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Wirkungsanalyse der Invalidenversicherung

Die Tragweite der 5. IVG-Revision geht weit über die reinen Finanzierungsfragen hinaus. Schnell wachsende Neuverrentungen wirken negativ auf die Partizipation am Arbeitsmarkt und reduzieren damit die volkswirtschaftliche Leistung unseres Landes. Zudem verursachen sie Verzerrungen und unterlaufen Sanierungsbestrebungen in andern Bereichen der Sozialversicherung. Vom Standpunkt der volkswirtschaftlichen Effizienz aus ist das Potenzial an möglichen Eingliederungen in den regulären Arbeitsmarkt – vor allem bei jüngeren Versicherten – unbedingt auszunützen.

Die Finanzierung der Invalidenversicherung (IV) ist seit Jahren ungenügend. Anfang 1998 konnten die aufgelaufenen Schulden der IV durch eine Überweisung von 2,2 Mrd. Franken aus der Erwerbsersatzordnung getilgt werden. Trotz einer weiteren Überweisung von 1,5 Mrd. Franken (2003) ist in der Zwischenzeit auf dem Kapitalkonto der IV ein Negativsaldo in der Grössenordnung von 8 Mrd. Franken aufgelaufen. Gleichzeitig öffnet sich die Kostenschere weiter.

Ungebrochene Ausgabendynamik


Schreiben wir die geltende Regelung fort, werden die jährlichen Ausgaben der IV bis 2015 um mehr als 2 Mrd. Franken zunehmen. Da die öffentlichen Haushalte die Hälfte der IV-Ausgaben tragen müssen, ist der Effekt auf diese deutlich und unmittelbar. Als Folge der demografischen Alterung werden auch andere Sozialausgaben des Bundes, der Kantone und der Gemeinden steigen. Dies bedeutet, dass ein immer grösserer Teil der Staatsausgaben erstens gesetzlich festgeschrieben ist und zweitens für den Konsum – statt für Investitionen – verwendet wird. Bei gleich bleibendem Leistungsniveau der Sozialwerke ergeben sich zwei Möglichkeiten, welche beide erhebliche volkswirtschaftliche Nachteile aufweisen: entweder eine Erhöhung der Steuerbelastung oder die Hinnahme eines geringeren staatlichen Handlungsspielraums bei Investitionsausgaben oder gar im Bildungsbereich.

Zunahme der Verrentungen


Der Anteil der gewichteten IV-Rentner an der aktiven Bevölkerung hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen (siehe Tabelle 1). Im Jahr 2002 schlug auch die Erhöhung des AHV-Rentenalters der Frauen auf 63 Jahre mit 0,2 Prozentpunkten zu Buche. Seit 1990 ist jedoch insbesondere für Personen ab 35 Jahren die Wahrscheinlichkeit gestiegen, eine IV-Rente zu beziehen. Der erhöhte Zugang von jüngeren Altersklassen fällt besonders ins Gewicht, da diese lange in der IV verbleiben werden. Die Schweiz ist mit dieser Entwicklung kein Sonderfall. Die Zunahme der IV-Rentnerinnen und -Rentner lässt sich in allen OECD-Ländern feststellen, ebenso die Häufung von Renten aufgrund psychischer Erkrankungen. Von diesem allgemeinen Muster hebt sich die Schweiz gegenüber der OECD dadurch ab, dass der Anteil der IV-Rentnerinnen und -Rentner an der aktiven Bevölkerung eher tief ist. Hingegen erfolgt die Zunahme schneller als im OECD-Durchschnitt und die Neurentnerinnen und -rentner sind eher jünger.1

Wirkungen auf Partizipation


Der Zuspruch einer IV-Rente führt in der Regel zu einem irreversiblen Ausscheiden aus dem Erwerbsprozess. Der Volkswirtschaft stehen damit weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. Die Dynamik der Verrentungen seit 1990 hat dem Schweizer Arbeitsmarkt rund 2 Prozentpunkte an Arbeitskräften entzogen. Der daraus resultierende Verlust an volkswirtschaftlicher Wertschöpfung (BIP) dürfte einen Prozentpunkt deutlich übersteigen.  Die Arbeitsbevölkerung wird in den kommenden Jahren durchschnittlich älter werden. Während im Jahr 2000 noch 16,4% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 55 und 64/65 Jahre alt waren, werden es 2025 bereits 22,1% sein. Mit dem Alter steigt auch die Wahrscheinlichkeit der Invalidität. Weiter dürften – wie bereits in der Vergangenheit – neue Krankheitsbilder eine zunehmende Bedeutung bekommen. Setzen sich diese Trends in Zukunft fort, ist – ohne IVG-Revision – bis 2020 ein weiterer Anstieg des Rentneranteils in der Grössenordnung von 1 bis 2 Prozentpunkten – mit den entsprechenden Folgen für das Wirtschaftswachstum – zu befürchten. Hinzu kommt, dass diese drohenden Mehrleistungen in eine Zeit fallen werden, in der die Altersvorsorge und das Gesundheitssystem die Folgen der demografischen Alterung zu bewältigen haben werden.  Volkswirtschaftlich ist diese Entwicklung dann bedenklich, wenn bei den Rentnern eine mögliche (Rest-)Arbeitsfähigkeit brachliegt. Um abzuklären, ob in dieser Hinsicht Handlungsspielraum besteht, müssen die Anreizmechanismen der IV etwas genauer betrachtet werden.

Ursachen der zunehmenden Rentenzusprüche


Die Notwendigkeit eines Rentenzuspruchs lässt sich nicht mit naturwissenschaftlicher Exaktheit bestimmen. Die Versicherung erbringt Leistungen, wenn zwischen einem Gesundheitsschaden und der teilweisen oder ganzen Erwerbsunfähigkeit ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Die Leistungsvoraussetzung hat dementsprechend eine medizinische und eine wirtschaftliche Dimension. Nur wenn eine Invalidität keine Erwerbstätigkeit zulässt, kann eine Rente zugesprochen werden.  In der Botschaft zur 5. IVG-Revision werden die Gründe für die angestiegene Verrentung ausführlich aufgezählt. An dieser Stelle beschränken wir uns auf die spezifisch wirtschaftlichen Ursachen. Konkret gehen wir der Frage nach, welche wirtschaftlichen Anreize auf eine Zunahme der Verrentungen gewirkt haben.

Verbesserte Absicherung gegen Invalidität


An erster Stelle ist es die verbessere Absicherung gegen die materiellen Folgen einer Invalidität. Mit dem Aufbau der obligatorischen beruflichen Vorsorge kam eine grosse Zahl von Arbeitnehmenden in den Genuss eines BVG-Invalidenversicherungsschutzes. Obwohl das BVG-Obligatorium niedrigere Renten für krankheitsbedingte Invalidität vorsieht, haben viele Einrichtungen der beruflichen Vorsorge erheblich generösere Lösungen gewählt. In diesen Fällen ist bei einer Invalidität nicht nur ein Grundbedarf abgesichert, sondern fast der gewohnte Lebensstandard.

Härteres Klima in Wirtschaft und Arbeitswelt


In den Neunzigerjahren wurden zudem Wirtschaftsklima und Arbeitswelt deutlich härter. Die Unternehmen hatten weniger Spielraum, um schwächere Mitarbeitende mitzuziehen. Da die Modalitäten einer Invalidisierung sich mit der beruflichen Vorsorge für den Arbeitnehmenden verbessert hatten, hatten sie auch weniger Skrupel, sich von diesen Arbeitnehmenden zu trennen. Es zeigt sich zudem, dass die Wiedereingliederung der Invaliden in die Arbeit schwieriger geworden ist.

Anreize für Verrentung statt Wiedereingliederung


Diese beiden wirtschaftlichen Faktoren wirkten sich auf das Wahlverhalten der Versicherten aus. Verschlechtert sich die Arbeitsmarktfähigkeit eines Arbeitnehmenden – sei es durch persönliche Faktoren, die Wirtschaftslage oder die Lage des Unternehmens – steht für die Beteiligten in der Regel die Invalidisierung im Vordergrund. Bei Vorliegen einer guten Absicherung in der 2. Säule ergibt sich die Möglichkeit, dass das Einkommen auf einem recht hohen Niveau bleibt. Dies wiederum führt dazu, dass Alternativen wie eine berufliche Veränderung oder andere Eingliederungsmassnahmen zu wenig oder gar nicht in Betracht gezogen werden. Denn sie bergen Risiken: Während man mit einer Invalidisierung im «sicheren Hafen» ist, kann eine Eingliederung misslingen und zu Arbeitslosigkeit und Aussteuerung führen, was mit entsprechenden Einkommensverlusten verbunden ist.  Diese Anreizwirkung der bestehenden Regelung führte ferner dazu, dass der Früherkennung und Prävention eine zu geringe Beachtung geschenkt wird. Dies erweist sich für die Arbeitsmarktfähigkeit als fatal. Je länger die Probleme am Arbeitsplatz ohne Gegenmassnahmen andauern, desto schwieriger wird eine Therapie. Die Zusprechung einer Rente ist dann beinahe irreversibel. Die Wiedereingliederung wird meist nur im Hinblick auf einen geschützten Arbeitsplatz angepackt.

Interdependenz zwischen den Sozialwerken


Das schweizerische System des sozialen Netzes ist stark segmentiert. Für jedes Risiko wie Arbeitslosigkeit, Unfall oder Invalidität besteht ein spezialisiertes Netzwerk. Besonders starke Interdependenzen gibt es zwischen der IV, der Arbeitslosenversicherung (ALV) und der beruflichen Vorsorge.  Die interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) konzentriert sich auf die Optimierung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ebenen (Bund, Kantone und Gemeinden) und den verschiedenen Institutionen (Sozialhilfe, ALV und IV) sowie auf das gezielte Schliessen von Lücken. Das vom Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) lancierte Projekt IIZ wird durch die Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektorinnen und -direktoren (VDK) und die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) tatkräftig unterstützt. Die politische Sensibilisierung und die Einsicht in die Notwendigkeit einer optimierten Zusammenarbeit ist hoch. Das Handbuch zur interinstitutionellen Zusammenarbeit fasst die aktuellen Erfahrungen zusammen und die Vielfalt der kantonalen Zusammenarbeitsmodelle und bietet konkrete Unterstützung.2  Die Reformbestrebungen innerhalb der IV-Revision sind keine Insellösung, sondern eingebettet in ein koordiniertes Vorgehen aller Sozialwerke und Gebietskörperschaften.

Verhindert die schlechte Arbeitsmarktlage eine Reintegration?


Oft wird argumentiert, dass eine Wiedereingliederung bei der gegenwärtig schlechten Arbeitsmarktlage unrealistisch sei. Aus volkswirtschaftlicher Sicht kann dieses Argument mehrfach widerlegt werden.  – Erstens geht es nicht darum, den Zugang zu Renten undifferenziert zu verbauen. Nur dort, wo es ökonomisch einen Sinn hat, soll der Versicherte wieder in den regulären Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Eine Reintegration um jeden Preis ist vom wirtschaftlichen Standpunkt nicht begründbar. Eine zu restriktive Rentenvergabe könnte darüber hinaus die anderen Sozialwerke – beispielsweise die Sozialhilfe – belasten und zu einem Konflikt mit den sozialpolitischen Zielsetzungen des Landes führen. – Zweitens ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt durch ein konjunkturelles Auf und Ab geprägt. Eine Verrentung ist dagegen faktisch permanent. Die entsprechende Person ist irreversibel für den Arbeitsmarkt verloren. Dies macht deutlich, dass die IV nicht geeignet ist, Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu lösen. Die ALV verfügt dagegen über ein Instrumentarium, um zyklische Probleme auf dem Arbeitsmarkt aufzufangen.  – Drittens ist aus ökonomischer Sicht die Vorstellung, dass eine chronische Unterbeschäftigung herrscht und ein wiedereingegliederter Arbeitnehmer einem andern die Stelle wegnimmt, unzutreffend. Die letzten Jahrzehnte haben deutlich aufgezeigt, dass Volkswirtschaften, die nicht zu stark reguliert sind, sehr wohl in der Lage sind, eine hohe Arbeitsmarktpartizipation zu erreichen. Gerade die Schweiz mit ihren hohen Partizipationsraten am Arbeitsmarkt belegt dies deutlich.

Revisionsvorschläge sind volkswirtschaftlich solid untermauert


Die Ausgabendynamik der Verrentungen führt nicht nur zu einem Finanzierungsproblem, sondern wirkt auch negativ auf das Wirtschaftswachstum, die Arbeitsmarktpartizipation, die Staatsfinanzen und die andern Sozialwerke. Die Stossrichtungen der 5. IVG-Revision zielen darauf ab, den Neuverrentungen die Spitze zu brechen.  Die Massnahmen scheinen geeignet, wesentliche Verbesserungen zu bringen:  – Die Massnahmen zur Früherkennung und Reintegration sind sowohl volkswirtschaftlich als auch gesellschaftspolitisch sinn-voll. Dabei sollten nicht nur die Arbeitnehmenden angesprochen werden. Auch die Arbeitgeber sind dahingehend zu sensibilisieren, schwächere Menschen im Arbeitsprozess zu belassen oder ihnen gar eine Stelle anzubieten. – Die Straffung des Vollzugs könnte ebenfalls Effizienzpotenziale freisetzen. Zudem würde sie die Gleichbehandlung der Antragsteller verbessern. Die Durchsetzung von klaren, in der ganzen Schweiz vergleichbar umgesetzten Kriterien wirkt dem Missbrauch entgegen und stärkt das Vertrauen in die IV. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Straffung und Vereinheitlichung nicht auf einem generell grosszügigen, sondern auf einem angemessenen Niveau stattfindet. ?

Zitiervorschlag: Werner Aeberhardt (2005). Wirkungsanalyse der Invalidenversicherung. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.