

«Die Marktmacht der Konsumenten spielt nicht»

Der Schweizer Strommarkt ist heute durch die Teilmarktöffnung verzerrt. Die Elektrizitätspreise steigen seit 2016. Nun sei die Zeit reif für den nächsten Liberalisierungsschritt, sagt Energieministerin Doris Leuthard im Interview. Für sie ist klar: «Das wird kein Spaziergang.»
Bundesrätin Doris Leuthard: «Die Verteilnetzbetreiber sind häufig nicht solidarisch.» (Bild: Marlen von Weissenfluh, Die Volkswirtschaft)

Frau Leuthard, geniessen Sie die letzten Wochen als Bundesrätin?


Geniessen ist zu viel gesagt. Es gibt noch viele Vorlagen, die in den Bundesrat oder ins Parlament müssen. Ich lehne mich nicht zurück.

Sie gelten als äusserst dossierfest. Wie steht es um Ihre Physikkenntnisse?


Ich war in der Schule zwar in Mathematik gut. Aber in der Physik war ich nie top – da können Sie meine Zeugnisse anschauen. Ich habe mich inzwischen jedoch reingekniet, denn gerade beim Strommarkt braucht es ein physikalisches Grundverständnis.

Vor zweieinhalb Jahren hat der Bundesrat die vollständige Öffnung des Strommarktes noch abgeblasen. Warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt?


Im Jahr 2016 waren die Strompreise extrem tief. Damals befürchteten die Schweizer Stromproduzenten, man sei nicht mehr konkurrenzfähig. Deshalb hat das Parlament für die Grosswasserkraft noch Marktstützungen beschlossen. Inzwischen hat sich der Markt erholt – die Preise sind um 40 Prozent gestiegen. Die Zeit ist reif, sich dem Wettbewerb zu stellen.

Wann ist es so weit?


Bis zur tatsächlichen Marktöffnung dauert es vermutlich vier Jahre – die Vorlage muss zuerst durchs Parlament und eventuell durch eine Referendumsabstimmung.

Was bringt die Marktöffnung den Konsumenten?


Viel. Der Markt ist heute durch die Teilmarktöffnung verzerrt. Während die Grosskunden am Markt riesige Mengen frei einkaufen können, haben 99 Prozent aller Kunden – also alle Haushalte und viele KMU – keine Wahlfreiheit. Die Marktmacht der Konsumenten spielt nicht. Der Markt versagt auch, wenn es um Flexibilisierungen geht. Es gibt beispielsweise kaum Anreize für einen Hausbesitzer mit einer Fotovoltaikanlage, den Strom dann einzuspeisen, wenn Bedarf besteht.

Kann man als Konsument im freien Markt auf tiefere Preise hoffen?


Nicht zwingend. Zwar werden Stromproduzenten, die ein teures Portfolio oder eine limitierte Produktauswahl haben, unter Druck kommen. Aber man darf nicht vergessen: Der Energiepreis macht nur etwa 40 Prozent der Stromkosten aus. Der Grossteil des Endkundenpreises sind Netzkosten, Steuern und Abgaben. Bei den Netzkosten, die im internationalen Vergleich hoch sind, wollen wir mit verschärften Regulierungen die Kosten senken. Und die Förderung der Erneuerbaren ist zeitlich begrenzt. Sobald sie ausläuft, entlastet das die Konsumenten.

Es geht nicht um Heimatschutz.

Privatkunden sollen in Zukunft den Lieferanten selber wählen können. Sie schlagen ein Standardprodukt in der Grundversorgung vor, welches aus Schweizer Strom besteht und einen Mindestanteil an erneuerbarer Energie enthält. Warum dieser Heimatschutz?


Es geht nicht um Heimatschutz, sondern darum, die erneuerbaren Energien statt durch weitere Subventionen durch Marktmechanismen zu fördern. Mit dem Standardprodukt erhält der Kunde ein Angebot, das den Zielen der Energiestrategie entspricht – nämlich vor allem Schweizer Strom aus erneuerbaren Energien. Jeder der über 5 Millionen Stromkunden hat aber die freie Wahl, ob er dieses Produkt kauft. Das ist keine Subvention und auch kein Markteingriff.

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Energieversorger von 900 auf 630 gesunken. Führt die Liberalisierung zu einer weiteren Konsolidierung?


Gut möglich. Für ein kleines Land wie die Schweiz sind über 600 Stromversorger immer noch eine stattliche Zahl – trotzdem ist eine Konsolidierung nicht das Ziel. Kleine Anbieter könnten aber vermehrt kooperieren, etwa beim Netzbetrieb oder der gemeinsamen Strombeschaffung. Eine gewisse Grösse braucht es, um professionell am Markt auftreten zu können. Heute gibt es viele kleine Genossenschaften, in denen jemand im Milizsystem nach Feierabend die Stromeinkäufe organisiert.

Als Eigentümer von Elektrizitätswerken sind Kantone und Gemeinden indirekt von der Strommarktöffnung betroffen. Spüren Sie einen Rückhalt?


Viele haben zwei Hüte auf. Einerseits propagieren sie die Marktöffnung, andererseits wollen sie an den Unternehmen mitverdienen. Im vergangenen Jahr konnten Kantone und Gemeinden über eine Milliarde Franken Gewinn einstreichen. Nur wenige Verteilnetzbetreiber produzieren selber Strom. Die meisten kaufen diesen auf dem Markt günstig ein. Dabei sind sie häufig nicht solidarisch: Schweizer Strom hat oft keine Priorität; was zählt, ist der tiefere Preis.

Es ist somit mit Widerständen gegen die Vorlage zu rechnen?


Es wird kein Spaziergang. Aber der Bundesrat macht, was richtig ist für das Land und die über 5 Millionen Konsumenten. Letztlich geht es um die Fragen: Weshalb darf man als Konsument nicht wählen? Warum verdienen die Verteilnetzbetreiber so gut am Netz zulasten der Kunden? Warum kann man Aroser Bergstrom an der Strombörse in Leipzig kaufen – aber nicht im Nachbarkanton? Mehr Wettbewerb schafft hier Abhilfe. Und die Konsumenten erhalten dank der Wahlmöglichkeit mehr Marktmacht.

Zahlreiche Politiker fordern zusätzliche Subventionen für die Wasserkraft. Wie stehen Sie dazu?


Ich bin dagegen. Unsere Wasserkraft ist derzeit wettbewerbsfähig, auch auf dem europäischen Strommarkt – nicht zuletzt, da man die Energie speichern kann. Viele Wasserkraftwerke sind heute abgeschrieben. Die Marktstützung ist deshalb zu Recht befristet.

Bei den Wasserzinsen besteht ein Interessenkonflikt zwischen den Kraftwerkbetreibern und den Bergkantonen. Zeichnet sich hier eine Lösung ab?


Die Wasserzinse werden derzeit im Parlament behandelt. Nach 2024 ist eine neue Lösung geplant: Kantone, die Wasser zur Verfügung stellen, sollen künftig einen fixen Sockelbeitrag erhalten. Dazu ein flexibles Entgelt, dessen Höhe von der Marktsituation abhängt. Man darf nicht vergessen: Derzeit machen die Wasserzinse ein Viertel der Gestehungskosten aus. Das ist nicht wenig.

Der Bundesrat schlägt im neuen Gesetz eine Speicherreserve vor. Studien zeigen allerdings, dass die Versorgungssicherheit in der Schweiz bis mindestens 2025 auch in Extremsituationen gewährleistet ist. Warum braucht es diese Reserve?


Es stimmt: Das Risiko ist auch in zehn Jahren sehr klein. Unvorhersehbare, kurzfristige Extremsituationen könnten aber bei sehr kalten Wintertagen auftreten, wenn das Stromangebot europaweit knapp und der Stromverbrauch hoch ist. Wir wollen auch kleine Risiken minimieren – typisch schweizerisch.

Wie viel kostet diese Reserve?


Das fällt nicht gross ins Gewicht: Die Kosten dafür belaufen sich auf zwischen 0,1 und 0,4 Prozent des Strompreises, je nachdem, wie das Parlament die Versicherung ausgestalten will. Das entspricht pro Haushalt 1 bis 2 Franken jährlich.

Die Stromrechnung besteht zur Hälfte aus Netzkosten. Wie wollen Sie hier die Effizienz verbessern?


Beim Hochspannungsnetz konnte Swissgrid in den letzten zehn Jahren dank intelligenter Planung die Effizienz steigern. Handlungsbedarf besteht jetzt noch bei den Verteilnetzen. Beim Netzbetrieb kann man durch bessere Steuerung die Stromproduktion und den Bedarf der Verbraucher besser aufeinander abstimmen. So lassen sich teure Netzausbauten vermeiden. Ein Pilotversuch mit einem Kühlhaus der Migros im Kanton Solothurn hat gezeigt, dass man mit einer Computersteuerung ein Fünftel des Stromverbrauchs einsparen kann. Indem man die Kühlanlagen jeweils zu Spitzenzeiten für ein paar Stunden etwas herunterfährt, steht dieser Strom dann den Haushalten und der Industrie zur Verfügung. Das Verteilnetz wird entlastet und effizienter genutzt.

Erfordert das nicht weitere Investitionen, um die Netze stabil genug zu machen?


Die meisten Netze sind heute genügend dimensioniert. Aber: Die Netzbetreiber müssten in intelligente Steuerung investieren. Das Problem ist, dass sie keinen Anreiz haben, dies zu tun. Sie sind in einem Monopol und können ihre Kosten weiterverrechnen.

Was schlagen Sie vor?


Mit der Revision des Stromversorgungsgesetzes setzen wir auf mehr Flexibilität. Die Netztarife sollen stärker auf die Leistung abstellen, die ein Kunde bezieht, und weniger auf die Kilowattstunden. Zudem wollen wir mehr Transparenz und Kosteneffizienz bei den Netzbetreibern. Falls dies nicht gut genug greift, käme eine Anreizregulierung, wie sie in der EU existiert, zum Zuge. Gemäss unseren Schätzungen könnte man damit rund 250 Millionen Franken pro Jahr einsparen.

Seit 2007 verhandelt die Schweiz mit der EU über ein Stromabkommen. Warum ist der Zutritt zum europäischen Strommarkt so wichtig?


Ohne Stromabkommen kann die Schweiz nicht gleichberechtigt am europäischen Strommarkt mitmachen und bleibt bei der weiteren Entwicklung des europäischen Stromnetzes, der Ausgestaltung des Handels und Krisen aussen vor. Seit 15 Jahren importiert die Schweiz im Winter mehr Strom, als sie exportiert. Derzeit kostet uns das Abseitsstehen 115 Millionen Euro im Jahr – das spüren am Schluss die Unternehmen und die Konsumenten. Es wird je länger, je schmerzlicher.

Die Voraussetzung für das Stromabkommen ist ein Rahmenabkommen mit der EU.


Daran führt wohl kein Weg vorbei, denn es geht um einen Marktzugang. Auf technischer Ebene sind wir weitgehend startklar, aber wir sind im Beiboot zum Rahmenabkommen. Wenn der Bundesrat bis Ende Jahr dem Rahmenabkommen nahe kommt, könnte mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin im Frühling das Stromabkommen paraphieren. Die Bedingungen werden danach zunehmend schwieriger, da die EU bis Ende 2019 mit dem Clean Energy Package neue Regulierungen für den Strombinnenmarkt in Kraft setzt. Länger zuwarten bedeutet, dass es für die Schweizer Stromunternehmen zunehmend aufwendiger und teurer wird, Strom zu beschaffen und zu verkaufen. Und es gäbe einen Zusatzaufwand, da einige Elemente des Abkommens wohl neu verhandelt werden müssten.

Sie sind schon zwölf Jahre Bundesrätin. Wie haben Sie es immer wieder geschafft, sich zu motivieren?


Ich empfinde es als Privileg, als Bundesrätin die Schweiz mitgestalten und einen Beitrag leisten zu können, um unser Land in die Zukunft zu führen – das kann man sonst in keinem Job.

Bei der Digitalisierung stösst unser föderalistisches System an seine Grenzen.

Welche Baustellen müssen Sie übergeben?


Ein wichtiges Thema ist die Digitalisierung. Hier stösst unser föderalistisches System an seine Grenzen. Auf Bundesebene haben wir vorwärtsgemacht und stellen mittlerweile viele Daten digital zur Verfügung. Mehrere Kantone und Gemeinden sind jedoch noch nicht so weit. Das zeigt sich etwa beim Verkehr: Jede Stadt hat mittlerweile ihre eigene Parkplatz- und Veloapp. Es braucht aber eine bessere Vernetzung, und das bedeutet viel Arbeit. Andere Staaten überholen uns, da sie schneller entscheiden können.

Wenn Sie 160 Zeichen hätten für eine SMS, was würden Sie Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger raten?


Entscheiden, entscheiden, entscheiden. Man kann sich gut hinter Berichten verstecken, Arbeitsgruppen einsetzen und darüber reden. Am Schluss nützt das alles nichts. Eine Regierung muss Verantwortung übernehmen und entscheiden – auch wenn es unangenehm ist. Im Uvek mache ich das tagtäglich. Unsicherheit ist ein Kostenfaktor.

Eine letzte Frage: Ihr Dienstfahrzeug ist ein strombetriebenes Auto, ein Tesla. Werden Sie diesen vom Bund abkaufen?


(lacht) Er passt leider nicht in meine Garage. Zudem gehört er dem Bund. Ich dürfte ihn gar nicht übernehmen. Ich hoffe, dass ein anderer Bundesrat ihn übernimmt.

Zitiervorschlag: Susanne Blank, Nicole Tesar, (2018). «Die Marktmacht der Konsumenten spielt nicht». Die Volkswirtschaft, 19. November.

Doris Leuthard

Die CVP-Bundesrätin Doris Leuthard ist seit 2010 Vorsteherin des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek). Zuvor hatte die 55-jährige Aargauerin während vier Jahren die Leitung des damaligen Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD) inne. In den Nationalrat wurde die Juristin erstmals 1999 gewählt, von 2004 bis 2006 präsidierte sie die CVP Schweiz. Ende Dezember tritt sie als Bundesrätin zurück.