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Evaluation der arbeitsmarktlichen Massnahmen: Grundlinien des zweiten Forschungsprogramms

Die öffentliche Stellenvermittlung in der Schweiz geniesst international einen ausgezeichneten Ruf. Gründe dafür sind die günstigen gesetzlichen Rahmenbedingungen, die engagierte und professionelle Arbeit der Vollzugsstellen sowie die wirkungsorientierte Steuerung des Systems. Ein langfristig wichtiger Erfolgsfaktor stellt auch die periodische Überprüfung durch unabhängige Experten dar. Hier spielt die Schweiz mit ihrem umfassenden, volkswirtschaftlich fundierten Ansatz, der deutlich über eine reine Wirkungsevaluation hinaus geht, eine Pionierrolle.

Warum ein Forschungsprogramm?


Die Tatsache, ob jemand Arbeit hat oder nicht, ist menschlich, sozial und wirtschaftlich sehr bedeutend. Phasen unfreiwilliger Inaktivität im erwerbsfähigen Alter sind in der Regel mit grosser Frustration und einem wirtschaftlichen Verlust für die Betroffenen verbunden. Aus diesem Grunde engagiert sich der Staat stark in der Arbeitsvermittlung und verpflichtet die Stellensuchenden, an Massnahmen teilzunehmen, die einen Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit beschleunigen sollen.  Das System der öffentlichen Stellenvermittlung und der arbeitsmarktlichen Massnahmen (AMM) ist sehr aufwändig. Deshalb muss sichergestellt werden, dass die Mittel sinnvoll und zielgerichtet eingesetzt werden. Im Evaluationsartikel der Bundesverfassung wird denn auch verlangt, dass die Massnahmen des Bundes auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.

Erste Welle der Evaluation


In einer «erste Welle» wurde 2000/2001 eine breit angelegte Evaluation der AMM und der betrieblichen Leistungen der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) vorgenommen. Obwohl diese mit grosser Umsicht durchgeführt wurde, konnten nicht alle Zweifel an der Validität der Ergebnisse ausgeräumt werden. Dafür gab es drei hauptsächliche Gründe: – Erstens lag die Einführung aktiver Massnahmen zur Wiedereingliederung der Stellensuchenden erst kurze Zeit zurück. Zuerst mussten Erfahrungen gemacht und schrittweise Verbesserungen eingeführt werden, bis sich die ganze Organisation eingespielt hatte. Die Evaluation dieses im Fluss befindlichen Systems war infolgedessen vergleichbar mit der Visierung eines beweglichen Ziels.  – Zweitens wurde ein reiner Vergleich des Mitteleinsatzes und der daraus resultierenden Ergebnisse vorgenommen. Über die Wirkungszusammenhänge wurde nichts ausgesagt. Damit entfiel auch die Möglichkeit einer Aussage darüber, mit welchen Massnahmen die Wirkung hätte verbessert werden können. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Evaluierten mit den Resultaten nicht viel anfangen konnten. Teilweise wurde auch die mangelnde Praxisnähe moniert.  – Drittens beschränkte sich die Evaluation auf den Erfolg bei der Wiedereingliederung, gemessen an den Kriterien der wirkungsorientierten Vereinbarung (vgl.

Kasten 1
Die Vereinbarung regelt die Zusammenarbeit zwischen Bund (EVD und Ausgleichsstelle) und Kantonen beim Vollzug der Art. 85 Abs. 1 und Art. 85b Avig. Sie stützt sich auf Artikel 92 Absatz 7 Avig, Artikel 122a und 122b Aviv, die «Verordnung über die Entschädigung der Kantone für den Vollzug des Arbeitslosenversicherungsgesetzes» (Vollzugskostenentschädigung, VKE) vom 1. Januar 2002 des EVD sowie bezüglich der öffentlichen Arbeitsvermittlung auf die Artikel 24, 26-28 AVG.Diese Vereinbarung geht vom Grundsatz der wirkungsorientierten Steuerung aus. Sie nennt die anzustrebenden Ziele und Wirkungen des Avig-Vollzugs, formuliert den Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen und unterstützt einen wirksamen Vollzug. und Tabelle 1). Diese Kriterien fokussieren sehr stark auf dem Wiedereingliederungserfolg, was aus der Sicht der Stellenvermittlung an sich richtig ist. Weitere Auswirkungen, welche die Situation des Stellensuchenden verbessern, werden dagegen ausgeblendet. Diese sollten im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung auch in die Beurteilung der Massnahmen einfliessen.

Stossrichtungen der zweiten Welle


Die äusseren Voraussetzungen für die Durchführung einer vertieften Evaluation waren 2003 gegeben. Das System der öffentlichen Arbeitsvermittlung hatte die Kinderkrankheiten überwunden sowie an Stabilität und Effizienz gewonnen. In der Zwischenzeit hatte sich auch eine breitere Datenbasis angesammelt, welche die Anwendung aussagekräftigerer Methoden ermöglichte. Und schliesslich hatte man seit der Einführung des Systems ungefähr einen ganzen Konjunkturzyklus durchlaufen.  Der Willensbildungsprozess für die «zweite Welle» wurde als zentral erachtet, weil die Mängelanalyse der ersten Welle der Evaluationen Vgl. Zürcher, Boris und Monica Curti, Die gesamtschweizerische Evaluation der aktiven Arbeitsmarktpolitik, in: «Die Volkswirtschaft» 4-2000, S. 6-10. zeigte, dass zum Teil an den bestehenden Bedürfnissen vorbei evaluiert worden war. Folglich setzte man sich in der zweiten Welle zum Ziel, jeweils möglichst frühzeitig alle interessierten Gruppen in den Planungsprozess einzubeziehen. Der diesbezügliche Meilenstein war eine Tagung des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) im Jahr 2002 mit den Vertretern aller kantonalen Arbeitsämter. Aufgabe der Tagung war es, eine ehrliche Beurteilung der ersten Welle vorzunehmen und anschliessend die wichtigsten thematischen und konzeptionellen Eckpunkte der zweiten Welle zu bestimmen. Weiter konkretisiert wurden die Fragestellungen 2003 an einer Tagung unter dem Motto «Forscher treffen Praktiker». Forschergruppen aus der Schweiz diskutierten mit den für die Umsetzung der Stellenvermittlung und der AMM verantwortlichen Personen sowie mit Vertretern der Bundesverwaltung zur Frage, welche Themenfelder in der zweiten Welle prioritär behandelt werden sollten. Aus diesen umfangreichen Abklärungen wurden vier Evaluationslose herausgearbeitet.

Los 1: Optimierung der betrieblichen Prozesse


Welche Optimierungsmöglichkeiten bei den betrieblichen Prozessen bestehen im Hinblick auf eine weitere Verbesserung der Wirkungen der Stellenvermittlung und der arbeitsmarktlichen Massnahmen?  Das erste Los nimmt die Hauptkritik an der ersten Welle der Evaluationen der schweizerischen Arbeitsmarktpolitik auf. Zwar sei die Wirksamkeit von betrieblichen Tätigkeiten der RAV und AMM valide überprüft worden; die Evaluationen schwiegen jedoch zur für die Praxis entscheidenden Frage, wie die kantonalen Amtsstellen – gegeben ihr wirtschaftliches und arbeitsmarktliches Umfeld – die Wirksamkeit der Vermittlungstätigkeit verbessern könnten.  Dies war denn auch für die Verwaltungspraxis die interessanteste Fragestellung. Sie erfordert zudem die technisch-methodisch mit Abstand anspruchsvollste Art der Evaluation. Um angesichts dieser Umstände eine Zweitmeinung zu erhalten, wurden innerhalb dieses Loses zwei Offerten akzeptiert. Die realisierten Projekte unterscheiden sich in der Methode grundlegend: Einerseits kam eine neue mikroökonometrische, andererseits eine bewährte regressionsanalytische Analyse zur Anwendung. So ist gewährleistet, dass die Resultate möglichst breit abgestützt sind.

Los 2: Wirkungen auf die Gesamtwirtschaft


Welche makroökonomischen Wirkungen hat die Arbeitsmarktpolitik? Für eine möglichst breite politische Akzeptanz ist es langfristig von entscheidender Bedeutung aufzuzeigen, dass nicht nur die Vermittlungseffizienz dank der RAV-Tätigkeit und der AMM gesteigert werden kann (Los 1), sondern auch, ob diese Bemühungen insgesamt zu einer spürbaren Reduktion der Arbeitslosigkeit führen. Bildlich gesprochen stellt sich die Frage, ob ein Vermittlungserfolg dazu führt, dass anderswo ein anderer Arbeitnehmer die Stelle verliert, oder ob sich durch eine erfolgreiche Vermittlung die Beschäftigung erhöhen oder die strukturelle Arbeitslosigkeit verringern lässt. Hier sind grundsätzlich zwei Perspektiven unterscheidbar:  – Selbst wenn das Wirtschaftswachstum nicht vom Vermittlungserfolg beeinflusst würde, könnte eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik zu einer höheren Beschäftigung und zu einer niedrigeren Arbeitslosenquote führen, indem der vorhandene Spielraum für die Schaffung von Arbeitsplätzen voll ausgenützt würde (Verringerung der strukturellen Arbeitslosigkeit). – Alternativ stellt sich auch die Frage, inwieweit es gelingen kann, dank einer möglichst klugen Arbeitsmarktpolitik ein höheres gesamtwirtschaftliches Wachstum zu unterstützen.   Angesichts der Bedeutung dieser Fragestellungen wurden auch hier zwei Offerten realisiert. Den beiden Studien liegen Konzeptionen zugrunde, die über weite Strecken komplementär sind, sodass das Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet wird.

Los 3: Nebeneffekte


Hat die Arbeitsmarktpolitik – nebst positiven – auch mögliche negative Nebeneffekte, die unvermeidlich anfallen? Obwohl sich die öffentliche Arbeitsvermittlung gemäss dem Gesetz auf eine «rasche und nachhaltige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt» zu konzentrieren hat, ist mit der Messung der entsprechenden Wirkungen wahrscheinlich noch nicht der gesamte gesellschaftliche Nutzen der Arbeitsmarktpolitik erfasst. Allerdings müssen dann auch potenziell negative Nebeneffekte in Rechnung gestellt werden, wie z.B. die Förderung einer «Fürsorgementalität» oder einer «Anspruchshaltung» gegenüber dem Staat sowie die eventuelle Verringerung des Anreizes, möglichst rasch einen neuen Job zu finden.  Das dritte Los untersucht deshalb «psycho-soziale Nebenwirkungen der Arbeitsmarktpolitik». Eine Abschätzung der quantitativen Bedeutung solcher Effekte ist ebenfalls von hohem politischem Interesse, weil entsprechende Erkenntnisse wertvolle Hinweise über die Arbeitsmarktpolitik hinaus liefern.

Los 4: Organisatorische Umsetzungsprobleme


Welche organisatorischen Umsetzungsprobleme gibt es in der Praxis? Der Fokus bei Los 4 ist eher betriebswirtschaftlich ausgerichtet und soll zur Bewältigung an sich unnötiger betriebsinterner Probleme beitragen. Es geht darum, den Einfluss der Betriebskultur besser zu verstehen und Reibungsverluste zu erfassen, die z.B. durch falsche oder fehlende Anreizwirkungen entstehen. Um solche Fragen zu beantworten, fasste man Analysen guter Praxis und Fallstudien für typische Problemlagen ins Auge. Aus beiden Ansätzen ergeben sich Erkenntnisse, wie die institutionellen Rahmenbedingungen zu verbessern sind.

Ausschreibung und Vergabe


Die Ausschreibung erfolgte nach dem WTO-Verfahren und lief bis Ende September 2003. Es trafen 18 Offerten ein. Aus dem Ausland (Belgien, Niederlande, Deutschland) wurden von verschiedenen Interessenten die Unterlagen angefordert. Trotz der Bemühungen um möglichst grosse Transparenz waren zur grossen Enttäuschung der Projektleitung keine Offerten aus der Westschweiz oder dem Ausland darunter. Laut den WTO-Vorgaben war es leider nicht möglich, nachträglich noch die entsprechenden Institute direkt anzugehen. Die eingegangenen Offerten wurden von einer Seco-internen Arbeitsgruppe aufgrund der folgenden fünf Kriterien bewertet:  – gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema (20%); – mindestens einer der drei Zwecke der zweiten Welle erfüllt (20%); – Beherrschung des methodisch-statistischen Rüstzeugs (20%); – Beherrschung des theoretischen Rüstzeugs (20%); – Abschätzung des Preis-Leistungs-Verhältnisses (20%).  Aufgrund der Anträge dieser Arbeitsgruppe beschloss die Aufsichtskommission am 26. Januar 2004, sechs Studien zu realisieren (vgl. Tabelle 2).

Durchführung der Studien


Die Studien wurden zwischen 2004 und 2006 realisiert. Jeder Auftragnehmer wurde durch eine Begleitgruppe aus Vertretern des Seco, der Kantone, der Sozialpartner und des Verbands Schweizerischer Arbeitsämter (VSAA) betreut. Dank des grossen Einsatzes – insbesondere der Seco-externen Arbeitsgruppenmitglieder und der Auftragnehmer – haben die Begleitgruppensitzungen zu einer sehr effizienten Auseinandersetzung mit den Fragestellungen und den Ergebnissen geführt.  Eine der Studien konnte nicht gleichzeitig mit den andern fertiggestellt werden. Es handelt sich um die Studie von Infras/SIAW: «Der Einfluss betrieblicher Prozesse auf die Effektivität arbeitsmarktlicher Massnahmen». Der Grund lag in der komplexen Datenbeschaffung, die für diese Studie notwendig war und bundesintern zu einer Verzögerung führte, welche der Auftragnehmer nicht mehr einholen konnte. Diese Studie wird in der Dezember-Ausgabe des Magazins «Die Volkswirtschaft» vorgestellt. Gleichzeitig mit den Evaluationsstudien konnte auch die Studie zur Situation der Ausgesteuerten fertiggestellt werden. Sie passt gut in das vorliegende Monatsthema, da sie sich nicht auf den engen Begriff des Vermittlungserfolges beschränkt, sondern die gesamte soziale und menschliche Dimension der Arbeitslosigkeit beschreibt.

Ein Wort zu den Resultaten


Wie bereits erwähnt, kam im Forschungsprogramm eine Modellvielfalt zur Anwendung, um zu robusten Aussagen zu gelangen, die nicht durch die Besonderheiten einer bestimmten Methode dominiert werden. Dieses Vorgehen war insofern riskant, als dadurch Widersprüche hätten entstehen können, welche die Aussagen der Analysen kompromittiert hätten. Glücklicherweise ist dies nicht der Fall. Die Studien weisen – trotz der unterschiedlichen Ansätze – eine weit gehende Übereinstimmung in den wichtigsten Punkten auf. Dies stärkt das Vertrauen in die Resultate. Es gibt ebenfalls eine hohe Übereinstimmung der Resultate mit volkwirtschaftlichen Evaluationen im Ausland. Das wird vor allem bei der Umsetzung der kontroversen Resultate von Nutzen sein. Für Kurse konnten beispielsweise auch im Ausland keine oder gar eher negative Wirkungen bezüglich einer schnellen Wiedereingliederung nachgewiesen werden.  Die Umsetzung der Ergebnisse liegt auf der Hand. Das Seco und die kantonalen Vollzugsstellen werden in einem ersten Schritt die in den Studien aufgezeigten Effizienzpotenziale auswerten und Strategien entwickeln, um diese auszunützen. Die Studien behandeln auch Themenkreise, die über die reine Stellenvermittlung und AMM hinausgehen, namentlich etwa die Thesen der Studie des Büro Bass oder die Problematik des lebenslangen Lernens. Mit der Veröffentlichung der Studien werden diese Ergebnisse für die Politik allgemein nutzbar gemacht.

Tabelle 1 «Messung der Wirkungen von Indikatoren»

Tabelle 2 «Die realisierten Projekte»

Kasten 1: Wirkungsorientierte Vereinbarung
Die Vereinbarung regelt die Zusammenarbeit zwischen Bund (EVD und Ausgleichsstelle) und Kantonen beim Vollzug der Art. 85 Abs. 1 und Art. 85b Avig. Sie stützt sich auf Artikel 92 Absatz 7 Avig, Artikel 122a und 122b Aviv, die «Verordnung über die Entschädigung der Kantone für den Vollzug des Arbeitslosenversicherungsgesetzes» (Vollzugskostenentschädigung, VKE) vom 1. Januar 2002 des EVD sowie bezüglich der öffentlichen Arbeitsvermittlung auf die Artikel 24, 26-28 AVG.Diese Vereinbarung geht vom Grundsatz der wirkungsorientierten Steuerung aus. Sie nennt die anzustrebenden Ziele und Wirkungen des Avig-Vollzugs, formuliert den Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen und unterstützt einen wirksamen Vollzug.

Kasten 2: Umsetzung der Ergebnisse
In der vorliegenden Nummer des Magazins «Die Volkswirtschaft» werden die Studien ausführlich dargestellt. Eine Schlussfolgerung seitens des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) und der kantonalen Vollzugsstellen steht noch aus, weil die Auswertung der aufgezeigten Effizienzpotenziale und die Entwicklung der entsprechenden Strategien einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Die diesbezüglichen Arbeiten wurden bereits an die Hand genommen und sollen in der ersten Hälfte des Jahres 2007 abgeschlossen und kommuniziert werden.

Zitiervorschlag: Werner Aeberhardt, Thomas Ragni, (2006). Evaluation der arbeitsmarktlichen Massnahmen: Grundlinien des zweiten Forschungsprogramms. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.