Ohne Industrie keine produzierende Landwirtschaft
Eine produzierende Landwirtschaft ist auf Verarbeitungskapazitäten – sprich: die Nahrungsmittelindustrie – angewiesen. Die schweizerische Nahrungsmittelindustrie mit ihren rund 80000 Arbeitsplätzen fordert Planungssicherheit und langfristige Perspektiven, EU-kompatible Rahmenbedingungen, Entwicklungspotenzial und Möglichkeiten zur Kostensenkung. Werden in diesen vier Anspruchskategorien nicht wesentliche Verbesserungen stattfinden, sind die inländischen Betriebe gegenüber ihren EU-Konkurrenten diskriminiert. Diskriminierungen führen mittelbis langfristig immer zu einem Abfluss von Investitionen, was verheerend wäre. In der AP 2011 wird zu wenig unternommen, damit die inländischen Betriebe ihre Konkurrenzfähigkeit erhalten und ausbauen können.
Migros-Industrie – verwurzelt im Schweizer Markt
Die Gruppe der Migros-Industrie besteht aus 13 Produktionsbetrieben im Nahrungsmittelbereich und 2 Produktionsbetrieben im Near-Food-Bereich. Im Jahr 2005 erzielten die 15 Betriebe insgesamt einen Umsatz von 4,5 Mrd. Franken. Ganze 93,5% der Produkte wurden in der Schweiz verkauft – allein 84% über die Läden der Migros. Der Rest im Umfang von 291 Mio. Franken ging an Kunden im Ausland (davon 186 Mio. Fr. Exporte im Food-Bereich). Die Migros-Industrie beschäftigte 2005 gegen 10000 Mitarbeitende, wovon rund 9300 im Nahrungsmittelbereich. Neben der Verbesserung der Produktivität wird der Fokus auf Produktinnovation immer wichtiger. Jährlich werden etwa 1450 neue Food-Artikel aus der Migros-Industrie ins Sortiment aufgenommen; der Umsatzanteil mit Innovationen in diesem Bereich beträgt beachtliche 9%. Innovationen sind nur mit einer aktiven Innovationspolitik möglich. Die Migros-Industrie tut dies mit jährlichen Investitionen in Anlagen und Gebäude in durchschnittlicher Höhe von 200 Mio. Franken. Die Migros ist weltweit einer der wenigen grossen Retailer mit einer eigenen bedeutenden Industrie im Bereich Food und Near Food. Dank dieser konsequenten Eigenmarkenpolitik hat die Migros das beste Preis-/Leistungs-Verhältnis erzielt, welches zum Erfolg der führenden Dachmarke Migros beigetragen hat. Die Migros-Industrie will auch in Zukunft mit Leistung, Innovation, tiefen Kosten und nachhaltigem Wirken ihre Marktstellung verbessern. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, braucht es Wachstum, damit von den «economies of scale» profitiert werden kann. Werke sind beispielsweise dreischichtig auszulasten. Wachstumspotenziale bestehen im Exportbereich und im Sektor Gastronomie. Viele Sektoren der Lebensmittelindustrie sind heute gesättigt und starken Strukturbereinigungsprozessen ausgesetzt. Es herrscht ein Verdrängungsmarkt mit intensivem Margendruck, obwohl die Kostenschere in den letzten Jahren grösser geworden ist (LSVA, Hygiene, Sonderregelungen Schweiz). Der globalisierte Handel mit fortschreitender Arbeitsteilung beschleunigt diese Entwicklungen. Als einzige Branche der Wertschöpfungskette ist die Nahrungsmittelindustrie nicht standortgebunden. Bei zunehmender Grenzöffnung müssen die Betriebe die Stärken und Chancen ihres Standortes im internationalen Wettbewerb ausspielen können. Für die Schweiz als Produktionsstandort sprechen auch in Zukunft folgende Faktoren: – das duale Bildungssystem mit gut ausgebildeten Berufsleuten; – flexibilisierte Arbeitszeiten in Unternehmen; – hochwertige Rohstoffe der Schweizer Landwirtschaft; – gutes Image für Schweizer Produkte.
Grosses Preissenkungspotenzial
Mittelfristig ist die inländische Nahrungsmittelindustrie auf EU-Rohstoffpreise angewiesen. Deshalb ist für sie die Öffnung der Produktmärkte zentral. Durch das Wegfallen des Grenzschutzes entstünde bei den Migros-Industriebetrieben ein Preissenkungspotenzial von rund 450 Mio. Franken, beim gesamtschweizerischen Detailhandel von 2,5-3 Mrd. Franken. Nebst dem Rohstoffhandicap sind die Betriebe der Nahrungsmittelbranche durch weitere wettbewerbsfeindliche Rahmenbedingungen benachteiligt. Im Zentrum stehen der Abbau von technischen Handelshemmnissen und die Zulassung von Parallelimporten. Staatliche Regulierungsmassnahmen sind in der Regel immer kostentreibend, wie z.B. Zollformalitäten, Bewilligungsverfahren, Bewirtschaftung von Importkontingenten. Mit der AP2011 droht die Chance verpasst zu werden, nachhaltige Reformen für inländische Betriebe durchzusetzen. Noch immer herrscht in Kreisen der Landwirtschaft die Meinung vor, für Agrarprodukte gebe es so etwas wie eine Abnahmegarantie. Dem ist nicht so. Für die Industrie haben die nächsten vier Jahre nämlich eine besondere Relevanz, weil ab dem Jahr 2012 die passive Veredelung liberalisiert wird. Damit sind für die Industrie die Grenzen quasi offen – inländische Rohstoffe können im angrenzenden Ausland veredelt werden.
Zitiervorschlag: Knuesel, Jakob (2006). Ohne Industrie keine produzierende Landwirtschaft. Die Volkswirtschaft, 01. September.