Prävention in der Proliferation und der Terrorismusbekämpfung
Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (Proliferation) und Terrorismus sind ernst zu nehmende Gefahren für die Sicherheit unseres Landes. Sie zu erkennen und Handlungen zuvorzukommen, erfordert ausreichende Mittel und Kompetenzen sowie nationale und internationale Kooperation. Nur so können die Nachrichtendienste ihre Aufgabe effizient, wirksam und nachhaltig erfüllen und ihren Beitrag zum Schutz der Bevölkerung sowie zur Einhaltung internationaler Verpflichtungen leisten. Der Kampf gegen Proliferation und die Abwehr terroristischer Bedrohungen gehören zum Kerngeschäft des Strategischen Nachrichtendienstes (SND; Auslandnachrichtendienst) im Eidg. Departement für Verteidigung , Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) und des Dienstes für Analyse und Prävention (DAP; präventiver Staatsschutz, Inlandnachrichtendienst) im Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD).
Zweifellos beschäftigen Proliferation und Terrorismus Staatsschutzorgane und Auslandsnachrichtendienste auf dem ganzen Globus. Obwohl beiden Phänomenen andere Ursprünge oder Absichten zu Grunde liegen, haben sie einen gefährlichen Berührungspunkt: Massenvernichtungswaffen in den Händen von Terroristen stellen eine Bedrohung strategischen Ausmasses dar. Die Irrationalität des terroristischen Handelns verbunden mit der Einsatzmöglichkeit von Waffen mit chemischen, biologischen oder nuklearen Bestandteilen dürfte zu den Worst-Case-Szenarien jeder Regierung gehören. Spätestens seit den Giftgasanschlägen in der Tokioter Untergrundbahn vom 20. März 1995 ist bekannt, dass Massenvernichtungswaffen «privatisiert» sind. Und spätestens seit dem 11. September 2001 wissen wir, dass zu allem entschlossene terroristische Gruppen in der Lage sind, Bevölkerung, Wirtschaft und kritische Infrastruktur eines Landes nachhaltig zu gefährden.
Ein Paradigmenwechsel in der Bedrohung, wie er seit dem Ende des Kalten Krieges zu beobachten ist, erfordert zwangsläufig auch ein Umdenken in Prävention und Aufklärung der neuen Bedrohungsformen. Vor allem die Arbeit der Auslandsnachrichtendienste hat sich deshalb in den letzten 15 Jahren fundamental geändert. Während früher machtpolitische Bedrohungen staatlicher Akteure und militärischer Bündnisse im Vordergrund standen, stellen sich heute ganz andere Herausforderungen. Die modernen Bedrohungsformen, welche die Schweiz gerade auch aus dem Ausland bedrohen, sind der internationale Terrorismus, der islamistische Fundamentalismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermittel, die organisierte Kriminalität und der gewalttätige Extremismus. Damit hat sich das Aufklärungsspektrum im Ausland jenem im Inland angenähert. All diesen Bedrohungen gemeinsam ist der Umstand, dass nicht mehr staatliche, sondern vorwiegend nichtstaatliche Akteure und Personen im Vordergrund der Aufklärungstätigkeiten stehen. Für die Tätigkeiten der Nachrichtendienste bedeutet dies, dass sich die Analyse der Bedrohung zu einem grossen Teil auf die Aufklärung von Absichten, Planungen, Fähigkeiten und Tätigkeiten einzelner Individuen sowie deren Netzwerke, Organisationen und Firmen bezieht.
Aufwändiger und schwieriger als früher
Die Aufklärung solcher Ziele ist – insbesondere im Bereich der Proliferation und des Terrorismus – weitaus aufwändiger, schwieriger und risikoreicher, als es beispielsweise die Aufklärung sowjetischer Kommandostrukturen und militärischer Dislozierungen während des Kalten Krieges war. Die Informationsbeschaffung mittels menschlicher Quellen (Human Intelligence) sowie mit den Mitteln der Telekommunikation (Communications Intelligence) wird immer wichtiger. Gerade diese Mittel der Informationsbeschaffung sind unabdingbar, um beispielsweise frühzeitig Versuche von Beschaffungen proliferationsrelevanter Güter zu erkennen. Eine Schwierigkeit besteht darin, aus der Fülle von Kommunikationsvorgängen genau jene herauszufiltern, welche die entscheidenden Hinweise geben. Dies ist nicht nur technologisch ausgesprochen schwierig – besonders angesichts des zunehmend chiffrierten Kommunikationsverkehrs -, sondern auch auf der analytischen Seite. Nicht selten hängt es von der Aufmerksamkeit eines einzelnen Analysten ab, ob beispielsweise Verbindungen zwischen verschiedenen Terrorzellen erkannt werden und ob daraus weiterführende Kontakte in die Schweiz zu beobachten sind. So führte beispielsweise die Aufdeckung telefonischer Verbindungen zu den Attentätern von Riyad (2003) massgeblich zur Verhaftung von neun Islamisten in der Schweiz Anfang 2004.
Rechtsgrundlagen und Grundrechtschutz
Dank einem vorausschauenden Entscheid des Bundesrates im Jahr 1997 verfügt die Schweiz heute über ein wirksames System zur Aufklärung interkontinentaler Telekommunikationsverbindungen. Dieses System – bekannt unter der Bezeichnung Onyx – wird von der Führungsunterstützungsbasis «Elektronische Kriegführung» im VBS betrieben und stellt für die Nachrichtendienste eine wichtige Quelle der Informationsbeschaffung über das Ausland dar. Verfügten wir nicht über ein solches System, müsste es raschmöglichst zuoberst auf die Prioritätenliste der Rüstungsbeschaffung für die Auslandsaufklärung gesetzt werden. Die Verwendung solcher Aufklärungsmittel macht aber auch deutlich, dass die Durchführung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten stets im Spannungsfeld von Gefahrenabwehr und Grundrechtschutz zu betrachten ist. Aus diesem Grund überprüft in der Schweiz eine Unabhängige Kontrollinstanz (UKI) alle Aufträge der Nachrichtendienste zur Aufklärung ausländischer Kommunikationsverbindungen. Die UKI beurteilt alle Funkaufklärungsaufträge auf ihre Recht- und Verhältnismässigkeit und erstattet jährlich Bericht an den Vorsteher VBS zuhanden des Sicherheitsausschusses des Bundesrates.
Empfindliche Lücken im präventiven Staatsschutz
Währenddem die Rechtsgrundlagen für die Auslandaufklärung des SND durchaus ausreichend sind, zeigt sich für den DAP seit einiger Zeit, dass im Bereich des präventiven Staatsschutzes empfindliche Lücken bestehen. Zahlreiche Staaten revidierten oder revidieren ihre Gesetzgebung in Bezug auf die Terrorbekämpfung infolge der Entwicklung seit dem 11. September 2001 und schnürten finanziell wie personell bedeutende Pakete zur Verstärkung der zuständigen Dienste und Massnahmen. Das heutige Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) wurde Anfang der Neunzigerjahre unter dem Eindruck der weltweiten Entspannung geschaffen mit dem Ziel, die Informationsbeschaffung im Inland möglichst zu begrenzen. Die entstandenen Lücken wurden auch von Parlament und Bundesrat erkannt. Deshalb wird mit dem so genannten BWIS-II-Paket derzeit ein Revisionsprojekt für eine Erweiterung der Beschaffungsmöglichkeiten im Inland – namentlich zur Verbesserung der Terrorabwehr – erarbeitet. Unter anderem wird geprüft, wie die präventive Post- und Fernmeldeüberwachung, die technische Überwachung und die Nutzung von Tarnidentitäten und -strukturen auf rechtsstaatlich einwandfreie Weise geregelt werden können. Solche Massnahmen müssten sich eng auf den Kernbereich der gesetzlichen Aufgabengebiete beschränken und die bestehenden rechtsstaatlichen und freiheitlichen Grundsätze der Schweiz wahren. Die Güterabwägung zu den staatlichen Eingriffen in Freiheits- und Persönlichkeitsrechte hat dabei nicht nur den Eingriff für die Betroffenen zu berücksichtigen, sondern auch die Gefahr der Verletzung der Rechte Dritter durch Terrorismus oder Proliferation. Die Anordnung besonders einschneidender Massnahmen muss deshalb von speziellen Anforderungen abhängen und strengen Aufsichts- und Kontrollmassnahmen unterstehen. Auch der parlamentarischen Oberaufsicht käme hier wichtige Bedeutung zu.
Terrorismus
Die terroristische Bedrohung durch den internationalen Dschihadismus, der sich aus der Ideologie der Al Qaida speist und – als Variante des gewalttätigen politischen Islamismus – kein nachvollziehbares Ziel mehr verfolgt, scheint kaum noch fassbar zu sein. Sie kann sich ohne erkennbare Warnzeichen wie aus dem Nichts entladen. Die unvermindert hohe und aktuelle Gefährdung zeigt sich unter anderem darin, dass die Attentäter von London im Juli 2005 mitten aus der britischen Gesellschaft hervorgingen und die britische Staatsbürgerschaft besassen. Es waren also nicht extra eingeschleuste Islamisten, die den Terroranschlag unter einem Deckmantel vorbereiteten, sondern in Grossbritannien geborene und aufgewachsene «normale Bürger» der zweiten Generation. Sie waren zwar radikalisiert, bislang aber nie besonders aufgefallen. Auf jeden Fall passen sie nicht in das Täterprofil von fundamentalen Islamisten, welche frühere Anschläge verübten. Dies gibt der terroristischen Bedrohung eine neue qualitative Dimension. Die jüngsten Terroranschläge in Grossbritannien und Ägypten zeigten wiederum auf, dass primär westliche Länder und ihre Alliierten auf den Kriegsschauplätzen in Irak und Afghanistan im Visier der fundamentalen Islamisten sind. Bislang gibt es keine konkreten Hinweise darauf, dass die Schweiz oder ihre Interessen direkt bedroht wären. Dass die Schweiz jedoch als Transitland, vorübergehender Rückzugsort oder als logistischer Stützpunkt missbraucht wird, ist erwiesenermassen möglich.
Proliferation
In Umsetzung internationaler Verträge und Verpflichtungen bestehen in der Schweiz verschiedene Gesetze, welche die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und die missbräuchliche Verwendung von Dual-Use-Gütern verhindern sollen. In diesen Bereichen – insbesondere für die Exportkontrolle – geben die Nachrichtendienste regelmässig Einschätzungen ab, sei es für das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) oder für die Lenkungsgruppe Sicherheit bzw. den Sicherheitsausschuss des Bundesrates. Zur Aufdeckung des bekannten Khan-Netzwerkes konnten die Nachrichtendienste wesentliche Beiträge leisten, insbesondere was die Bezüge zur Schweiz betrifft. Bei diesen Tätigkeiten der Nachrichtendienste geht es aber nicht zuletzt auch darum, die Industrie und damit den Wirtschafts- und Finanzplatz Schweiz vor ungewollten Verstrickungen in illegale Machenschaften zu schützen. Seit Herbst 2004 wurden in der Schweiz deshalb über 100 Firmen, Forschungsinstitute und Hochschulen im Rahmen des Projekts «Prophylax» des DAP kontaktiert, um diese für die Problematik der Proliferation und der Wirtschaftsspionage zu sensibilisieren, weil sie aufgrund ihrer technologischen Expertise oder der regionalen Ausrichtung der Geschäftstätigkeit für Beschaffungsnetzwerke anderer Länder oder Organisationen von Interesse sein könnten. Dass Massenvernichtungswaffen in die Hände von Terroristen gelangen können, ist eine ernst zu nehmende Gefahr. Sarin, Anthrax oder Rizin sind bekannte Beispiele. Weniger wahrscheinlich ist hingegen, dass Terroristen in den Besitz einer Atombombe gelangen, solange die Atommächte ihre Waffen unter Kontrolle haben. Der Bau eines mit radioaktiven Materialien versetzten konventionellen Sprengkörpers – eine so genannte «Dirty Bomb» – scheint schon eher möglich. Die Staaten sind gut beraten, sich auf solche Szenarien vorzubereiten, auch wenn konkrete Erkenntnisse über solche Beschaffungsbemühungen selten sind. Hingegen dürften die permanenten diesbezüglichen Spekulationen in den Medien die Sicherheit kaum erhöhen, sondern eher eine Art Erwartungsdruck erzeugen, der die Hemmschwelle für einen entsprechenden Anschlag herabsetzt.
Verstärkte Bedeutung der nationalen und internationalen Zusammenarbeit
Die Anschläge vom 11. September 2001 haben die Bedeutung einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Inlands- und Auslandsnachrichtendiensten aufgezeigt, um grenzüberschreitende terroristische Aktivitäten zu erkennen und zu verhindern. Aktivitäten ausländischer terroristischer Gruppierungen in der Schweiz erfolgen nicht losgelöst, sondern im internationalen Kontext. Der DAP und der SND werden ihre Zusammenarbeit auf Beginn des nächsten Jahres wesentlich ausbauen. So werden die beiden Dienste die Bereiche Terrorismus und Proliferation – wie auch organisierte Kriminalität – künftig gemeinsam bearbeiten, und zwar in drei gemeinsamen Plattformen, in denen Mitarbeitende beider Dienste gemeinsam Analysen und Auswertungen erstellen. Neben der verstärkten Zusammenarbeit der schweizerischen Dienste nimmt auch der internationale Informationsaustausch weiter an Bedeutung zu. Sowohl der SND wie auch der DAP arbeiten eng mit ausländischen Partnerdiensten zusammen. Zusätzlich zur bilateralen Zusammenarbeit spielen multilaterale Organe eine wichtige Rolle. So ist etwa der DAP Mitglied des Club de Berne, eines Zusammenschlusses europäischer Inlandnachrichtendienste, der alle Bezüge zu Terrorismus und Proliferation behandelt. In der Counter Terrorism Group (CTG), die aus dem Club de Berne initiiert wurde, ist die Schweiz ebenfalls vertreten.
Zitiervorschlag: Buehler, Juerg S.; Graf, Urs (2005). Prävention in der Proliferation und der Terrorismusbekämpfung. Die Volkswirtschaft, 01. November.