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Ältere Arbeitnehmende: Von Japan lernen

Ältere Arbeitnehmende: Von Japan lernen

In Industriegesellschaften altern die Belegschaften. Trotzdem gibt es bislang wenig funktionierende Modelle zur effektiven Weiterbeschäftigung alternder Menschen. Existierende Angebote beschränken sich entweder auf Managementfunktionen oder werden von den angesprochenen Menschen nicht ausreichend genutzt. Ein Hauptgrund ist, dass Altern im Unternehmen einem Defizitmodell entspricht. Es wird gleichgesetzt mit steigenden Kosten und sinkender Produktivität – zwei Aussagen, welche sich mit Erfolg, Gewinn und Wachstum aus Unternehmenssicht nicht vereinbaren lassen. Dabei liesse sich das Defizitmodell «Altern» mit qualitativen Massnahmen in ein quantitatives Erfolgsmodell umwandeln.

Ushi Yoshima füllt in einem Lebensmittelladen Tüten mit Tomaten ab. Das wäre an sich nichts Besonderes. Doch Ushi ist 85 Jahre alt. In Japan ist es gang und gäbe, auch hochaltrige Menschen einzustellen. Derartiges ist in der Schweiz unüblich. Warum? Haben Unternehmen die demografische Chance nicht erkannt? Der vorliegende Artikel soll einige Vorurteile widerlegen.

Schwache Nutzung vorhandener Angebote


Auch in der Schweiz altert die Bevölkerung. Damit verschiebt sich das Verhältnis zwischen Beschäftigten und Rentnern. 1948 betrug es 9,5:1; heute sind es etwa 2,8:1 und im Jahr 2040 wird es bei 2:1 liegen. Die Erwerbsquote der über 50-Jährigen ist in der Schweiz im internationalen Vergleich mit 72,5% zwar vergleichsweise hoch. Dennoch hat in den letzten Jahren auch hierzulande der Trend zur Frühverrentung an Bedeutung gewonnen. Auch andere Modelle altersgerechten Arbeitens – wie Teilzeitarbeit oder altersangepasste Umorientierung – beginnen sich zu etablieren. Eine Studie belegt jedoch, dass zwischen den angebotenen Massnahmen und dem Grad ihrer Nutzung eine breite Kluft liegt (vgl. Tabelle 1). Vgl. Broszniewski, A., et al. (1997).  Woran liegt dies? Unternehmen sind primär an Wachstum und Gewinn interessiert. Wachstum enthält zumindest zwei unternehmensgesteuerte Elemente: Kosten und Produktivität. Beide Elemente korrelieren in der Meinung vieler Unternehmer negativ mit dem Alter. Sie gehen davon aus, dass Mitarbeitende mit dem Alter teurer werden bei gleichzeitiger Abnahme ihrer Produktivität. In doppelter Hinsicht gilt somit das Alter als Handicap, von dem man sich distanzieren muss. Dabei sind die gängigen Vorstellungen falsch, wie die folgenden Ausführungen zeigen.

Die Mär der steigenden Kosten


Ob die Kosten eines Mitarbeiters mit dem Alter steigen oder nicht, hängt ausschliesslich von der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen ab. Wer weiterhin Gehaltsmodelle einsetzt, welche auf Zugehörigkeit und Altersklassen basieren, sollte sich raschmöglichst nach altersunabhängigen Honorierungsmodellen umsehen. Wer eine Pensionskassenlösung hat, welche ältere Semester noch immer mit steigenden Prämien sanktioniert, dem ist dringend zu einer Neugestaltung der Vertragsbeziehung zu raten. Es gibt genügend Vorsorgeeinrichtungen, welche altersunabhängige Beitragssätze verwenden.  Schliesslich ist das absolute Gehalt nur ein Indikator für die Kosten eines Mitarbeitenden. Ältere Mitarbeitende verbleiben im Durchsschnitt länger im Unternehmen als jüngere. Ihre Einführungskosten – falls denn solche anfallen – lassen sich auf einen längeren Zeitraum umlegen. Dies kompensiert in den meisten Fällen die vielleicht auf den ersten Blick höheren absoluten Jahreskosten.

Produktivität als Vorurteil


Ein wissenschaftlicher Zusammenhang zwischen Produktivität und Altern ist nicht feststellbar. Während sich Kompetenzen wie etwa Urteilsfähigkeit und Qualitätsbewusstsein im Alter erhöhen, nehmen andere wie etwa körperliche Leistungsfähigkeit und die Risikobereitschaft ab, womit das gesamte Kompetenzspektrum eines Menschen in etwa im Gleichgewicht bleibt. Vgl. Bruggmann, M. (2000).  Die bis heute umfassendste Untersuchung zum Thema umfasst 33000 Unternehmen mit über 2 Mio. Arbeitnehmenden und erstreckt sich über einen Zeitraum von 1994 bis 2000. Vgl. Aubert, P. (2003). Die Studie kommt zum Schluss, dass die Produktivität ab dem 40. Lebensjahr langsamer zunimmt und ab dem 50. Altersjahr stagniert, keinesfalls jedoch abnimmt. Sie widerspricht klar der generellen Auffassung, dass mit dem Alter weniger geleistet wird. Mit zunehmender Qualifizierung – so die Studie – bleibt der Produktivitätszuwachs gar über das ganze Erwerbsleben hinaus erhalten.

Lösungsansätze für die Praxis


Die demografische Entwicklung ist also eine Chance. Es gibt verschiedene erprobte Lösungsansätze, wie Unternehmen diese Chance in der Praxis nutzen können. Gemäss unserer Erfahrung sind folgenden Ansätze zentral:

Qualitative Altersstrukturanalyse


Um vom Defizitmodell des Alterns in positiv besetzte Wertewelten zu gelangen, bedarf es oft eines konkreten Anstosses. Viele Unternehmer sind sich der Thematik zwar bewusst, können sie jedoch nicht in ihrer unternehmerischen Zahlenwelt abbilden. Aus diesem Grund empfiehlt sich eine qualitative Altersstrukturanalyse, welche die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf konkrete Zahlen wie Produktivität und Gewinn darstellen lässt. Solche Analysen sind zwar etwas aufwändig, dafür sind die Resultate umso eindrücklicher. In einem Detailhandelsunternehmen konnte aufgezeigt werden, dass mit einer Fortführung der bestehenden Frühverrentungsmassnahmen der Gewinn in den nächsten zehn Jahren um 25% sinken wird.

Aufgabendesign


Unternehmen sollten ihre Aufgaben mit den wandelnden Fähigkeiten ihrer Mitarbeitenden in Einklang bringen. So macht es wenig Sinn, jemanden an seiner Stelle als Abteilungsleiter zu belassen, wo er sich gestresst fühlt und zunehmend mit mangelnder Wertschätzung konfrontiert sieht, wenn er sich besser als Projektleiter einbringen könnte. Alternde Belegschaften verlangen nach einem neuen Aufgabendesign. Die Frage ist nicht mehr: «Was muss jemand alles können, um einer Aufgabe gerecht zu werden?», sondern: «Welche Aufgaben passen auf das sich verändernde Qualifikationsprofil?» Da kann es durchaus sein, dass alte Qualifikationen nicht mehr gefragt sind, dafür bislang nicht genutztes Potenzial für die Unternehmung von Nutzen sein kann. Systematisches Entlernen gehört zu einem demografieverträglichen Aufgabendesign. Und falls die neuen Tätigkeiten eben nur einen Teilzeiteinsatz erlauben, so ist dieser Tatsache Rechnung zu tragen.

Flexible Karriereformen


Ein neues Aufgabendesign verlangt nach neuen Karrieremustern, wie sie in den Köpfen der betroffenen Menschen noch kaum verankert sind. Heute erfolgt ein Karriereumstieg kaum je aus Initiative der betroffenen Person. Es bedarf eines Inputs der Linie und der Personalverantwortlichen, um mentale Barrieren und Ängste abzubauen. In einem offenen Karriereverständnis gilt ein Umstieg nicht als Rückschritt und Statusverlust, sondern schafft Lebensqualität. Die Botschaft wirkt meist Wunder. Sie kann jedoch nur dann fruchten, wenn neben der klassischen Linienkarriere Fach- und Projektkarrieren systematisch im Unternehmen gefördert werden.

Respekt vor Andersartigkeit


Menschen werden mit dem Alter nicht gleicher, sondern unterschiedlicher. Dies umfasst auch das individuelle Erfolgsverständnis, welches sich mit zunehmendem Alter von demjenigen junger Menschen entfernt. Während in jungen Jahren ein rascher Aufstieg wichtig erscheint, verlangsamt sich die Karrieredynamik mit dem Alter. Es gelten neue Ziele; das persönliche Umfeld wird wichtiger. Eine altersgerechte Unternehmenspolitik trägt dieser Tatsache Rechnung und schafft nicht Standards, sondern Freiräume, wie sie sich etwa in flexiblen Arbeits- und Gehaltsmodellen finden.

Fazit


Eine demografieverträgliche Unternehmenspolitik ist keine Neuerfindung der Zusammenarbeit, sondern ein Hinterfragen bestehender Klischees. Unternehmen haben ein vitales Interesse daran, die demografische Entwicklung als Chance und nicht als Bedrohung zu sehen. Vielleicht ist es ja dann auch in der Schweiz denkbar, dass jemand wie Ushi noch mit 85 Jahren voller Elan im Lebensmittelladen Tüten abfüllt.

Kasten 1: Literatur – Aubert P.: La situation des salariés âgés du secteur privé, document de travail du Département des études économiques d’ensemble, Insee, Paris, 2003.- Broszniewski, A., et al.: Alterspolitik schweizerischer Unternehmungen und ihr Beitrag zum Übergang vom Erwerbszum Rentnerleben und zur sozialen Integration betagter Erwachsener. Abschlussbericht zum Nationalfondsprojekt. St. Gallen/Zürich, 1997.- Bruggmann, M.: Die Erfahrung älterer Mitarbeiter als Ressource. Dissertation Universität Zürich, 2000. – Imbert, J.: Manager la carrière des seniors. Vers de nouvelles pratiques de GRH. Paris, 2005.

Zitiervorschlag: Michael Kres (2006). Ältere Arbeitnehmende: Von Japan lernen. Die Volkswirtschaft, 01. April.