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5. IVG-Revision: Eingliederung verstärken, Rentenausgaben senken

Die 5. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (CIVG) hat zum Ziel, die Anzahl neuer Renten um 20% zu senken. Dies wird erreicht mit einer frühzeitigen Erfassung arbeitsunfähiger Personen, der Einführung von Frühinterventionsmassnahmen sowie verstärkten anderen Instrumenten zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit. Die Revision dient nicht nur der finanziellen Entlastung der Invalidenversicherung (IV), sondern bekämpft auch das Problem, dass immer mehr und immer jüngere Personen verrentet und vom Erwerbsleben ausgeschlossen werden. Um das Betriebsergebnis der IV wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen (2009) und ihre Milliardenschulden zu tilgen (bis 2024), soll die Mehrwertsteuer ab 2008 linear um 0,8 Prozentpunkte angehoben werden.1

Am 22. Juni 2005 hat der Bundesrat je eine Botschaft zur 5. IVG-Revision und zur Zusatzfinanzierung der IV zuhanden des Parlaments verabschiedet. Die Revision als Kernstück des Pakets wird voraussichtlich vom Nationalrat in der Wintersession erstmals beraten und soll 2007 in Kraft treten. Sie bedeutet eine tief greifende strukturelle Re-form des Sozialwerks. Die Revision erlaubt es, einerseits die IV finanziell markant zu entlasten und anderseits die Zunahme der Verrentungen und des Ausschlusses aus dem Erwerbsleben mit ihren sozialen Kostenfol-gen zu bekämpfen.  2004 schloss die IV mit einem Defizit von rund 1,6 Mrd. Franken und Schulden von gut 6 Mrd. Franken ab. Die Schulden dürften bis Ende 2007 auf über 11 Mrd. Franken anwachsen und ohne Massnahmen wie in den letzten Jahren im Rhythmus der jährlichen Defizite in Milliardenhöhe weiter ansteigen. Um diesen Trend zu brechen, müssen die Ausgaben der IV gesenkt werden, indem das Problem der laufend steigenden Anzahl neuer Renten an der Wurzel gepackt wird. Die 5. IVG-Revision senkt diesen Wert im Vergleich zum Jahr 2003 um 20%. Dies wird erreicht, indem die Eingliederungsanstrengungen und -instrumente deutlich verstärkt und die Regeln zur Zusprache einer Rente strenger gefasst werden. Hinzu kommt ein gezielter Leistungsabbau. Zusammen mit der unumgänglichen Zusatzfinanzierung erlaubt die Revision, die IV mittelfristig finanziell zu sanieren.

Früherfassung erhöht Chancen für Eingliederung


Aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähige Personen werden heute von der IV häufig viel zu spät erfasst. Sind sie erst einmal nicht mehr im Erwerbsleben integriert, können sie nur schwer wieder eingegliedert werden. Fehlt jemand wegen eines Unfalls oder wegen einer Berufskrankheit am Arbeitsplatz, so wird umgehend die obligatorische Unfallversicherung eingeschaltet, die für die medizinische Behandlung und den raschen Einbezug der IV im Hinblick auf die Wiedereingliederung sorgt. Bei nicht berufsbedingten Krankheiten hingegen fehlt eine solche systematische und rasche Koordination.  Daher wird mit der IVG-Revision ein System zur Früherfassung geschaffen. Es funktioniert wie ein vorgeschalteter Grobfilter, in dem bereits die meisten Versicherten hängen bleiben, bei welchen die Gefahr eines chronischen Leidens besteht. Für die Durchführung sind die kantonalen IV-Stellen verantwortlich. Sie dienen den involvierten Personen und Organen als Beratungs-, Abklärungs-, Triage- und Koordinationsstellen. Möglichst schnell soll über Massnahmen zur Erhaltung des Arbeitsplatzes und über die allfällige Intervention der IV entschieden werden.  Die Früherfassung sieht keine Meldepflicht vor. Betroffene können sich selber an die IV-Stelle wenden; ebenso können dies z.B. Arbeitgeber, Unfall-, Krankentaggeldoder Arbeitslosenversicherung, die Sozialhilfe sowie behandelnde Ärztinnen und Ärzte tun. Die IV-Stelle klärt die betroffene Person über den Zweck und den Ablauf der Früherfassung auf. Abgesehen vom Einholen der medizinischen Befunde erfasst sie auch Informationen zur sozialen und finanziellen Situation sowie zum Arbeitsumfeld. Wenn Massnahmen der IV zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit notwendig sind, so wird die versicherte Person aufgefordert, sich bei der IV anzumelden. Es wird mit rund 20000 Klienten der Früherfassung gerechnet.

Frühintervention senkt die Kosten


Im Rahmen der mit der 5. IVG-Revision vorgesehenen neuen Frühintervention kann einer frühzeitig festgestellten drohenden Invalidität auch mit ersten gezielten Sofortmassnahmen rasch begegnet werden, in der Absicht, die Möglichkeiten zum Erhalt der Erwerbstätigkeit maximal auszuschöpfen. Die Massnahmen der Frühintervention setzen somit ein, bevor vollständig abgeklärt ist, ob ein Anrecht auf reguläre IV-Leistungen besteht. Angewendet werden die bekannten beruflichen Eingliederungsinstrumente der IV: Anpassung des Arbeitsplatzes, Ausbildung, Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, sozialberufliche Rehabilitation und Beschäftigungsmassnahmen. Die Massnahmen werden mit der betroffenen Person individuell vereinbart und müssen sich in einem noch nicht festgelegten Kostenrahmen bewegen. Innerhalb von etwa sechs Monaten soll der Anspruch auf ordentliche Leistungen der IV – z.B. Hilfsmittel, Arbeitsplatzeinrichtung oder Umschulung – abgeklärt und insbesondere ein Grundsatzentscheid betreffend Rentenanspruch gefällt werden. Letzteres ist oft wichtig, damit sich die Beteiligten – etwa in Kenntnis einer künftigen Teilrente – ganz auf die berufliche Eingliederung konzentrieren können. Es wird erwartet, dass die Frühintervention mit rund 10000 Personen durchgeführt wird.  Früherfassung und Frühintervention lösen Kosten von schätzungsweise 86 Mio. Franken pro Jahr aus (Personal und Massnahmen). Dieser Investition stehen Einsparungen durch ganz oder teilweise vermiedene Renten gegenüber. Diese dürften im Durchschnitt der Jahre 2007 bis 2025 jährlich 314 Mio. Franken betragen. Per Saldo resultieren aus Früherfassung und Frühintervention Einsparungen von jährlich rund 220 Mio. Franken.

Zusätzliche Integrationsmassnahmen


Die heutigen beruflichen Eingliederungsmassnahmen der IV sind oft wenig geeignet, um insbesondere die stark wachsende Gruppe von psychisch Kranken oder auch diejenige der unqualifizierten Arbeitsunfähigen erfolgreich (wieder) einzugliedern. Daher fügt die Revision den heutigen Eingliederungsmassnahmen – medizinische Massnahmen, Massnahmen beruflicher Art, Massnahmen für die besondere Schulung, Hilfsmittel – eine neue Kategorie hinzu: Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung. Diese verbessern die Eingliederungschancen insbesondere psychisch Kranker, indem sie die Voraussetzungen für weitergehende Massnahmen beruflicher Art überhaupt erst schaffen. Auch sie werden individuell in einem Eingliederungsplan vereinbart. Das konkrete Instrumentarium sind sozialberufliche Rehabilitation (Gewöhnung an den Arbeitsprozess, Aufbau der Arbeitsmotivation, Stabilisierung der Persönlichkeit, Einüben sozialer Grundelemente) sowie gezielte Beschäftigungsmassnahmen. Während dieser Integrationsmassnahmen besteht – wie bei den beruflichen Massnahmen – ein Anspruch auf ein Taggeld der IV.

Pflicht zur Mitwirkung


Um die Wirkung der Eingliederungsbemühungen zu optimieren, wird im Gesetz ausdrücklich festgehalten, dass die Versicherten an allen zumutbaren Massnahmen zur Erhaltung des Arbeitsplatzes oder zur Eingliederung aktiv teilnehmen müssen. Eine Verletzung dieser Pflichten hat eine Kürzung oder Verweigerung von Leistungen zur Folge.

Strengere Bedingungen für den Rentenanspruch


Die starke Zunahme der IV-Renten der letzten Jahre ist primär auf psychische Leiden sowie Störungen an Knochen und am Bewegungsapparat (in erster Linie Rückenprobleme) zurückzuführen. Häufig ist in diesen Fällen nicht klar, ob eine Arbeitsunfähigkeit tatsächlich gesundheitlich bedingt ist oder andere Ursachen – wie z.B. soziale Probleme oder ungenügende Bildung – hat. Mit der 5. IVG-Revision wird der Zugang zu einer IV-Rente juristisch strikter auf Fälle von gesundheitlich bedingter Arbeitsunfähigkeit beschränkt, wodurch das IV-System konsequenter auf seine Zielsetzung «Eingliederung statt Rente» ausgerichtet wird.  Der Anspruch auf eine Rente entsteht künftig frühestens sechs Monate nach dem Zeitpunkt der Anmeldung bei der IV und nicht mehr rückwirkend auf den oftmals jahrelang zurückliegenden Anfangszeitpunkt der Erwerbsunfähigkeit. Auch bei der Vergütung von Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art wird die Rückwirkung aufgehoben. Damit werden die Versicherten motiviert, sich bei länger dauernder Krankheit frühzeitig bei der IV anzumelden. Zu-dem besteht nur dann ein Anspruch auf eine ordentliche IV-Rente, wenn mindestens drei Jahre lang – statt wie bisher ein Jahr – IV-Beiträge bezahlt wurden.

Negative Anreize korrigieren


Heute kann es in der IV oder im Zusammenspiel mit anderen Sozialversicherungen dazu kommen, dass Invalide mit den Versicherungsleistungen finanziell besser gestellt sind als mit dem vorherigen Erwerbseinkommen. Sie haben somit kein finanzielles Interesse an einer (erhöhten) Erwerbstätigkeit. Um dies zu korrigieren, wird der Zweck der IV-Taggelder auf den Einkommensersatz beschränkt. Zudem wird gewährleistet, dass die IV-Rente nicht wegen eines erhöhten Erwerbseinkommens absinkt oder sogar ganz wegfällt.

Einsparungen durch gezielte Leistungseinschränkungen


Die 5. IVG-Revision sieht mehrere gezielte Leistungseinschränkungen vor: Verzicht auf den Karrierezuschlag (heutige Berücksichtigung einer potenziellen beruflichen Karriere bei der Rentenberechnung), Finanzierung der medizinischen Massnahmen zur beruflichen Eingliederung durch die Krankenversicherung statt durch die IV (ausser bei Geburtsgebrechen) sowie die Aufhebung der noch laufenden Zusatzrenten für verheiratete Rentenbeziehende.

Sozialpartner werden in konzentrierte Aufsicht einbezogen


Die Aufsichtskompetenzen des Bundes werden mit der IVG-Revision verstärkt, um eine einheitliche Anwendung der IV-Gesetzgebung zu gewährleisten. Die heute von den Kantonen geregelte Organisation der IV-Stellen wird zur Bundeszuständigkeit. Konkret wird der Bund Verträge mit den Kantonen über Einrichtung und Standorte der IV-Stellen abschliessen, und er kann zur Steuerung der IV-Stellen wirkungs- und leistungsorientierte Finanzierungsmodelle vereinbaren. Durch die Einrichtung einer Aufsichtskommission mit Vertretern des Bundes und der Sozialpartner werden die Partner, welche die IV mitfinanzieren, angemessen in die direkte Vollzugsaufsicht einbezogen.

Anpassungen auf der Einnahmenseite


Auf der Einnahmenseite sieht die 5. IVG-Revision vor, die Lohnbeiträge der IV von 1,4% auf 1,5% zu erhöhen und somit die Entlastung der 2. Säule teilweise zu kompensieren, die auch dort aus der Reduktion der Neurenten erfolgt. Zudem wird damit teilweise korrigiert, dass der Anteil der Lohnbeiträge an der Finanzierung der IV gegenüber jenem der öffentlichen Hand in den letzten Jahren abgenommen hat. Die Investitionsphase während der Einführung der Frühintervention und der neuen Integrationsmassnahmen belastet auch den Finanzhaushalt des Bundes, da er die IV-Ausgaben zu 37,5% mitfinanziert; von der Beitragssatzerhöhung hingegen profitiert er nicht. Daher soll der Bundesbeitrag an die IV von 2008 bis 2012 von 37,5% auf 36,9% gesenkt werden – unter der Bedingung, dass die Lohnbeiträge und die Mehrwertsteuer wie vorgesehen angehoben werden.

Revision entlastet IV-Finanzhaushalt massiv


Das Massnahmenpaket zur Frühintervention und Integration ermöglicht es, die Anzahl der Neurenten um 20% – bezogen auf das Jahr 2003 – zu senken. Der Finanzhaushalt der IV wird im Durchschnitt bis 2025 um rund 596 Mio. Franken pro Jahr entlastet (vgl. Tabelle 1). Es ist zu berücksichtigen, dass jede Ausgabe der IV zur Hälfte von der öffentlichen Hand getragen wird. Eine Ausgabenreduktion in der IV kommt deshalb zur Hälfte der öffentlichen Hand zugute. So spart die IV mit der Revision zwar effektiv 624 Mio. Franken pro Jahr, was aber ihre Betriebsrechnung nur um 312 Mio. Franken entlastet. Die Differenz zur durchschnittlichen Entlastung von 596 Mio. Franken entfällt auf die Mehreinnahmen. Der Durchschnittswert verbirgt, dass die Sparwirkung vermiedener Rentenausgaben im Laufe der Jahre durch Kumulation ansteigt. Entlastet die Revision den IV-Finanzhaushalt im Jahr 2010 noch um 141 Mio. Franken, so steigt dieser Wert kontinuierlich an, übersteigt 2021 die Milliardengrenze und beträgt 2025 1,3 Mrd. Franken.

Dringend notwendige Zusatzeinnahmen durch Mehrwertsteuer


Auch mit der 5. IVG-Revision bleibt die IV unterfinanziert. Die AHV gewährt der IV zur Schuldendeckung ein Darlehen (Guthaben des AHV/IV-Ausgleichsfonds). Somit reduziert die zunehmende Verschuldung der IV die Liquidität des Fonds erheblich. Bis ungefähr zum Jahr 2011 sinkt diese auch mit der 5. IVG-Revision auf einen Stand, der die Auszahlung der AHV- und IV-Renten gefährdet. Über die 5. IVG-Revision hinaus gehende, namhafte Einsparungen wären nur mit einem gravierenden, sozialpolitisch inakzeptablen Leistungsabbau zu erzielen. Zusätzliche Einnahmen sind deshalb dringend notwendig. Die Botschaft zur IV-Zusatzfinanzierung sieht vor, alle Sätze der Mehrwertsteuer (MWST) um 0,8 Prozentpunkte zu Gunsten der IV anzuheben, ohne Anteil für den Bund. Die Erhöhung soll ein Jahr nach der 5. IVG-Revision in Kraft treten, d.h. voraussichtlich am 1.1.2008. In seiner Vernehmlassungsvorlage hatte der Bundesrat die MWST-Erhö-hung favorisiert, was von der grossen Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden unterstützt wurde. Die als Alternative zur Diskussion gestellte Erhöhung der Lohnbeiträge um 0,8 Punkte verfolgt der Bundesrat nicht weiter, da sie eine Erhöhung der Produktionskosten zur Folge hätte, was die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in nicht annehmbarer Weise belasten würde. Für die Erhöhung der MWST hingegen spricht unter anderem, dass sie eine neue Finanzierungsquelle erschliesst und damit die Finanzierung der IV breiter abstützt. Die Erhöhung der Konsumsteuer führt dazu, dass zur Deckung des zusätzlichen Finanzierungsbedarfs der IV nicht einseitig die Beitragspflichtigen herangezogen werden, sondern auch die Altersrentnerinnen und -rentner. Es ist zwar mit einer teilweisen Überwälzung auf die Preise zu rechnen, deren Auswirkun-gen auf die Privathaushalte jedoch als tragbar erachtet werden.

IV wird bis 2024 vollständig saniert


Die MWST-Erhöhung zu Gunsten der IV generiert Mehreinnahmen, die im Jahr 2008 1,7 Mrd. Franken betragen. 2025 belaufen sie sich auf rund 2,7 Mrd. Franken (im Durchschnitt der Jahre 2008-2025 rund 2,5 Mrd. Franken pro Jahr). Im Zusammenwirken mit der Entlastung durch die 5. IVG-Revision werden die Schulden der IV ab 2008 – dem Jahr der Anhebung der MWST – abgebaut. Im Jahr 2024 werden sie getilgt sein, und die IV wird wieder einen positiven Saldo im Ausgleichsfond ausweisen (vgl. Tabelle 2 und 3). Nach erfolgtem Schuldenabbau wird der Bundesrat die MWST-Sätze auf das notwendige Mass senken.

Zur Option der Verwendung von Goldreserven


Gemäss einem Gesetzesentwurf des Ständerates soll der Bundesanteil von rund 7 Mrd. Franken aus dem Verkauf der nicht mehr benötigten 1300 Tonnen Nationalbankgold für eine Reduktion des IV-Verlustvortrags verwendet werden. In diesem Szenario würde es genügen, die Mehrwertsteuersätze im Jahr 2008 nur um 0,7 statt um 0,8 Prozentpunkte anzuheben. Das Kapitalkonto der IV würde bereits ab 2022 (statt 2024) einen positiven Stand ausweisen.?

Zitiervorschlag: Alard du Bois-Reymond (2005). 5. IVG-Revision: Eingliederung verstärken, Rentenausgaben senken. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.