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Stillstand bedeutet Rückschritt – die Schweizer Landwirtschaft im Wandel

Unabhängig davon, ob sich die Frage eines Freihandelsabkommens im Agrarbereich mit der Europäischen Union (EU) schon bald konkret stellt oder nicht: Die Schweizer Landwirtschaft muss sich auf offene(re) Grenzen einstellen. Wer darin nur eine Bedrohung sieht und sich jeglichen Veränderungen zu verweigern versucht, wird in wenigen Jahren kaum auf der Gewinnerseite stehen. Die Schweizer Landwirtschaft hat ein grosses Potenzial. Dies zeigt sich etwa darin, dass gemäss «Konsumententrends 2006» beim Lebensmitteleinkauf das Merkmal der «Regionalität» die mit Abstand wichtigste Rolle spielt. Dieses Potenzial soll sie nutzen können. Wer von der Landwirtschaft aber günstigere Preise verlangt, muss auch dafür sorgen, dass die Kosten gesenkt werden.

Schere zwischen Produzenten- und Verkaufspreisen


Für verständliche Unzufriedenheit bei Bauern und Konsumenten sorgt die Tatsache, dass die Lebensmittelpreise seit 1990 um 14% zugenommen haben, während die Produzentenpreise im gleichen Zeitraum um 25% gesunken sind. Für diese «Schere» gibt es verschiedene Gründe. Dazu gehört die zunehmende Convenience bei Lebensmitteln ebenso wie die überdimensionierten «Einkaufspaläste» des Detailhandels. Das Augenmerk muss aber auch auf die vor- und nachgelagerten Bereiche in der Schweizer Landwirtschaft gelenkt werden. Gerade die erste Verarbeitungsstufe ist geprägt durch Überkapazitäten, teure Klein(st)-Strukturen und geringe Wettbewerbsintensität. Diese Situation trägt ebenso zur Verteuerung der Lebensmittel bei wie die Importmonopole und oligopolartige Strukturen in den vorgelagerten Stufen (Düngemittel, Saatgut, Tierarzneimittel, Geräte, Traktoren, etc.). Hier wird Geld abgeschöpft, das dem Bauern fehlt. Es ist deshalb richtig und im Sinne der Bundesverfassung, wenn mit der AP 2011 das Schwergewicht verstärkt auf die Direktzahlungen gelegt und mit dem Abbau der Marktstützungsmassnahmen der Wettbewerb in den vor- und nachgelagerten Bereichen intensiviert werden soll. Ein kostengünstigeres Umfeld bei der Beschaffung von Produktionsmitteln (Stichwort «Parallelimporte») und bei der Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten kommt sowohl den Bauern wie auch den Konsumenten zugute.

Mehrnutzen von Schweizer Produkten kommunizieren


Für die Kommunikation des Mehrnutzens von Schweizer Nahrungsmitteln sollte man sich in erster Priorität um die auswärtige Verpflegung kümmern. Dort wurde bis heute die Chance praktisch kaum genutzt, die Schweizer Qualitätsstrategie erlebbar zu machen. Anstatt Regionalität, Natürlichkeit und Tierwohl zum Verkaufsargument zu machen, verwenden Gastronomie, Kantinen, Grossküchen, Take away usw. lieber importierte Käfigeier und Billigst-Fleischimporte. Damit bleibt nicht nur ein Wertschöpfungs-, sondern auch ein Profilierungspotenzial ungenutzt – eine Situation, die für die Konsumenten ebenso unbefriedigend ist wie für die Schweizer Landwirtschaft. Investieren muss die Landwirtschaft aber ebenso in die Ökologie. Auch wenn die Fortschritte gross sind, gibt es im Reinheft der Landwirtschaft noch ein paar «Tolggen», die sich mit dem Verfassungsauftrag einer nachhaltigen Produktion und dem Schutz der Umwelt nicht vereinbaren lassen. Die Biodiversitäts-Ziele sind nicht erreicht. Die Belastung der Oberflächengewässer durch Phosphor und durch Pflanzenschutzmittel ist in bestimmten Gebieten nach wie vor beträchtlich. Im tierintensivsten Kanton Luzern hat der Schweinebestand seit 1996 um 10000 Grossvieheinheiten zugenommen. Handlungsbedarf besteht auch in der Anwendung von Antibiotika in der Nutztierhaltung. In der Landwirtschaft werden quantitativ mehr Antibiotika eingesetzt als in der Humanmedizin. Jede vierte Milchkuh wird einmal pro Jahr mit Antibiotika behandelt. Ausgeschiedene Antibiotika können in Gewässer geschwemmt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das Problem der Resistenzbildung als äusserst gravierend ein.

Verlässlichkeit im Wandel als Ziel


Auch wenn viele Bäuerinnen und Bauern einen Marschhalt verlangen: Der Markt bleibt nicht stehen, und in der Ökologie ist der Stillstand bereits ein Rückschritt. Die Politik muss für die Landwirtschaft aber verlässliche Rahmenbedingungen schaffen. Das bedeutet: Die Bäuerinnen und Bauern werden für ihre Leistungen zu Gunsten der Gemeinschaft abgegolten und sie sollen weiterhin qualitativ hoch stehende Nahrungsmittel produzieren, die sich im In-, aber auch im Ausland gut verkaufen lassen. Die Politik soll aber nicht vorschreiben, wie sich die Landwirte auf ihrem Hof zu organisieren haben. Der Strukturwandel kann nicht das Ziel der Landwirtschaftspolitik sein, sondern er ist allenfalls das Resultat, und dieses kann durchaus vielfältig sein, wie etwa das Leitbild Agrarwirtschaft der Beratenden Kommission Landwirtschaft (9.12.2004) zeigt: «Verlässlichkeit im Wandel», das muss das Motto der Schweizer Landwirtschaftspolitik sein.

Zitiervorschlag: Simonetta Sommaruga (2006). Stillstand bedeutet Rückschritt – die Schweizer Landwirtschaft im Wandel. Die Volkswirtschaft, 01. September.