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Interview mit Bundesrat Joseph Deiss: Sechste WTO-Ministerkonferenz in Hong Kong – wie weiter?

Interview mit Bundesrat Joseph Deiss: Sechste WTO-Ministerkonferenz in Hong Kong - wie weiter?

Die sechste WTO-Ministerkonferenz vom 13. bis 18. Dezember 2005 in Hong Kong fand unter schwierigen Vorzeichen statt. Im Gespräch mit dem Magazin «Die Volkswirtschaft» äussert sich der Leiter der Schweizer Delegation, Bundesrat Joseph Deiss, zu dem in Hong Kong Erreichten, den noch ungelösten Problemen, der Rolle der Schweiz in den Verhandlungen und der aussenwirtschaftspolitischen Bedeutung der WTO für die Schweiz.

Die Volkswirtschaft: Im Anschluss an die sechste WTO-Ministerkonferenz in Hong Kong zeigten Sie sich als Schweizer Delegationsleiter mit dem Erreichten zufrieden. Warum diese positive Wertung angesichts der doch eher bescheidenen Resultate? Oder anders gefragt: Was war für Sie das Wichtigste, das in Hong Kong erreicht wurde?

Deiss: Im Vorfeld der Konferenz waren alle Teilnehmer und Beobachter sehr zurückhaltend, wenn nicht gar pessimistisch bezüglich der Resultate. Das wichtigste Ziel war denn auch, einen Misserfolg im Stile Cancúns zu vermeiden und die Doha-Runde in Gang zu halten, was auch gelungen ist. Neben der Schlusserklärung der Minister, die zustande kam, gab es in Hong Kong unerwartete Resultate, so etwa im Bereich der Exportsubventionen für die Landwirtschaft mit der Festsetzung eines Termins für deren Abschaffung. Schliesslich konnte die Konferenz nach sehr zähen Verhandlungen den Entwicklungsländern mit den Präferenzen, die den ärmsten Ländern eingeräumt werden, etwas Konkretes anbieten.

Die Volkswirtschaft: Wie beurteilen Sie generell die Rolle der Schweiz an der sechsten WTO-Ministerkonferenz?

Deiss: Ohne uns selber qualifizieren zu wollen, können wir sagen, dass die Schweiz sich auf verschiedenen Ebenen positiv einbringen konnte: – Gegenüber der EU, indem wir gezeigt haben, dass die Gruppe der zehn Nettoimportländer von Agrarerzeugnissen (G10), welche die Schweiz anführt, zur Lösungsfindung beitragen kann. Wir haben den Vorschlag eingebracht, dass sämtliche Formen der Exportsubventionen bis Ende 2013 abgebaut werden müssen, der auch akzeptiert wurde. – Gegenüber der G20-Gruppe – eine von Brasilien, Indien und China angeführte Koalition von Schwellen- und Entwicklungsländern -, indem wir als Erste konkrete Vorschläge zum Thema der speziell sensiblen Produkte einbrachten. Wir haben gezeigt, nach welchen Kriterien und mit welcher Methode diese Produkte gehandhabt werden können. Dass wir hier ein Konzept aufzeichnen und alle interessierten Parteien zu dieser zentralen Frage einladen konnten, wurde als positives Zeichen gewertet. – Schliesslich gegenüber den Entwicklungsländern, indem wir mit einem Kompromissvorschlag im Bereich der Präferenzen in die Verhandlungen eingestiegen sind; mit gewissen Abstrichen bezüglich der Prozentzahl (97% statt 99%) wurde dieser Vorschlag in die Schlusserklärung übernommen. Nicht zuletzt aufgrund unseres Vorschlags sind Länder wie die USA oder Japan, die zuvor noch zurückhaltend waren, auf den Zug aufgesprungen.

Die Volkswirtschaft: Schlüsseldossier der WTO-Ministerkonferenz war das schwierige Agrardossier. Bei allen Fortschritten: Im wichtigen Bereich des Marktzutritts waren die Verhandlungen blockiert. Was muss geschehen, damit die Fronten in der Agrarfrage weiter aufgeweicht werden?

Deiss: Erstens ist es wichtig, auf die jeweilige Situation der einzelnen Länder Rücksicht zu nehmen. Wir haben von Beginn an dargelegt, wie unterschiedlich die Zollstrukturen – gerade im Agrarbereich – der Länder sind. Daher wird es nicht möglich sein, alles in einer Formel zu regeln, wenn alle Beteiligten ein ungefähr gleich grosses Opfer bringen sollen. Zweitens wird es notwendig sein, auf übersetzte Angebote zu verzichten. Gewisse Angebote – wie etwa jenes der USA – dürften vor allem aus verhandlungstaktischer Sicht gemacht worden sein. Drittens gilt es, alle Bereiche gleichmässig voranzubringen. Es ist weder für die einen noch für die andern möglich, in sensiblen Bereichen nachzugeben, ohne zu wissen, was in den offensiven Bereichen geschieht. Wenn man im Agrarbereich weit gehen will, muss man also auch in der Industrie weit gehen. Das wurde in Hong Kong erkannt. So wurden erstmals seit dem Anfang der Doha-Runde in der Industrie Handelsbedingungen («Rules») verhandelt. Ein paralleles Vorwärtskommen in beiden Bereichen ist somit am einfachsten.

Die Volkswirtschaft: Die G10, der auch die Schweiz angehört, will verhindern, dass im Rahmen der WTO absolute Zollobergrenzen (tariff cap) eingeführt werden. Wie lange ist diese defensive Haltung in der Agrarpolitik realistisch?

Deiss: Ich bestreite, dass wir eine defensive Haltung haben. Die Länder, die mit uns die G10-Gruppe bilden, sind Agrar-Nettoimporteure. Das heisst nichts anderes, als dass unsere Agrarmärkte bereits heute sehr offen sind; sonst wäre die Schweiz ja nicht der wichtigste Importeur von Agrarprodukten pro Kopf. Wir haben also trotz der Tarifstrukturen eine Marktöffnung. Unsere Haltung ist insofern offensiv, als unser Angebot – auch innenpolitisch gesehen – sehr weit ging, etwa im Bereich der Exportsubventionen oder der internen Stützungen.

Die Volkswirtschaft: Trotzdem hat Economiesuisse das defensive Verhalten der Schweiz in Hong Kong bemängelt und für die Zukunft ein offensiveres Vorgehen in den WTO-Verhandlungen verlangt. Diese Forderung ist umso verständlicher, als Industrie und Dienstleistungen immerhin ganze 99% unserer Wertschöpfung umfassen.

Deiss: Ich habe mit den Vertretern von Economiesuisse am Rande der Verhandlungen in Hong Kong gesprochen. Wir haben keine grundlegenden Differenzen zu den Aussagen von Economiesuisse; das wurde auch von deren Seite bestätigt. Allerdings muss ich unsere nationalen Kritiker warnen. Wer etwas von Verhandlungen versteht, der weiss, dass man die eingebrachten Positionen nicht von Anfang an preisgibt und erwartet, dass die andern dann gleichziehen. Wir brauchen eine Gesamtsicht. Das ist auch im Sinne von Economiesuisse, die erwartet, dass im Industrie- und Dienstleistungsbereich namhafte Verbesserungen erzielt werden.

Die Volkswirtschaft: Ist es überhaupt möglich, den Interessen der Schweizer Wirtschaft gerecht zu werden, solange die Schutzmassnahmen im Agrarbereich eine derart hohe Priorität haben, wie dies bis heute der Fall ist?

Deiss: Wir kämpfen nicht für einen möglichst hohen Agrarschutz, sondern für ein möglichst ausgewogenes Resultat in allen Bereichen. Und bei der Landwirtschaft sind wir bereit, massgebliche Konzessionen zu machen. Ich weise darauf hin, dass die Agrarpolitik (AP) 2011, die gegenwärtig in der Vernehmlassung stark kritisiert wird, genau das beinhaltet, was wir in unserem Verhandlungsmandat hatten. Wir können in den Verhandlungen nicht etwas anbieten, was wir innenpolitisch nicht durchsetzen können. Nicht nur von den Landwirten werden wir diesbezüglich vorgewarnt, dass es gewisse Grenzen der Liberalisierung gibt.

Die Volkswirtschaft: Ist eine offensive Aussenwirtschaftspolitik unseres Landes, für welche der Bundesrat mit seiner Strategie eintritt, überhaupt realisierbar, wenn die Schweiz auch in Zukunft für einen hohen Agrarschutz kämpft?

Deiss: Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Position in den WTO-Verhandlungen und der Aussenwirtschaftsstrategie. Auf der weltweiten Ebene ist eine Marktöffnung im Rahmen der WTO eine der klaren Prioritäten der Aussenwirtschaftstrategie. Auf europäischer Ebene müssen wir einen Schritt weiter gehen, als dies in der WTO vorgesehen ist. Die EU ist unser wichtigster Handelspartner, und deshalb müssen unsere Beziehungen weiter vertieft werden. Die dritte Ebene betrifft unsere wichtigsten Handelspartner ausserhalb der EU, mit denen präferenzielle Handelsabkommen angestrebt werden, wenn möglich innerhalb der Efta.

Die Volkswirtschaft: Was sind aus Ihrer Sicht die Konsequenzen einer liberaleren Agrarpolitik für die Schweizer Landwirtschaft?

Deiss: Die AP 2011 wurde nach den Leitplanken des WTO-Verhandlungsmandates ausgearbeitet. Das beinhaltet den vollständigen Abbau der Agrarexportsubventionen sowie sehr bedeutende Konzessionen bezüglich der Inlandstützung und im Bereich der Zölle. Es ist davon auszugehen, dass dazu eine Restrukturierung der Landwirtschaft in etwas höherem Rhythmus als heute – d.h. von etwa 3% pro Jahr – notwendig ist. Die Kritiker finden das zu rasch; meiner Meinung nach ist es das Minimum, wenn wir bei der WTO mithalten wollen. Denn die Liberalisierung der Agrarmärkte in der WTO wird mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter gehen, als sie von unserer Seite her vorgesehen ist. Das würde bedeuten, dass wir unseren Massnahmen noch weitere hinzufügen müssten. Mittel- und langfristig bin ich überzeugt, dass unsere Landwirtschaft, unter neuen Strukturen, auch bei einer liberaleren Landwirtschaftspolitik die Ressourcen hat, international in weiten Bereichen konkurrenzfähig zu sein. Wir werden es beim Käse bereits im nächsten Jahr erfahren.

Die Volkswirtschaft: Ein Dossier, worüber in Hong Kong diskutiert wurde, waren Entwicklungsfragen. Wie werten Sie hier – aus Schweizer Sicht – das Erreichte?

Deiss: In den Entwicklungsfragen ist vor allem wichtig, dass es gelang, die Präferenzen einzubauen. Zudem wurden bei gewissen Produkten Fortschritte erzielt; ich denke etwa an Baumwolle oder an die Bananen. Sehr wichtig war auch, dass die Schweiz ihre positive Einstellung gegenüber den ärmsten Ländern der Welt kommunizieren konnte. Unsere Position wurde hier bisher sehr verzerrt wahrgenommen. Dank der Präferenzen, die wir in einer Kompromisslösung zum Durchbruch verholfen haben, konnten wir diesen Ländern glaubwürdig demonstrieren, dass wir die Doha-Runde auch als Entwicklungsrunde sehen. Allerdings gibt es eine grosse Gefahr, dass eine generelle Liberalisierung in der WTO zu Lasten der Entwicklungsländer geht. Die Entwicklungsländer verfügen heute über bedeutende Privilegien, welche nicht viel weiter ausgebaut werden können. Bei einer Liberalisierung würde hingegen hauptsächlich die Konkurrenzsituation der Transitions- und Schwellenländer verbessert; die ärmsten Länder könnten zu den Verlierern gehören. Entsprechend kam der Widerstand gegen die Festschreibung der Präferenzen denn auch in erster Linie von den Schwellenländern.

Die Volkswirtschaft: In Hong Kong konnte das definitive Scheitern der Doha-Runde abgewendet werden. Was kann die Schweiz tun, um 2006 zum Jahr der positiven Entwicklung in der Doha-Runde werden zu lassen?

Deiss: Realistischerweise muss man eingestehen, dass wir noch weit entfernt sind von einem Abschluss. Dazu sind grosse Anstrengungen erforderlich. Die Schweiz will hier ihren Beitrag leisten. Deshalb haben wir gleich zu Jahresbeginn zu einem informellen Ministertreffen nach Davos eingeladen. Ich hoffe, dass wir dort den Zeitplan für 2006 definieren können. Ein solcher Zeitplan wurde bereits für 2005 erarbeitet. Auch wenn dieser letztlich nicht ganz eingehalten werden konnte, wurde er doch als hilfreich erachtet. So wurde frühzeitig erkannt, dass Hong Kong in grosser Gefahr ist und letzten Herbst eine grosse Rettungsaktion gestartet. Im Vorfeld von Cancún hat man noch geglaubt, während der Verhandlungen die Lösungen zu finden. Es ist aber praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, die Interessen von 150 Ländern in einer Woche auf einen Nenner zu bringen. Dass Hong Kong wenigstens zu einem Teilerfolg geworden ist, hat nicht zuletzt mit den guten Vorarbeiten zu tun. 2006 wollen wir in Davos das Gleiche tun. Dies wird ein Beitrag der Schweiz sein.

Die Volkswirtschaft: Was ist für die Schweiz die strategische Bedeutung der WTO angesichts der heutigen Tendenz, der Trägheit dieser Organisation auszuweichen und auf die Karte Freihandelsabkommen zu setzen?

Deiss: Die WTO hat für die Schweiz weiterhin oberste Priorität. Wir sehen unsere Zukunft in einem weltweit organisierten, möglichst freien Handel. Deshalb setzen wir zuallererst auf diese Karte. Die Freihandelsabkommen sind dagegen ergänzende Instrumente. Im Rahmen der Freihandelsabkommen mit einer kleinen Anzahl von Partnern ist es möglich, weiter zu gehen als in der WTO und massgeschneidert noch etwas dazuzunehmen. Das ist nicht im Widerspruch, sondern in Ergänzung zur WTO. Um das jüngste Beispiel zu nehmen: Mit Südkorea bestehen keine konkurrierenden Interessen im Bereich der Landwirtschaft. Deshalb können wir in bestimmten Bereichen, wo die bilateralen Interessen gleich gelagert sind, weiter gehen. Falls jedoch die WTO versagen sollte, wird man sich auf Ersatzlösungen besinnen und die Freihandelsabkommen werden eine grössere Bedeutung erhalten. Aber ich warne all jene, die eine solche Lösung vorziehen, insbesondere im Bereich der Schwellen und Entwicklungsländer. Denn Freihandelsabkommen werden vor allem unter jenen getroffen, die bereits am Welthandel teilnehmen. Die Entwicklungsländer könnten dabei noch mehr ins Abseits geraten.

Die Volkswirtschaft: Herr Bundesrat, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Zitiervorschlag: Geli Spescha (2006). Interview mit Bundesrat Joseph Deiss: Sechste WTO-Ministerkonferenz in Hong Kong – wie weiter. Die Volkswirtschaft, 01. Februar.