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Risikoanalyse und Risikomanagement im Energiesektor

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Im folgenden Artikel werden die Energieprobleme sowie ihre sozioökonomischen und ökologischen Folgen aus der Risikoperspektive betrachtet. Zuerst beleuchtet er die Herausforderungen des Energiebereichs und deren Risikodimension. Anschliessend wird ein Risikokonzept mittels interdisziplinärer Synthese der verschiedenen Ansätze entworfen. Spezielles Augenmerk wird auf die Fragen der Diversifikation und der Flexibilität der Energieversorgung gelegt. Diese Probleme sind immer wieder Gegenstand von Kontroversen. Sie können aber konstruktiv angegangen werden, wenn man die eigene Meinung infrage zu stellen und diejenige der anderen zu respektieren bereit ist.

Was für Gesellschaft und Umwelt auf dem Spiel steht


Die Gesellschaft ist ohne Energie nicht vorstellbar. Energie ist sprichwörtlich das «Blut» der Wirtschaft. Ihre Bedeutung für Entwicklung, Wirtschaftswachstum und technischen Fortschritt wurde von zahlreichen Studien belegt. Der derzeitige Aufstieg grosser Entwicklungsländer zeigt dies erneut. Allerdings sind die Beziehungen zwischen Energieverbrauch, Wachstum und Entwicklung nicht deterministisch. José Goldemberg hält fest, dass «die Hypothese, wonach die Verbesserung des Wohlbefindens eine starke Erhöhung des Energieverbrauchs voraussetzt, nicht blind akzeptiert werden sollte». Für ein gleiches Niveau menschlicher Entwicklung kann es verschiedene Niveaus von Energieverbrauch geben. Diese Probleme sind also sehr differenziert zu betrachten. Selbstverständlich sollte der Umweltaspekt nie aus den Augen verloren werden, da er zu einem Grossteil mit Energie in Verbindung steht.

Energie und Risiko


Die Risikoanalyse bietet sich zur Untersuchung von Energieproblemen besonders an. Die erwähnte Bedeutung von Energie für Wachstum, Entwicklung und Umwelt kann verstanden werden als sozioökonomische und ökologische Risiken, welche durch Umwandlung und Verbrauch von Energie erzeugt werden. Dabei handelt es sich um Grossrisiken, deren Management äusserst komplexe Probleme beinhaltet. Mehrere Faktoren können die Energieversorgung beeinflussen: – natürliche Faktoren wie Ressourcenverfügbarkeit;  – technische Faktoren wie Infrastruktur (inklusive F&E);  – ökonomische Faktoren wie Preise, Marktorganisation oder makroökonomische Variablen;  – politische Faktoren wie Strategien von Regierungen und Pressure Groups;  – soziale Faktoren wie der Lebensstil, der den Verbrauch bedeutend beeinflusst, oder Oppositionsbewegungen gegen gewisse Projekte aus dem Energiebereich.   Die Nachrichten erinnern uns regelmässig an solche Risiken: – Infrastrukturzerstörungen durch Naturkatastrophen, die womöglich Folgen des Klimawandels sind;  – Stromausfälle, die auf veraltete Regulierungen zurückzuführen sind;  – Spannungen auf dem Erdölmarkt, welche die Preise in die Höhe treiben und das Wachstum bremsen.    Darüber hinaus hat seit dem 11. September 2001 das Risiko, das mit gewissen sensiblen Infrastrukturbauten verbunden wird, eine neue Dimension erhalten.

Risikoevaluation


Risiken müssen aus einem interdisziplinären Blickwinkel evaluiert werden. Die Synthese aus den Instrumenten der Risikoanalyse erlaubt die bessere Nutzung der konzeptionellen Vielfalt der verschiedenen Disziplinen. Darüber hinaus wird die Berücksichtigung der zahlreichen Risikofacetten möglich. Das Risiko bezeichnet den möglichen Eintritt eines Ereignisses mit potenziell negativen Folgen. Da meist verschiedene Risikotypen unterschieden werden können, ist eine Auswahl zu treffen und das relative Risiko zu untersuchen. Definiert wird das Risiko durch eine Gefahr und durch die Folgen, die deren Eintreten nach sich zieht. Die Gefahr stellt die Eintretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses dar. Sie wird durch ihre Art und – in gewissen Fällen – durch ihr Ausmass charakterisiert. Manche Gefahren sind nicht dem menschlichen Willen unterworfen; andere können auf verschiedene Arten beeinflusst werden. Das Eintreten eines gefährlichen Ereignisses wirkt sich aus auf die Risikoelemente – wie z.B. die Umwelt, Bevölkerung und Infrastruktur – sowie auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Beziehungen. Die möglichen Verluste dieser Risikoelemente können aufgrund ihrer Schadensanfälligkeit abgeschätzt werden. Möglich ist auch die Betrachtung der Kapazität oder Resistenz, d.h. der Fähigkeit der Risikoelemente, Schadensereignisse zu bewältigen. Diese Überlegungen können am Beispiel des Unfalls von Tschernobyl erläutert werden, dem eine technische und eine menschliche Gefahr zugrunde lagen. Die Anfälligkeit der Risikoelemente war erhöht wegen: – der Besonderheiten der Installation (Technik); – der Eigenschaften der ionisierenden Strahlung (Umwelt); – dem Zerfall der Sowjetunion und der darauf folgenden Krisen (Sozioökonomie); – dem sowjetischen Industrie- und insbesondere dem Energiemodell, das durch Zentralisierung, Ineffizienz und eine produktivistische Sichtweise geprägt war.    Die Kapazität zur Bewältigung des Unfalls war somit klein.

Einige Vertiefungen


Die Wechselwirkungen zwischen Anfälligkeit und Kapazität können Phänomene von «schöpferischer Zerstörung» erzeugen. So kann eine Katastrophe dank angemessenen sozioökonomischen Massnahmen zur Krisenbewältigung einen Fortschrittsfaktor darstellen. Vorstellbar ist auch die Situation, dass ein Mangel die F&E antreibt und zu einem technischen Durchbruch führt. Im Gegensatz dazu kann die Entdeckung von natürlichen Ressourcen negative Dynamiken erzeugen. In diesem Zusammenhang ist die bekannte «Dutch Disease»1 zu erwähnen, d.h. eine Desindustrialisierung, die durch die Entdeckung von Gas oder Erdöl eingeleitet wird. Ist das Eintreten eines Schadensereignisses mit einer grossen Anfälligkeit und einer kleinen Bewältigungskapazität verbunden, kann daraus eine Katastrophe mit ausserordentlich hohen Verlusten entstehen. Das Risiko ist eine komplexe Funktion aus Zeit und Raum. Ein Ereignis kann plötzlich oder verhältnismässig langsam eintreten. Es kann sich auf lokaler, regionaler oder globaler Ebene abspielen und kurz-, mitteloder langfristige Folgen zeitigen. Zudem können dadurch Instabilität und irreversible Schäden verursacht werden. In vielen Fällen ist das Ausgleichsmodell für die Untersuchung dieser Phänomene nicht geeignet. Um die Gefahr, die Verletzlichkeit und die Kapazität abzuschätzen, müssen die komplexen natürlichen, technischen, sozioökonomischen und politischen Systeme untersucht werden. Die Unsicherheiten sind dabei oft hoch. Ausserdem ist es unmöglich, einen einzigen, zusammengefassten Risikoindikator zu definieren und zu quantifizieren, der die überaus unterschiedlichen Phänomene, z.B. ökologischer, technischer und ökonomischer Art, berücksichtigen könnte. Bis heute kann eine umfassende Risikoevaluation nur mit einer qualitativen Annäherung durchgeführt werden.

Risikoeinstellungen


Von entscheidender Bedeutung ist die Haltung einer Person gegenüber dem Risiko und seinen Bestandteilen. Sie beeinflusst sowohl Entscheidungsträger, Experten wie auch die Öffentlichkeit, und zwar in Fällen, in denen man ein rationelles Verhalten annimmt, wie auch in jenen, in denen man das tatsächliche Verhalten der Person untersucht. Das Erwartungsnutzenmodell nimmt an, eine Person prüfe ein aleatorisches Problem: – auf Grundlage der mathematischen Erwartung des betrachteten Ereignisses; – ihrer Risikoeinstellung, die risikoavers, risikofreudig oder neutral sein kann.   Die «Prospect Theory» hingegen zeigt, dass das Verhalten einer Person von Emotionen, Erinnerungen und weiteren Faktoren beeinflusst wird, die ihren Entscheidungsprozess «einrahmen». Sie besagt konkret, dass Personen zur Überschätzung von kleinen Wahrscheinlichkeiten und zur Unterschätzung von mittleren und grossen Wahrscheinlichkeiten neigen (siehe Grafik 1). Der mit Verlusten verbundene Schaden ist grösser als der Nutzen, der mit Gewinnen derselben Grössenordnung verbunden ist (siehe Grafik 2). Die Personen sind nicht von Gewinnen oder Verlusten an sich betroffen, sondern von ihren relativen Unterschieden. Mit diesen Phänomenen, welche zur Überschätzung des Misserfolgs (Wahrscheinlichkeit und Schaden) und zur Unterschätzung des Erfolgs (Wahrscheinlichkeit und Nutzen) führen, lässt sich die Ablehnung gewisser Projekte aus dem Energiebereich – wie etwa von Lagern für radioaktive Abfälle – erklären. Daniel Kahneman und Amos Tversky halten fest, dass «sogar erfahrene Forscher dieser Art von Verzerrung unterworfen sind».

Risikomanagement


Das Risiko lässt sich mit Massnahmen reduzieren, welche die Eintretenswahrscheinlichkeit einer Gefahr verkleinern, die Verletzlichkeit vermindern oder die Kapazität vergrössern. Eine kleinere Verletzlichkeit und eine grössere Kapazität erlauben es insbesondere, die Existenz von Gefahren leichter zu ertragen. Das Risikomanagement – speziell die Versorgungssicherheitsforschung – ist für die Energiepolitik von entscheidender Bedeutung. Energieszenarien erlauben Ausblicke in die zukünftige Entwicklung und dienen – unter Berücksichtigung der ganzen Bandbreite der weiter oben erwähnten Risiken – als Basis zur Definition so genannt «befriedigender» Portefeuilles. Anders als etwa in der Mikroökonomie können hier keine «optimalen» Portefeuilles erstellt werden, da es in derart komplexen Situationen keine optimale Entscheidung gibt. Die Energieportefeuilles müssen ausgewogen sein. Es gilt, die Versorgung zu diversifizieren und die einseitige Abhängigkeit von einem Rohstoff, einer Technologie oder einem Lieferanten zu vermeiden. Die Korrelationen zwischen den verschiedenen Energieträgern – beispielsweise zwischen dem Preis von Gas und von Erdöl – müssen sorgfältig geprüft werden. Dabei darf man die Verzinsung von Investitionen, die mit den anderen Quellen des nationalen Einkommens negativ korreliert sind, nicht aus den Augen verlieren, da sie sich auszahlen, wenn die Konjunktur ungünstig ist, und auf diese Weise richtige Versicherungen darstellen. Darüber hinaus müssen die Portefeuilles flexibel sein. Im Rahmen des Möglichen gilt es die Wahl jeweils nach den sich bietenden Sicherheiten auszurichten. Dazu braucht es Strategien, d.h. Sets von bedingten Entscheidungen, welche die zu ergreifenden Massnahmen je nach den vorhandenen Umständen bestimmen. Oder wie es das Zitat von Ignacio Pérez-Arriaga und Julián Barquín auf den kurzen Nenner bringt: «Be flexible, eclectic but discriminating».

Rolle des Staates und des Marktes


Eine Planung des Energiesektors – verstanden als Bestandteil der Landesverteidigung – gehört immer mehr der Vergangenheit an. Heute setzt man zur Gewährleistung einer effizienten Energieversorgung im Rahmen der Branchenregulierung auf den Markt und die Konkurrenz. Entscheide werden dezentral von privaten und öffentlichen Unternehmen getroffen. Dazu gehört auch das Risikomanagement, das von der Einstellung der Entscheidungsträger, den erwarteten Kosten und Gewinnen, den Möglichkeiten der Quantifizierung usw. abhängt. Um die Entscheidungsträger und die breite Bevölkerung für die Beteiligung am Risikomanagement zu gewinnen (inklusive der Energieportefeuilles), sind Anreizmassnahmen, Massnahmen der «Lenkung und Kontrolle» sowie die Verbesserung der Information denkbar. Grundsätzlich haben Investoren eine Vorliebe für Projekte mit geringer Kapitalintensität, rascher Amortisation und verhältnismässig kleinen Risiken. Wenn sich aber die Wahl systematisch auf Einrichtungen mit diesen Eigenschaften – wie beispielsweise Gasturbinen – konzentriert, kann dies die Anstrengungen zur Versorgungsdiversifikation zunichte machen. Das Regulierungsrisiko kann zum selben Resultat führen, wenn sich z.B. ein Regulator durch die Änderung der Spielregeln einen Teil der Reserven der Investoren aneignet. Die Produzenten und die Konsumenten können hingegen mit einem für die Regulierung und den Markt geeigneten Konzept in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Der Emissionshandel oder die «grünen Märkte» sind dafür vorzügliche Beispiele. Von fundamentaler Bedeutung sind auch Anreizmechanismen zur Förderung der rationellen Energienutzung, da sie durch die Senkung der Energieintensität3 die Wirtschaftsentwicklung stützen. Konzessionen oder Lizenzen ermöglichen die Diversifikation mittels einer direkteren staatlichen Intervention, indem die Investitionen in gewisse Energieketten beschränkt werden. Unter Umständen kann auf eine Kette schlicht und einfach verzichtet werden, wenn die Behörden oder die Bürger aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher Risiken so entscheiden. Die Risikowahrnehmung kann durch Information beeinflusst werden, wobei man zuerst bereit sein muss, die Ansichten des Anderen zu respektieren. Das Ziel bleibt die Reduktion des Risikos durch Massnahmen, die auf die Gefahren, die Verletzlichkeit und die Kapazität einwirken.

Schlussfolgerung


Speziell bei Grossrisiken ist ein integrierter Ansatz bei der Betrachtung des Risikos zu wählen. Aus Analysesicht bedeutet dies, die Risiken in ihrer Gesamtschau zu erfassen; aus Sicht des Risikomanagements heisst es, die Probleme umfassend und unter Einbezug der involvierten Akteure anzugehen. Die interdisziplinäre Forschung muss in dieser Richtung weiterentwickelt werden. Insbesondere sind Analysekonzepte und -instrumente zu definieren, die auf die gesamte Problematik anwendbar sind. Die methodischen Schwierigkeiten, die auf die Komplexität und die Ungewissheiten sowie auf die Grenzen der Quantifizierung zurückzuführen sind, dürfen nicht unterschätzt werden. Dies ist im Energiebereich besonders wichtig, da die Zukunft Umwälzungen mit schwer vorhersehbaren sozioökonomischen Folgen bringen wird. Tatsächlich sind wir aufgrund des Weltwirtschaftswachstums und des Aufstiegs der asiatischen Länder mit dem Problem konfrontiert, dass die fossilen Energien dereinst zur Neige gehen werden und deren Verbrauch aufgrund des Klimawandels gar einmal eingefroren werden könnte. Es gilt also, sich einer breiten Palette von Risiken ökologischer, technischer, sozioökonomischer und politischer Art zu stellen.

Grafik 1 «Über-/Unterschätzung von Wahrscheinlichkeiten»

Grafik 2 «Mit Gewinnen oder Verlusten verbundener Nutzen/Schaden»

Kasten 1: Literatur – Kahneman D., Tversky A., «Prospect theory: An analysis of decision under risk», in: Econometrica Nr. 47, 1979, S. 263-291.- Romerio F., Risk analysis in the field of energy problems, Forschungsberichte des Cuepe Nr. 6, 2005, www.unige.ch/cuepe/html/biblio/pdf/RapRech_Risk .

Zitiervorschlag: Romerio, Franco (2006). Risikoanalyse und Risikomanagement im Energiesektor. Die Volkswirtschaft, 01. März.