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«Integration statt Rente» – ohne Arbeitgeber geht es nicht

Kernstück der 5. IVG-Revision sind Früherfassung und Frühintervention. Die Erfahrung lehrt: Wer zu lange aus der Arbeitswelt ausgeschieden ist, ist weg vom Fenster. Die Reintegration ist schwierig – nicht nur vom fachlichen, sondern auch vom persönlichen Aspekt her. Deshalb braucht es ein Instrument, das voraussichtlich für längere Zeit arbeitsunfähige Leute möglichst früh identifiziert und Stellen, die dazu beitragen, dass sich die dauerhafte Arbeitsintegration für Arbeitnehmende und Arbeitgeber auszahlt.

Das hoch gesteckte Ziel der 5. IVG-Revision kann nur erreicht werden, wenn Mitarbeitende mit Leistungseinschränkungen ihre Arbeitsplätze behalten können. Deshalb müssen Arbeitgeber bei der Weiterbeschäftigung leistungseingeschränkter Mitarbeitender von einer unabhängigen, qualifizierten Stelle unterstützt werden.

Arbeitsunfähige Leute – teuer für Sozialstaat und Unternehmen


Das haben Grossunternehmen seit einiger Zeit gemerkt und professionelle Absenzenmanagements eingeführt. Bleibt jemand dem Arbeitsplatz häufig fern, wird gemeinsam mit dem Arbeitnehmer nach Ursachen geforscht. Ein wegen Arbeitsunfähigkeit ausscheidender Mitarbeiter ist auch für ein Unternehmen ein nicht zu unterschätzender Kostenfaktor: Die Prämien für die Krankentaggeldversicherung des Betriebs können wegen einer Neueinschätzung des Risikoverlaufs sofort auf das Doppelte ansteigen. Wird eine IV-Rente gesprochen, muss auch die betriebseigene Pensionskasse eine Rente bezahlen, was oft höhere BVG-Beiträge – für Arbeitnehmende und Arbeitgeber – zur Folge hat. Müssen Mitarbeitende ersetzt werden, verliert das Unternehmen auch bedeutendes Know-how. Dass die IV unter diesen Umständen ein Modell zur Früherfassung Arbeitsunfähiger einführen will, ist nichts anderes als konsequent. Allerdings wirft die Ausgestaltung des Systems einige Fragen auf; zudem sind Zweifel an der praktischen Durchführbarkeit angebracht. Wer nicht mehr zu 100% arbeitsfähig ist, kann ohne sein Einverständnis der IV-Stelle gemeldet werden. Fordert die Früherfassungsstelle nach einer ersten Abklärung die versicherte Person auf, sich offiziell bei der IV anzumelden, und kommt diese der Aufforderung nicht nach, muss sie später ohne Warnung Leistungskürzungen in Kauf nehmen.

Arbeitsplätze und qualifiziertes Personal als Voraussetzungen


Ziel der Reform ist «Integration statt Rente». Ohne Arbeitgeber kann dieses Ziel nie erreicht werden. Integration ist nur möglich, wenn Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass die IV-Stellen die Arbeitgeber zweckmässig über alle möglichen Leistungen wie z.B. Einarbeitungszuschüsse, begleitende Beratung am Arbeitsplatz oder Umschulungen informieren. Die in der 5. IVG-Reform vorgesehenen Frühinterventionsmassnahmen wie Ausbildungskurse, Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, sozialberufliche Rehabilitation – z.B. zum Aufbau der Arbeitsmotivation – oder Beschäftigungsmassnahmen sind ausgezeichnete Hilfen zur Arbeitsintegration. Sie werden aber erfolglos bleiben, wenn nicht genügend qualifiziertes Fachpersonal zur Verfügung steht, um Arbeitsunfähige sofort und individuell zu begleiten.

Unterstützung durch unabhängige Stellen


Das angestrebte Ziel der aktuellen 5. IVG-Revision, die Anzahl Neurenten bis ins Jahr 2025 um 20% zu reduzieren, lässt sich nur erreichen, wenn Personen, die in ihrem Aufgabengebiet nicht mehr zu 100% arbeitsfähig sind, dennoch den Arbeitsplatz behalten können. Da ist die Verantwortung der Arbeitgeber gefragt! Damit sie diese wahrnehmen können, sind sie auf fachliche Unterstützung angewiesen. Vor allem KMU, die keinen eigenen Per-sonal- und Sozialdienst haben, sind mögli-cherweise beim Arbeitsplatzerhalt für einen Mitarbeiter mit gesundheitlicher Beeinträchtigung bald einmal überfordert. Deshalb braucht es unabhängige Coachs, die beratend zur besten Lösung führen. Selbstverständlich muss der Arbeitsplatzerhalt für Arbeitnehmende und Arbeitgeber einen Nutzen bringen. Die Stiftungen «Intégration pour tous» (IPT) in der Romandie und «Profil – Arbeit und Handicap» in der Deutschschweiz leisten dabei gute Dienste. Leider lässt die finanzielle Lage dieser privaten Organisationen es nicht zu, flächendeckend in der gesamten Schweiz präsent zu sein. Ein Ausbau solcher qualifizierter Stellen mit langjähriger und breiter Erfahrung in der Arbeitsplatzerhaltung und Arbeitsintegration – IPT ist seit 1972 tätig – in Kombination mit Kompensationsleistungen für Arbeitgeber, die Menschen mit Leistungseinschränkungen beschäftigen, wäre möglicherweise rascher, kostengünstiger und kundennäher umzusetzen als die vorgeschlagene Aufstockung des Verwaltungsapparates.m

Zitiervorschlag: Simone Leuenberger (2005). «Integration statt Rente» – ohne Arbeitgeber geht es nicht. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.