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Die Unterfinanzierung beheben, nicht die Behinderten bestrafen

Die Unterfinanzierung beheben, nicht die Behinderten bestrafen

Die Invalidenversicherung (IV) ist seit über dreissig Jahren unterfinanziert – ein Missstand, der strukturelle Gründe hat und vom Parlament lange toleriert worden ist. Der entstandene Schuldenberg wie auch die laufenden und steigenden Mehrausgaben waren seit einem Jahrzehnt vorhersehbar. Die parlamentarischen Massnahmen gegen die Defizitwirtschaft – wie die beiden EO-Transfers in der Höhe von 3,7 Mrd. Franken oder Anpassungen auf der Beitragsseite – genügten absolut nicht. Die IV-Finanzen sind desolat. Dieser Umstand wurde in der politischen Diskussion benutzt, den Versicherten, welche auf IV-Renten angewiesen sind, Missbrauch vorzuwerfen.

Mit wenigen in den Medien gezeigten «Fallbeispielen» wurde im Ergebnis ein generelles Verdächtigungsklima gegen behinderte Menschen, welche sich unrechtmässig Leistungen erschleichen würden, produziert. Das war und ist eine unerhörte Diskriminierung und hat auch Auswirkungen. Hinter einzelnen Spar-Vorschlägen in der Botschaft des Bundesrates zur 5. IVG-Revision, wo «falsche Anreize» beseitigt werden sollen, steht das Verständnis, dass Behinderte vor allem die Rente wollen. Wir erleben bei den Beratungen in der Pro Infirmis überwiegend das Gegenteil: Die Betroffenen mühen sich ab, ihren Arbeitsplatz zu erhalten oder einen neuen Arbeitsplatz zu finden – zu oft leider ohne Erfolg.

Forderungen von Pro Infirmis


Vor diesem Hintergrund hat Pro Infirmis klare Forderungen zur 5. IVG-Revision: – Die IV muss besser und aktiver zur sozialen und beruflichen Integration beitragen, damit künftig weniger Versicherte neu auf eine IV-Rente angewiesen sind. – Die Finanzierung der IV ist auf eine solide Basis zu stellen und der Kostenentwicklung anzupassen. – Die IV muss für Versicherte, die auf Rente angewiesen sind, die Existenzsicherung verbessern. – Auf diskriminierende IV-Sonderverfahrensvorschriften, welche vom Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) abweichen, ist zu verzichten.

Ja zur Früherfassung


Pro Infirmis begrüsst insbesondere die Früherfassung und die Massnahmen im Rahmen der Frühintervention. Versicherte erhalten so früher die notwendige Unterstützung. Neben den IV-Stellen müssen hier private Behindertenorganisationen, welche in der beruflichen Eingliederung tätig sind, im Rahmen von Leistungsverträgen aktiv werden können. Das Verfahren der Früherfassung muss – wie in den Grundzügen angelegt – klar freiwillig bleiben und kann so die in der Regel hohe Motivation des Versicherten zur Selbstintegration erhalten und fördern. Daher ist für uns eine Anmeldung des Versicherten ohne seine Zustimmung undenkbar. Diese Freiwilligkeit hat auch während des ganzen Verfahrens zu gelten. Ein Aufheben der ärztlichen Schweigepflicht, wenn der Versicherte nicht gleich «spurt», ist absolut unverhältnismässig und wird von Pro Infirmis nicht akzeptiert. Eine wichtige Rolle spielen bei der beruflichen Eingliederung die Arbeitgeber; ohne sie geht es nicht. Umso erstaunlicher ist das Schweigen in der Gesetzesvorlage, aber auch in der politischen Diskussion.  Die Sparvorschläge, welche spürbar die Missbrauchsdebatte zum Gevatter haben, weist Pro Infirmis zurück. Wir lehnen die Abschaffung des Mindesttaggeldes für Kin-der erziehende Frauen ab, welche sich einer IV-beruflichen Massnahme stellen möchten; ebenso sind wir gegen die Aufhebung des Karrierezuschlags für jüngere Versicherte. Die Anpassung des Invaliditätsbegriffes im ATSG ist akzeptierbar, nicht aber die Neudefinition des Rentenanspruchs. Dieser soll künftig erst entstehen, wenn eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit definitiv unmöglich geworden ist. Damit wären alle Versicherten, deren Krankheit einen komplexen Behandlungsverlauf zur Folge hat, auf Jahre hinaus von einer sachlich gerechtfertigten Rentenzusprache ausgeschlossen und würden bei der Sozialhilfe landen.

Eine solide Finanzierung


Die IV braucht dringend neue Einnahmen. Ihr diese zu verweigern, wäre nicht verantwortbar. Es gilt die Schulden abzubauen und die laufenden Kosten zu decken. Im Parlament muss ein Konsens gefunden werden über die Herkunft der benötigten Mittel, seien dies nun zusätzliche erhobene Anteile von Mehrwertsteueroder Lohnprozenten oder der Bundesanteil des Nationalbankgoldes.

Keine Sonderverfahren


Im Rahmen des ATSG konnten die sozialversicherungsrechtlichen Verfahren seit 2003, nach jahrzehntelanger Diskussion, vereinheitlicht werden. Mit dürftigen Begründungen sollen für Behinderte im Rahmen der IV-Verfahren nur zwei Jahre später Sonderbestimmungen eingeführt werden. Pro Infirmis lehnt aus Gründen der Rechtsgleichheit und -sicherheit eine solche diskriminierende Hauruckübung ab.m

Zitiervorschlag: Urs Dettling (2005). Die Unterfinanzierung beheben, nicht die Behinderten bestrafen. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.