Szenarien zum Detailhandel 2015 in der Schweiz
Die Studie «Detailhandel Schweiz 2015» stellt die Zukunft des Schweizer Detailhandels zur Diskussion. Mit einem zweigleisigen methodischen Konzept wurde der komplexen Aufgabe begegnet, die Entwicklung des schweizerischen Einzelhandelsmarktes für die kommenden zehn Jahre zu entwerfen. Zum einen wurden Einzelgespräche und Gruppendiskussionen mit Fachleuten aus der Schweiz, Europa und den USA durchgeführt. Dadurch konnten die Meinungen von hochkarätigen Praktikern und Experten aus den Bereichen Detailhandel, Konsumgüterindustrie, Beratung, Wissenschaft, angewandte Forschung und Politik gewonnen werden. Zum anderen wurden zwei je anderthalb Tage dauernde Workshops abgehalten.
Triebkräfte der Veränderung
In Experten-Workshops wurden zunächst die fundamentalen externen Triebkräfte der Veränderung identifiziert. Gemäss Experten werden folgende Entwicklungen bis 2015 die zentralen Faktoren für die Entwicklung des Detailhandels sein (vgl. Grafik 1): – Alterungsprozess der Schweizer Bevölkerung; – zunehmende Knappheit der Ressourcen, insbesondere von Erdöl; – wachsende Kluft zwischen den Einkommen von Arm und Reich; – zunehmende Verbreitung von Informations- und Vernetzungstechnologien auf Kundenseite und bei den Anbietern; – Liberalisierung, Globalisierung und wachsende internationale Wettbewerbsintensität in allen Bereichen. Bei der vertieften Betrachtung der einzelnen Triebkräfte sticht die sich öffnende Einkommensschere besonders heraus.
Demografischer Wandel am bedeutendsten
Als wichtigste Triebkraft wurde die demografische Alterung genannt. Die Alterung der westlichen Gesellschaften, die aufgrund kontinuierlich steigender Lebenserwartung bei gleichzeitig zurückgehenden Geburtenraten zustande kommt, hat weit reichende Auswirkungen. Dies zeigte sich beispielsweise in der ebenfalls genannten Problematik der zukünftigen Finanzierung der Sozialwerke, die unter den politischen Einflussfaktoren am zweithäufigsten genannt wurde. Im Gegensatz zum negativen Bild der demografischen Veränderungen unserer Gesellschaft, das derzeit in der Presse dominierend ist, schätzen die Workshop-Teilnehmer die Folgen dieser Veränderung als generell eher positiv ein. Eine wachsende Schicht wohlhabender Senioren stellt ein grosses Potenzial dar. Allerdings sind diese kaufkräftigen Konsumenten auch sehr anspruchsvoll und geben ihr Vermögen mehrheitlich für Dienstleistungen und Produkte aus, die jenseits des traditionellen Detailhandels liegen. Hier sind z.B. Sortimentsanpassungen und neue Dienstleistungsangebote von entscheidender Bedeutung.
Weitere wichtige Faktoren
Weitere wichtige Faktoren im politischen Bereich sind primär der fortschreitende Liberalisierungsprozess im Agrarsektor, die Veränderungen bei den technischen Normen sowie beim Standort Schweiz. Im Bereich der natürlichen Umwelt ist die zunehmende Knappheit erdölbasierter Rohstoffe die zentrale Triebkraft. Zudem wird mit weiteren Problemen im Lebensmittelbereich – wie BSE-, Nitrofen- und Hormonskandalen oder dem Vogelgrippevirus – gerechnet. Im technologischen Bereich dominiert die wachsende digitale Vernetzung die anderen Einflussfaktoren. Dies bedeutet transparentere Märkte für die Konsumenten und eine wachsende Bedrohung der stationären Läden durch die virtuellen Verkaufskanäle, insbesondere im Non-Food-Bereich. Ausserdem steht die Radio Frequency Identification (RFID) als potenzielle Nachfolge des Barcodes im Vordergrund. Bei anhaltenden Leistungssteigerungen dürfte der Einfluss von RFID in der Logistik und im Laden vor allem durch zunehmende Automatisierung und neue Selbstbedienungskonzepte enorm sein.
Vier Extremszenarien und ihre Entwicklungsdimensionen
Um die grundsätzlich unterschiedlichen Zukunftsperspektiven aufzuzeigen, wurden vier extreme Entwicklungen der globalen, nationalen und regionalen politischen Rahmenbedingungen beschrieben und die Workshop-Teilnehmer zur Interpretation und Abschätzung der Folgen dieser Szenarien für den Schweizer Detailhandel aufgefordert. Mit vier sich konträr und polarisierend ergänzenden Bildern der Welt im Jahre 2015 sollen die Möglichkeiten radikaler Entwicklungen aufgezeigt werden, die dann eintreten, wenn sich gewisse Rahmenbedingungen und Treiber besonders stark bemerkbar machen. Es ist davon auszugehen, dass in der Realität eine Mischform dieser extremen Szenarien eintreten wird. Die Geschichte lehrt uns, dass in der Regel dasjenige Szenario gerade nicht eintritt, das von den meisten als das Wahrscheinlichste bezeichnet wird. So wurde beispielsweise bei Shell nach dem zweiten Ölschock nur widerwillig ein Szenario für den Fall eines massiven Zusammenbruchs des Ölpreises entworfen; genau dieser Fall trat später jedoch ein. Als kleines exportorientiertes Land ist die Schweiz mehr als die meisten anderen Staaten von der Entwicklung der Weltwirtschaft insgesamt abhängig. Entsprechend wurden für den Zukunftsraum der vier Szenarien die Entwicklungsdimensionen «globale Führungsmacht» und «weltwirtschaftliches Wachstum» gewählt.
Globale Führungsmacht
Wer übernimmt die führende Funktion in der Welt in Bezug auf die Festlegung der Rollen in der internationalen Zusammenarbeit? Die Entwicklung kann in zwei grundsätzliche Richtungen laufen: Im Fall einer einzigen starken globalen Führungsmacht geben die internationalen Institutionen – wie die Welthandelsorganisation (WTO) und die UNO – den Ton an. Im Gegensatz dazu findet bei einer geringen globalen Führungsmacht die Ausarbeitung von Regeln für Kooperation und Austausch auf einer nationalen, regionalen oder überregionalen Ebene statt.
Weltwirtschaftliches Wachstum
Die weltwirtschaftliche Entwicklung ist eine Kerngrösse, die Konsum und Wohlstand bestimmt. Für die Schweiz ist sie angesichts der hohen Exportquote der schweizerischen Wirtschaft von rund 45% umso entscheidender.
Szenario 1: Reglobalisierung – volle Liberalisierung (Eintrittschance 26%)
Eine rasche Liberalisierung bringt eine schnellere Standardisierung und Internationalisierung sowie eine Zentralisierung des Angebots in den urbanen Räumen. Grösste Verlierer sind die Landwirtschaft, die in der Schweiz produzierende Industrie (auch Markenartikelhersteller) sowie die unabhängigen Händler in Kleinstädten und ländlichen Gegenden. Gewinner sind die stärksten internationalen Fachmärkte («Category Killers») sowie diejenigen Lebensmitteldetailhändler, die wie Category Killers funktionieren (Waldi = Fusion von Walmart mit Aldi). Migros und Coop schrumpfen; Denner gibt es nicht mehr; Manor zieht sich in die grossen Städte zurück. Das Handelsangebot ist effizienter und vergleichbarer. Die Atmosphäre bei den Grossanbietern ist kälter und kommerzieller. Merchandising und Layout sind einfacher. Es gibt auch viele Nischen, die blühen und neue Konzepte entstehen lassen. Für Unternehmer und Pioniere gibt es Raum. Der Handel ist generell mobiler, schneller und anpassungsfähiger. Die Kunden profitieren insbesondere von tiefen Preisen und einer grossen Angebotsvielfalt, die sich im europäischen Kontext angleichen.
Szenario 2: Pause – möglichst nichts ändern (Eintrittschance 6%)
Der Schweizer Detailhandel und die Zulieferer entziehen sich den Globalisierungsprozessen durch konsequente Abschottung. Die sinkenden Einkommen sowie der verstärkte Schutz der einheimischen Produzenten und Einzelhändler durch spezifische Regulierungen machen alle Anbieter schrittweise zu Verlierern im internationalen Umfeld. Die wirtschaftliche Entwicklung hat einschneidende Konsequenzen für den Schweizer Markt. Die Kaufkraft bricht enorm ein, was entsprechende Folgen auf die Struktur des Einzelhandels hat. Der grosse Einbruch des Umsatzes im Handel drückt die Investitionstätigkeiten auf ein Rekordtief. Ausländische Anbieter bleiben auch im Detailhandel aussen vor. Ausser in einigen profitableren Nischen im Premiumbereich dominiert der erstarkte Nationaldiscounter «Swenner» mehr und mehr den Markt, nachdem die deutschen Discounter im Jahr 2011 angesichts der protektionistischen Bestimmungen im Agrarsektor kapitulieren und sich aus dem Markt zurückziehen. Aldi beschränkt seine Aktivitäten in der Schweiz auf das Angebot von wöchentlichen Einkaufsbusreisen ins Ausland für weniger mobile Kunden. Unter der Einhaltung der zollfreien Menge ist dies die einzige Möglichkeit, um von den tiefen europäischen Preisen auch in der Schweiz zu profitieren.
Szenario 3: Achterbahn (Eintrittschance 13%)
Das Achterbahnszenario fährt die Schweiz mehr oder weniger kontinuierlich durch die stark schwankende Weltwirtschaft. «Swissness» als Marke für alles sowie Abgrenzung und Integration bestimmen auch die Handelslandschaft in der Schweiz. Die Politik des Rosinenpickens erfährt eine neue Blüte; je nach Situation wird der Vorteil in Integration oder Abschottung gesucht. Von einer klaren politischen Linie ist keine Rede. Vielmehr schwankt die Schweiz zwischen Selbstvertrauen und Selbstbehauptung auf der einen sowie Rückzug und Einkapselung auf der anderen Seite. Die Suche nach Stabilität im instabilen internationalen Umfeld ist noch intensiver und die «Verschweizerung» der Schweizer noch ausgeprägter. Sicherheit und Verlässlichkeit, Qualität und nationale Orientierung, Kleinheit und Überschaubarkeit kommen auch in den Marken zum Ausdruck. Der Mythos Heimat und Schweiz wird im Marketing stark gefördert. Trotzdem geniesst die Schweiz immer noch grosse internationale Sympathien und gilt im Ausland als Hort der Sicherheit. Die «virtuelle Falle» des Online-Einkaufens macht sich ausgeprägt bemerkbar. Während die einheimischen Anbieter unter den hohen Standortkosten leiden, können Online-Direktanbieter aus dem Ausland die Preise unterbieten. Ausser den klassischen Onlinehändlern wie Amazon sind besonders jene Anbieter, die ihre Rolle als Vernetzer von sozialen Gruppen herausstreichen – wie beispielsweise eBay -, von grosser Bedeutung. Grundsätzlich beginnt sich der Markt im Non-Food-Bereich einer Aufteilung in 50% virtuellem und 50% realem Markt anzunähern. Die Migros muss deutlich zurückstecken. Die 2011 gestartete Expansion ins Ausland ist auf gutem Weg; allerdings steht die Bewährungsprobe noch bevor. Insgesamt findet eine weitere Konsolidierung statt; Wirtschaftwachstum und Konsumausgaben sind gering. Da die Schweiz kein interessantes Ziel darstellt, ist auch der Einfluss ausländischer Anbieter klein; Polen ist entwicklungsfähiger. Migros und Manor bleiben, da typisch schweizerisch, weiterhin sehr beliebte Marken. Beide kämpfen aber mit eher ungünstigen Kostenstrukturen und müssen aufgrund des rückläufigen Gesamtumsatzes im Detailhandel restrukturieren. Heimmärkte und Do-it-yourself-Anbieter boomen; aber auch hier herrscht permanenter Kostendruck.
Szenario 4: Regio-Patterns (Eintrittschance 55%)
Dieses Szenario ist von Wirtschaftswachstum in einem regionalisiert integrierten Öffnungsprozess und wachsender Dominanz von China als Produktionszentrum für Güter und Indien als Dienstleistungsproduktionsstandort geprägt. Im Schweizer Detailhandel setzen sich vermehrt die internationalen Anbieter in Szene. Der Abbau von Handelsbarrieren in den grenzüberschreitenden Regionen transformiert den Detailhandel in diesen Gebieten. Die Aufhebung der Grenzhürde hat in einem ersten Schritt zur Folge, dass der klassische Einkaufstourismus aus der Schweiz in die Nachbarländer aufgrund der günstigen Preise massiv ansteigt. Gleichzeitig beginnt in den Grenzregionen ein kontinuierlicher Prozess der Angleichung bei Löhnen, Boden- und Mietkosten. Dies führt dazu, dass die Kosten und Preise der Anbieter auf der ausländischen Seite der Grenze sich nach oben bewegen, während sie auf Schweizer Seite sinken. Die schweizerische Detailhandelslandschaft wird rasch vielschichtiger. Erwartungsgemäss verlieren die beiden Grossverteiler in diesem Prozess in der Schweiz Marktanteile. Mit der nun erleichterten Expansion ins umliegende Ausland können diese Verluste teilweise wieder kompensiert werden. Coop investiert in einer immer kurzfristiger ausgerichteten Welt zu langfristig und besitzt wegen des stagnierenden Umsatzes viele schlecht rentierende Flächen, weshalb Coop 2011 in einer genossenschaftlichen Kooperation mit Rewe aufgeht. Coop kann sich ganz auf die Stärke im Biobereich konzentrieren und dieses Sortiment vermehrt im Ausland anbieten. Daneben gewinnen auch überregionale Kooperationen an Bedeutung. Im Vergleich mit den ausländischen Händlern sind die Schweizer Händler zwar kleine Spieler im Markt. Aber mit cleveren Strategien schaffen sie es, Nischensegmente im Bereich Qualitätsprodukte zu besetzen. Ein grosser Vorteil ist die langjährige Erfahrung in der mehrsprachigen Schweiz – ein Trumpf, der sich bei der Expansion über die Grenze auszahlt.
Gemeinsamkeiten zwischen den Szenarien
Die Folgen der einzelnen Szenarien unterscheiden sich deutlich. Doch gibt es auch Gemeinsamkeiten: Zum einen verändert der Siegeszug der digitalen Vernetzungstechnologien das Konsumverhalten nachhaltig. Das Modell eBay ist erst der Anfang des Bestrebens, Kunden(-gruppen) zu vernetzen und so neue Verbindungen zwischen realer und virtueller Welt zu schaffen. E-Commerce gehört bald zum allgemeinen Einkaufsverhalten. Darin waren sich alle Workshop-Teilnehmer einig. Folge davon ist die so genannte «virtuelle Falle»: Der Online Bereich stellt eine permanente Bedrohung und Konkurrenz der klassischen Detailhandelsangebote dar. Gerade im Non-Food-Bereich der neu entstehenden Fachmärkte hat dies enorme Wirkungen. Online-Händler können wesentlich flexibler reagieren als stationäre Läden mit ihren langen Bewilligungszyklen und hohen Investitionssummen.
Wahrscheinlichstes Szenario
Die Reise im Schweizer Detailhandel geht am wahrscheinlichsten in Richtung Öffnungsszenario mit wirtschaftlichem Wachstum. In allen vier Szenarien herrscht jedoch die Ansicht vor, dass die fetten Jahre vorbei sind. Die Menschen werden wohl als Konsumenten, Bürger und Arbeitnehmende den Gürtel tendenziell enger schnallen müssen. Unter dem Eindruck der globalisierten Märkte zieht sich dies durch alle vier Szenarien durch: Stagnierende Einkommen, mehr Steuern, längeres Arbeiten, permanentes Weiterbilden lautete der generelle Tenor bei den involvierten Experten. Wie die Handelslandschaft in zehn Jahren konkret aussehen könnte, hängt aber letztlich in erster Linie davon ab, ob Abschottung oder Öffnungsprozesse überwiegen werden. Unabhängig davon werden sich die Konsolidierungsprozesse der letzten Dekade weiter fortsetzen.
Grafik 1 «Die zehn wichtigsten Triebkräfte der Veränderung»
Kasten 1: Angaben zu Studie David Bosshart und Daniel Staib (2005): Detailhandel Schweiz 2015. GDI-Studie Nr. 23, in Zusammenarbeit mit Coop, Denner, Manor, Migros-Genossenschafts-Bund, Valora-Gruppe, Rewe Schweiz und Promarca. ISBN 3-7184-7031-4.Bestelladresse:Gottlieb Duttweiler InstitutLanghaldenstr. 21CH-8803 RüschlikonE-Mail: studien@gdi.chInternet: www.gdi.ch/studien
Zitiervorschlag: Bosshart, David; Staib, Daniel (2006). Szenarien zum Detailhandel 2015 in der Schweiz. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.