Suche

Abo

Bildung und Forschung als Transferprodukte für innovative Firmen

Die grosse Herausforderung einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung in den westlichen Ländern erfordert eine innovationszentrierte Verknüpfung wesentlicher Ressourcen im ökonomischen, politischen und akademischen Bereich. Hochpreisländer wie die Schweiz müssen sich noch viel mehr auf den Innovationswettbewerb statt den gängigen Produktionswettbewerb ausrichten. Diese Form der Re-Industrialisierung bedingt einen Paradigmawechsel, denn der Innovationswettbewerb verlangt einen dynamischen und effizienten Wissensaustausch. Gleichzeitig muss in unserer Gesellschaft eine gesunde Risikokultur Akzeptanz finden. Diese Aspekte kommen in unserer Bildung immer noch viel zu kurz.

Re-Industrialisierung – eine Neuorientierung fundamentaler Art


Die Schweiz hat – wie alle westlichen Länder – lange versucht, die Abwanderung von Produktionsstätten zu verhindern. Nicht ohne Grund: Arbeitsplätze gingen verloren, Restrukturierungen brachten die traditionellen Vorstellungen von Arbeit ins Wanken, soziale Errungenschaften wie die Arbeitslosenversicherung mussten plötzlich die Folgen eines breiten strukturellen Wandels auffangen. Es gab keine Strategien, um diesem durch die Globalisierung erzwungenen Wandel eine zukunftsgerichtete Vision zu geben.  Re-Industrialisierung ist nun nicht einfach die Umkehrung dieses Trends, sondern bedeutet eine Neuorientierung fundamentaler Art. Die Aufgabe, welche unsere Gesellschaft in Form der industriellen Produktion wahrgenommen hat, muss heute auf den Innovationsprozess selbst übertragen werden. Innovation und Wissensaustausch sind qualitativ anspruchsvolle Produkte und Prozesse geworden, die wir mit unserem Bildungs- und Dienstleistungssystem herstellen. Dieser grossen Herausforderung für unser Wirtschaftssystem können wir uns stellen, wenn wir uns auf einen weltweiten Innovationsstatt Produktionswettbewerb einlassen, auf allen Bildungsstufen das Spiel mit dem Wissen zur Kultur werden lassen, die Freude für unternehmerisches Denken wecken und Innovation als zentrale Querschnittaufgabe der Politik erklären.  Die Schweiz ist dazu gut positioniert. Wir haben es nur noch nicht ganz bemerkt und schöpfen unser Potenzial viel zu wenig aus. Wir sind mitten in einem stimulierenden, internationalen und multikulturellen wirtschaftlichen Umfeld mit höchster Wertschöpfung in Bereichen eingebettet, in denen wir traditionell Stärke bewiesen haben und weiter Know-how austauschen: Chemie, Informationstechnologie, Optik und Präzisionsinstrumente sowie Maschinen- und Fahrzeugbau, um nur einige auf der technologischen Seite zu nennen. Im Bereich der Ökonomie stellen die Versicherungen und Banken Pfeiler unserer Volkswirtschaft dar. Wir verfügen über ein nationales Netzwerk von Klein- und Mittelunternehmen (KMU) bis hin zu Grosskonzernen und weisen eine gut sichtbare Innovationsaktivität auf.

Die Antwort des ETH-Bereichs


Im ETH-Bereich haben wir auf verschiedenen Ebenen begonnen, neue Formen des Wissensaustausches zu konkretisieren: Kompetenzzentren zu den Themen Energie, Umwelt und Materialwissenschaften sind im Aufbau und werden sowohl Partner der Industrie und der öffentlichen Hand als auch der Universitäten und der Fachhochschulen einbeziehen. Die bereits existierenden Kompetenzzentren mit ETH-Bereichsbeteiligung – SystemsX und Biochemical Imaging Group – sind als Verbundprojekte mit Universitäten und der pharmazeutischen Industrie, respektive Spitälern konzipiert.  Auch Firmenausgründungen sind ein Teil der Forschungskultur im ETH-Bereich geworden. Mit dem neuen Artikel 3a des ETH-Gesetzes sind nun auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Beteiligungen an Firmen im Rahmen des Leistungsauftrages und der Weisungen des ETH-Rates gegeben. Highlights dieser sich wandelnden Forschungskultur waren Firmengründungen wie Cytos und Kuros Therapeutics. Im Jahr 2004 wurde Integrated Systems Engineering für 90 Mio. Franken von Synopsis und 2005 GlycArt durch Roche mit einer Rekordsumme von 235 Mio. Franken übernommen.  Der ETH-Bereich muss also den Vergleich mit namhaften Universitäten in den USA nicht scheuen. So weisen die ETH Zürich und die EPF Lausanne eine ähnlich hohe Anzahl an Firmenausgründungen aus wie zwei Spitzenuniversitäten der USA, nämlich das Massachusetts Institute of Technology (MIT) und die Stanford University. Die Zahlen des Europäischen Patentamtes attestieren der Schweiz mit 300 erteilten Patenten pro Million Einwohner ebenfalls eine Spitzenposition in der Erzeugung von verwertbarem Wissen.  Die rege Innovationstätigkeit lässt sich auch am Venture-Businessplan-Wettbewerb der ETH Zürich und McKinsey ablesen. Seit 1998 wurden weit über 300 Businesspläne eingereicht. Im Jahr 2004 waren es 200 Businessplan-Ideen; 100 davon brachten es schliesslich zur Businessplan-Reife.

Ansatzpunkte einer modernen Innovationsförderung


Die Innovationstätigkeit der Schweiz stimmt also. Die Vielfalt einheimischer Branchen sollte sich stimulierend auf den Standort Schweiz auswirken; das internationale Umfeld ist günstig und die Bereitstellung von verwertbarem Wissen ist ausgezeichnet. Warum gelingt aber der Umstieg von einem produktionsorientierten Standort zu einer innovationsorientierten Wissensgesellschaft nur zögerlich? Die Erfolge einzelner neuer Firmen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Regel Ausgründungen und Start-Ups nur langsam wachsen. Eine MIT-Studie1 hat vor einigen Jahren die zeitliche Dynamik von Firmengründungen durch MIT-Alumni analysiert. Lediglich 12%-15% der Firmen erreichten eine Grösse von über 100 Mitarbeitenden 15 bis 30 Jahre nach Studienabschluss des Firmengründers oder der Firmengründerin. Nach 50 Jahren oder mehr waren es 30%. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen.  – Erstens: Firmengründungen, die kurzoder mittelfristig eine grosse Auswirkung auf die Wirtschaft haben, sind die Ausnahme, nicht die Regel.  – Zweitens: Innovationsförderung kann sich nicht auf Förderung der Ausgründungen beschränken. Sie muss Kanäle in Tausende von KMU öffnen.  Wo aber muss dann Innovationsförderung ansetzen? Einfach ausgedrückt: in den Köpfen! Die konkreten Handlungsfelder, die sich daraus ergeben, möchte ich mit 4 Thesen skizzieren.

These 1: Wissens- und Technologietransfer ist bidirektional und braucht einen Push/Pull-Ansatz


Innovation braucht in einer komplexen Welt bereits im Stadium der Konzeption das Feedback des Verbrauchers, der Benützerin, der Behörde oder des KMU; zu wenig können die Endanforderungen an ein Produkt oder an eine Dienstleistung vorhergesehen werden. Deshalb müssen wir gezielt einen Push/Pull-Ansatz wählen: Einerseits sollen neue Ideen aus der Forschung gezielt für die Praxis aufbereitet werden; anderseits muss die Praxis Forschungsergebnisse aktiv absorbieren und wiederum praxisrelevante Fragen an die Forschung stellen. Nur mit diesem dringend notwendigen Paradigmawechsel – weg vom hochschulseitig gesteuerten Wissens- und Technologietransfer, hin zu einem partizipativen, transdisziplinären Innovationssystem – kann der «Wissensstau» behoben werden. Damit werden auch die Voraussetzungen geschaffen, dass Innovationstätigkeit ein Teil unserer Denkkultur in Wirtschaft und Politik wird. Ein Blick auf die Branchenlandschaft der Schweiz zeigt, dass dieser bidirektionale Wissensaustausch besonders wichtig ist für Branchen mit guter Wettbewerbsposition und hoher Attraktivität, u.a. Pharma und Chemie, Elektrotechnik und Elektronik, Informatik und Telekommunikation, Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Banken und Versicherungen.

These 2: Menschen als Träger von Bildung und Forschung sind die Fundamente für eine Innovationskultur


Grossfirmen mit eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen machen den Wissensaustausch mit der Praxis «in house». Kleine und mittlere Unternehmen sind hingegen meist auf Interaktionen mit externen Partnern angewiesen. KMU sind ein «Wachstumsmarkt». Während die Anzahl grösserer Firmen abnimmt, legen Firmen mit unter 200 Mitarbeitenden deutlich zu. Um neueste Forschungsergebnisse rascher und besser umsetzen zu können, bedarf es einer Stärkung des Pull-Mechanismus in den KMU: Bildung und Forschung müssen höheren Stellenwert erhalten, sowohl qualitativ als auch quantitativ, um die Kompetenz zur Wissensabsorption von KMU zu verbessern. Dies erfordert eine aktive Rekrutierungsstrategie in KMU von klugen und praxisorientierten Köpfen aus unseren Hochschulen und Fachhochschulen, welche schon während ihres Studiums oder des Doktorates mit Unternehmungen enge Kontakte geknüpft haben. Bildung und Forschungserfahrung werden so zu Transferprodukten und fungieren sozusagen als «Enabling Technologies» für innovative Firmen. Innovation stellt dabei auch eine kulturelle Leistung dar, weil Wissensaustausch von Begegnungen zwischen Personen lebt und immer eine Kultur voraussetzt.

These 3: Klar identifizierbare Transferplattformen fördern die Innovationstätigkeit


Der ETH-Bereich macht mit seinen Kompetenzzentren einen Brückenschlag zu den Unternehmen, um ihnen so Kontaktstellen und Forschungsplattformen zu bieten, die den beidseitigen Wissensaustausch fördern. Analoges gilt für die öffentliche Hand – auch sie ist willkommene Partnerin im Wissensaustausch, weil die Anforderungen von Politik und Gesellschaft oft nicht am technologisch Machbaren scheitern, sondern am Umsetzungswillen oder an einer unvollständigen ökonomischen Gesamtsicht. Gerade im Umweltbereich und in Fragen der nachhaltigen Entwicklung von Städten, Landschaften bis hin zu Grossregionen unseres Landes herrscht grosser Nachholbedarf, dem nur durch eine integrierende Sichtweise aller Prozesse auf technischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene entsprochen werden kann. Das Projekt 2000 Watt Gesellschaft/Pilotregion Basel von Novatlantis – der Nachhaltigkeitsinitiative im ETH-Bereich, in Zusammenarbeit mit dem Kanton Basel-Stadt und den Fachhochschulen beider Basel – ist ein gutes Beispiel, wo dieses Paradigma zu greifen beginnt und innovative Resultate zeigt.

These 4: Wissenschaft und unternehmerisches Denken müssen Teil unserer Kultur werden


Eine Umfrage im ETH-Bereich hat gezeigt, dass sich der Wunsch, ein eigenes Unternehmen zu gründen, zwischen Studienanfang und -ende von 8% auf 2% der Studierenden reduziert. Dieser Verlust an Innovationspotenzial darf nicht sein. Es muss uns gelingen, unternehmerisches Denken junger Menschen auf allen Bildungsstufen zu erhalten und zu fördern. Wissen muss als essenzieller und gestaltender Grundbaustein unserer Gesellschaft gelebt, erfahren und ausprobiert werden. Dazu gehört eine Kultur, die Mut zu gesundem Risiko thematisiert und akzeptiert.

Forderungen an Gesellschaft und Politik


Gut ausgebildetes und sich stetig weiterbildendes Personal in unseren Unternehmen und öffentlichen Institutionen ist Voraussetzung für die Absorption und nachhaltige Umsetzung von innovationsträchtigen Ideen aus der Forschung. Diese Ideen können aber nur effizient genutzt werden, wenn im akademischen Bereich der unternehmerische Geist gestärkt und der Blick für das Anwendungspotenzial von Forschungsergebnissen geschärft wird.  Aus den vorangegangenen Ausführungen ergeben sich vier zentrale Forderungen an die Politik und an die Gesellschaft. Wir brauchen: – eine intensive Schulung des unternehmerischen und innovativen Denkens auf allen Bildungsstufen; – eine höhere Risikobereitschaft und Akzeptanz von Erfolg und Misserfolg in unserer Gesellschaft; – optimale staatliche Rahmenbedingungen für Jungunternehmer und -unternehmerinnen wie Steuererleichterungen, vereinfachte Administrationsabläufe und risikofreundlichere Finanzierungsmöglichkeiten; – Mut zur Akzentsetzung in der Forschung und den Willen, Gebiete, in denen wir erfolgreich sind, weiter zu stärken.   Die Konkretisierungen dieser Forderungen stellen erste Schritte dar, die dazu beitragen werden, dass die direkteste Methode des Wissenstransfers markant gestärkt wird: Menschen, die es mit ihrem Wissen und ihrer Forschungserfahrung in innovative Firmen zieht, um sich dort der grossen Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen.  Ich wünsche mir eine mutige und ehrgeizige Schweiz, die auf allen Stufen ihres Bildungssystems die Leistung, das unternehmerische Denken, die innovativen Ideen und die Risikobereitschaft von Einzelnen bis hin zu ganzen Institutionen wahrnimmt, fördert und belohnt.

Zitiervorschlag: Alexander J.B. Zehnder (2005). Bildung und Forschung als Transferprodukte für innovative Firmen. Die Volkswirtschaft, 01. Dezember.