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Der Kopenhagen-Prozess und die Schweiz

Der Kopenhagen-Prozess und die Schweiz

Bis ins Jahr 2010 soll die EU zum wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Dieses Ziel soll im Bildungsbereich einerseits mit der Umsetzung der Erklärung von Bologna zur Schaffung eines europäischen Hochschulraumes, andererseits im Berufsbildungsbereich durch den Kopenhagen-Prozess angestrebt werden. Die Schweiz beteiligt sich auf Expertenebene aktiv an diesem Prozess und hat bereits einige nationale Projekte dazu initiiert. Der folgende Beitrag erläutert die Zielsetzungen im Bereich der Berufsbildung und stellt Verfahren und Instrumente vor, welche im Rahmen dieses Prozesses seit rund vier Jahren in 32 Ländern Europas initiiert worden sind.

Der Kopenhagen-Prozess ist auf die Lissabonner Erklärung der EU zurückzuführen. Im Unterschied zum Bologna-Prozess geht es in der Berufsbildung um die Förderung der Durchlässigkeit, der Transparenz und der Mobilität. Ziel des Prozesses ist es, Verfahren und Instrumente der Koordination zu entwickeln, ohne dabei die nationalen Bildungssysteme vereinheitlichen zu müssen. Um die Ziele des Kopenhagen-Prozesses erreichen zu können, hat die EU eine Reihe von Instrumenten entwickelt. Das zentrale Instrument ist dabei die Entwicklung eines Europäischen Rahmens der Qualifikationen (European Qualifications Framework, EQF) mit acht Referenzniveaus. Dieser Rahmen soll alle Abschlüsse in einen nachvollziehbaren Zusammenhang bringen und die in den europäischen Ländern erwerbbaren Abschlüsse zueinander in Beziehung setzen.  Der EQF wird durch eine Reihe von gemeinsam vereinbarten Prinzipien ergänzt, wie zum Beispiel:  – die Anerkennung von Kompetenzen, die durch nicht formales Lernen (z.B. in Berufs- und Lebenspraxis) erworben wurden; – Qualitätssicherung der Bildung und der Verfahren für die Anerkennung von Qualifikationen; – Information und Beratung für Individuen, Bildungsanbieter und Organisationen der Arbeitswelt bei der Nutzung des EQF.   Damit der EQF seine Wirksamkeit erreichen kann, werden verschiedene weitere Instrumente entwickelt, die einzelnen Personen und den nationalen Bildungsorganisationen zur Verfügung stehen. Im Zentrum stehen dabei: – der nationale Rahmen der Qualifikationen (National Qualifications Framework, NQF); – branchenspezifische oder sektorielle Rahmen der Qualifikationen (auch bekannt als berufsfeldbezogene Referenzrahmen der Qualifikationen); – der Europass, welcher als standardisiertes Instrument die individuelle Darstellung von Qualifikationen erlaubt; – ein Kreditpunkte-Transfer-System, welches die Akkumulation und die Portabilität von Teilqualifikationen möglich macht (ECTS und ECVET).

Europäischer Rahmen der Qualifikationen


Der vorliegende Entwurf des EQF umfasst acht Referenzniveaus. Für jede dieser Stufen werden die Qualifikationen beschrieben. Mit diesen Niveaus sollen alle Bildungsabschlüsse – von der obligatorischen Schule über die berufliche und allgemeine Bildung der Sekundarstufe II bis hin zu den Titeln der gesamten Tertiärbildung – bezüglich ihrer Lernergebnisse transparent dargestellt werden können. Der EQF dient nicht der Anerkennung von einzelnen Bildungsabschlüssen, sondern dem Vergleich oder der Übersetzung von nationalen und branchenspezifischen Qualifikationsrahmen von einem Land ins andere. Alle Länder, die den EQF nutzen wollen, können ihre nationalen Qualifikationen mit den acht Niveaus des EQF vergleichen und diese darin positionieren. Auf dieser Basis soll die gegenseitige Anerkennung von Bildungsabschlüssen der teilnehmenden Länder erleichtert und den Inhaberinnen und Inhabern von solchen Abschlüssen eine verbesserte Mobilität in Bildung und auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Der EQF steht in der Tradition der angelsächsischen Bildungssystematik, welche weniger den Bildungsweg als vielmehr die sowohl durch formales als auch durch nicht formales Lernen erworbenen Kompetenzen ins Zentrum stellt. Für viele europäische Länder ist diese Sichtweise wenig vertraut, da dort für die Anerkennung von Bildungsabschlüssen eher die formalen Aspekte des Lernens, die Dauer, die Curricula und die Zulassungsbedingungen zu Bildungs- und Studiengängen im Vordergrund stehen. Für die Schweiz ist es deshalb von grösster Bedeutung, dafür zu sorgen, dass auch die Bildungsleistungen, welche durch die berufspraktische Bildung erworben wurden, angerechnet werden können. Die Vernehmlassung des Entwurfs zum EQF ist abgeschlossen. Die EU-Kommission wird voraussichtlich im Frühling 2006 die Ergebnisse dieser Konsultation bekannt geben und das weitere Vorgehen aufzeigen.

Nationaler Rahmen der Qualifikationen (NQF)


Wenn die Schweiz ihren Berufsleuten und Organisationen der Arbeitswelt zu besserer Durchlässigkeit, mehr Transparenz und Mobilität verhelfen will, so muss sie ihr Bildungssystem in einem nationalen Qualifikationsrahmen abbilden und beschreiben. Dafür müssen die einzelnen Abschlüsse bezüglich ihrer Lernergebnisse, d.h. ihrer Qualifikationen, darstellbar sein. Der NQF muss dafür in erster Linie eine angemessene Zahl von Niveaus eindeutig beschreiben können.  Die NQF der einzelnen Länder werden zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei werden nicht die jeweils spezifischen Ausweise und Diplome in die Anerkennung gebracht, sondern die nationalen Qualifikationsniveaus den acht Niveaus des EQF gegenüber gestellt. Die Entwicklung eines nationalen Qualifikationsrahmens steht in der Schweiz noch ganz am Anfang. Das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) wird den Prozess zusammen mit den Verbundpartnern der Berufsbildung im 2006 starten.

Branchenspezifische Qualifikationsrahmen


Die branchenoder berufsfeldspezifischen Qualifikationsrahmen (auch bekannt als Referenzrahmen der Kompetenzen) sind von grosser Bedeutung für die Positionierung der einzelnen Abschlüsse in einem nationalen Qualifikationsrahmen. Damit beschreiben die Branchenorganisationen – in enger Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern – die in einem Berufsfeld bekannten oder gewünschten Qualifikationen. Diese Verantwortung der Branchenverbände und der Sozialpartner hat in der Schweizer Berufsbildung eine lange Tradition, sei es bei der Erarbeitung von Verordnungen zur beruflichen Grundbildung oder von Prüfungsordnungen für die höhere Berufsbildung. Allerdings erfolgt die Definition der einzelnen Berufsbildungsabschlüsse nicht immer mit der Optik einer Gesamtsystematik in einem Berufsfeld, weshalb auf einem pragmatischen Weg eine Systematisierung anzustreben ist. Erste Projekte von branchenspezifischen Qualifikationsrahmen sind in der Schweiz bereits gestartet worden. Als Beispiele können das Berufsfeld Logistik, die Gesundheits- und Sozialberufe sowie Kommunikation und Marketing genannt werden.  In einzelnen Branchen gibt es bereits heute europäische Qualifikationsrahmen, bei denen Berufsverbände mehrerer europäischer Länder zusammengearbeitet haben. Das BBT beabsichtigt im Laufe des Jahres 2006 auf der Basis der Erfahrungen in den ersten Projekten die Herausgabe eines Leitfadens zur Gestaltung solcher nationaler Qualifikationsrahmen. Das BBT verspricht sich dadurch auch Impulse für die bessere Systematisierung der Berufsabschlüsse, was auch die durch das neue Berufsbildungsgesetz geforderte Transparenz im Inland fördern wird.

Anerkennung von nicht formal erworbenen Kompetenzen


Der Kopenhagen-Prozess unterstützt auch die Möglichkeit, durch nicht formales Lernen erworbene Qualifikationen anzuerkennen. Dies ermöglicht es den Lernenden, auf vielfältige und effiziente Weise durch entsprechende ergänzende Module zu einem formal anerkannten Abschluss zu gelangen. Diese Innovation ist insbesondere auch für Personen wichtig, die ohne formale Bildungsabschlüsse oder mit staatlich nicht anerkannten Bildungsabschlüssen im Arbeitsmarkt tätig sind. Für diese Arbeitskräfte besteht immer die Gefahr, aufgrund der fehlenden formalen Qualifikation bei einem Wechsel des Arbeitsortes keine neue Anstellung zu finden und den Zugang zu weiterführenden Bildungsangeboten nicht zu erhalten. Aber auch Personen, die in der Freiwilligenarbeit, der politischen Miliztätigkeit, in Berufs- und Familienleben bestimmte Kompetenzen erwerben, werden durch solche Verfahren unterstützt. So kann auch der Wiedereinstieg ins Berufsleben nach einem durch Familientätigkeit, Freiwilligenarbeit, Krankheit oder Unfall bedingten Erwerbsunterbruch erleichtert werden.  In der Schweiz gibt es bereits einige Erfahrungen mit den Verfahren zur Anerkennung von informell erworbenen Lernleistungen. So haben verschiedene Kantone der Romandie diese Verfahren bereits implementiert. Auf nationaler Ebene ist zurzeit ein grosses Projekt für die Anerkennung der Monopolberufe der Post im Gange, welches dazu dienen soll, die innerhalb des Monopolbetriebes Post erworbenen Qualifikationen auf schweizerischer Ebene formal anzuerkennen und so den Inhaberinnen und Inhabern dieser Abschlüsse bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen. Das BBT begleitet sämtliche Projekte und erarbeitet gegenwärtig gemeinsam mit den Partnern Qualitätsstandards für diese Verfahren.

Kreditpunkte-Transfer-Systeme ECTS und ECVET


Ein weiteres wichtiges Instrument, welches die Mobilität in Bildung und Beruf unterstützt, sind die Kreditpunkte-Transfer-Systeme. Kreditpunkte ermöglichen die Akkumulation von Teilqualifikationen über geografische und bildungssystematische Grenzen hinweg. Seit der Einführung des Bologna-Modells in der Schweiz sind die Kreditpunkte-Transfer-Systeme bekannter geworden. Für die Hochschulabschlüsse wurde im Rahmen des Bologna-Abkommens das European Credit Transfer System (ECTS) entwickelt. Dieses vergibt für einen durchschnittlichen Lernaufwand von 25 bis 30 Stunden einen Kreditpunkt. Für einen Bachelor-Abschluss sind mindestens 180 Kreditpunkte (entsprechen drei Vollzeit-Studienjahren), für einen Master-Abschluss nochmals 90 bis 120 Kreditpunkte nötig. Die Kreditpunkte können grundsätzlich von allen Hochschulen der Signatarstaaten vergeben werden. Jede Hochschule entscheidet aber selber darüber, welche Kreditpunkte sie in welchem Umfang an ein bestimmtes Studienprogramm anrechnet. Für die Bildungsabschlüsse der Berufsbildung hat die EU-Kommission im Herbst 2005 den Entwurf für ein European Credit Transfer System for Vocational Education and Training (ECVET) vorgestellt. Dieses bemisst die Kreditpunkte nicht nach dem durchschnittlichen Lernaufwand, sondern nach den nachgewiesenermassen erreichten Qualifikationen. Damit ist es möglich, auch für Kompetenzen, die in der beruflichen Praxis erworben wurden, Kreditpunkte zu vergeben. Somit ist dieses Transfersystem hervorragend für die duale Berufsbildung geeignet. Der Entwurf für ein ECVET-Modell der EU soll in der praktischen Anwendung getestet und dadurch verbessert werden. Das BBT beteiligt sich zusammen mit seinen Partnern an einem entsprechenden Projekt in der Grundbildung der Automobilbranche, welches im Jahr 2006 durchgeführt und ausgewertet werden soll. Bei den Transfersystemen geht es nicht um die Durchlässigkeit von einer Bildungsstufe oder von einem Qualifikationsniveau zum nächsten. Sie ermöglichen, innerhalb einer Qualifikationsstufe an verschiedenen Orten und bei unterschiedlichen Bildungsanbietern Kreditpunkte zu erwerben, sie zu akkumulieren und sich so den Zugang zu einem abschliessenden Qualifikationsverfahren, d.h. also zu einem formalen Abschluss zu erarbeiten. Mitteloder längerfristig will die EU-Kommission die beiden Transfersysteme zusammenführen, da sich Mobilität in Beruf und Bildung nur durch ein einheitliches System erreichen lässt.

Europass


Der Europass ist ein Instrument, das in erster Linie den Personen dient, welche innerhalb Europas über die Landesgrenzen hinweg mobil sein wollen. Sei es, um in einem anderen Land zu arbeiten oder einen weiterführenden Bildungsoder Studiengang zu absolvieren. Der Europass besteht aus einem Portfolio mit fünf standardisierten Instrumenten, welche eine einheitliche Darstellung der bisherigen Bildungs- und Berufskarriere ermöglichen:3 – Europass-Lebenslauf: Hierbei handelt es sich um ein Formular, welches durch die Benutzerinnen und Benutzer selber ausgefüllt werden kann. Es ermöglicht, die Qualifikationen standardisiert und transparent zur Geltung zu bringen. Durch die Standardisierung sollen Arbeitgebende in ganz Europa besser in der Lage sein, die Curriculum vitae zu lesen und zu verstehen. – Europass-Sprachenpass: Er bietet die Möglichkeit, die eigenen Sprachkenntnisse, die für das Lernen und Arbeiten in Europa unerlässlich sind, detailliert darzustellen.  – Europass-Mobilitätsnachweis: Dieses Dokument dient zur Erfassung eines jeden organisierten Zeitabschnitts (bezeichnet als Europass-Mobilitätsprojekt), den eine Person zu Lernoder Ausbildungszwecken in einem anderen europäischen Land verbringt. Dazu zählen beispielsweise Betriebspraktika, Studienabschnitte im Rahmen eines Austauschprogramms oder auch die ehrenamtliche Tätigkeit für eine Nichtregierungsorganisation (NGO). – Europass-Zeugniserläuterung: Diese wird Inhaberinnen und Inhabern eines beruflichen Abschlusszeugnisses ausgestellt. Sie stellt ergänzende Informationen zu den mit dem betreffenden beruflichen Abschlusszeugnis erreichten Qualifikationen bereit und erleichtert so insbesondere Arbeitgebern und Organisationen im Ausland eine solide Einschätzung des Originalabschlusses.  – Europass-Diplomzusatz: Dieser wird erfolgreichen Absolventinnen und Absolventen von tertiären Bildungsgängen ergänzend zu ihrem Originalabschlusszeugnis ausgestellt. Er trägt zur besseren Verständlichkeit der Hochschulabschlüsse insbesondere ausserhalb des jeweiligen Ausstellungslandes bei.    In der Schweiz sind erst wenige Elemente des Europasses eingeführt. So ist es beispielsweise möglich, für Hochschulabschlüsse an den Universitäten die entsprechenden Diplomzusätze zu erhalten. Die EDK fördert bereits heute die Verwendung des europäischen Sprachenportfolios.  Zur Koordination der Aktivitäten im Bereich der Hochschulen sowie der Volksschulbildung arbeitet das BBT mit der Erziehungsdirektorenkonferenz sowie dem Staatssekretariat für Bildung und Forschung zusammen.

Fazit


Angesichts der zahlreichen Akteure, welche in diese Verfahren involviert sind, wird es noch einige Jahre dauern, bis sich die Ziele des Kopenhagen-Prozesses umfassend verwirklichen lassen. Das BBT ist davon überzeugt, dass die Arbeit an den zahlreichen Teilprojekten nicht nur zur Zielerreichung der EU beiträgt, sondern dass daraus auch wesentliche Impulse für die Entwicklung des schweizerischen Berufsbildungssystems resultieren.

Grafik 1 «EQF als Mittel zur Übersetzung der nationalen Frameworks»

Zitiervorschlag: Martin Stalder (2006). Der Kopenhagen-Prozess und die Schweiz. Die Volkswirtschaft, 01. März.