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«Den Faktor Mensch vermehrt ins Zentrum rücken»:Im Gespräch mit Bundesrätin Doris Leuthard

«Den Faktor Mensch vermehrt ins Zentrum rücken»:Im Gespräch mit Bundesrätin Doris Leuthard

Seit Anfang August ist die neue Vorsteherin des Eidg. Volkswirtschaftsdepartements (EVD), Bundesrätin Doris Leuthard, im Amt. Im Gespräch mit dem Magazin «Die Volkswirtschaft» äussert Sie sich zu ihrem Amtsantritt, ihren wirtschaftspolitischen Zielen und den anstehenden Geschäften.

Die Volkswirtschaft: Frau Bundesrätin Doris Leuthard, wie leicht war der Rollenwechsel von ihren bisherigen beruflichen Rollen zur Bundesrätin und Volkwirtschaftsministerin? Wie fühlen Sie sich in Ihrer neuen Aufgabe? Leuthard: Ich fühle mich wohl – alles andere wäre ja auch nicht gut (lacht). Im Ernst: Der Wechsel in den Bundesrat bedeutete einen grossen Einschnitt. Ich musste zum Beispiel die Anwaltskanzlei auflösen und mit den Klienten alle Dossiers abschliessen. Diesen Rollenwechsel muss man erst bewerkstelligen. Erleichtert wurde mir der Wechsel dadurch, dass ich im Eidg. Volkswirtschaftsdepartement (EVD) auf eine motivierte Crew gestossen bin. Ich habe mir am Anfang Zeit genommen, das Departement kennen zu lernen. Denn es war mir wichtig zu sehen, welches die Leute sind, die konkret mit den jeweiligen Themen beschäftigt sind. Das hat mir sehr geholfen bei der Einarbeitung in die schwierigen Dossiers.    Die Volkswirtschaft: Jeder Bundesrat bzw. jede Bundesrätin setzt eigene Akzente. Wo ist – gegenüber Ihrem Vorgänger – bei Ihnen mit Kontinuität und wo mit neuen Akzenten zu rechnen? Leuthard: Es ist noch sehr früh, um wirklich sagen zu können: Das sind meine Akzente. Bei einer Reihe von Geschäften ist Kontinuität angesagt, zum Beispiel in der Agrarpolitik 2011, die ich so zu vertreten habe, wie sie vom Bundesrat überwiesen wurde, aber auch bei der Umsetzung des Wachstumspakets. Akzente setzen kann und werde ich vorerst im Binnenmarktbereich, einerseits mit dem Cassis-de-Dijon-Prinzip und anderseits dem Abbau der administrativen Hürden. Letzteres war mir bereits vor meiner Wahl zur Bundesrätin besonders wichtig.  Mein hauptsächliches Anliegen aber ist es, den Faktor Mensch vermehrt ins Zentrum zu rücken. Schliesslich geht es in der Ökonomie ja nicht nur um makroökonomische Grössen. Deshalb lege ich besonderen Wert auf Forschung, Bildung und Innovation, aber auch auf die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, die Unterstützung der älteren Bevölkerung und die Anliegen der Frauen.   Die Volkswirtschaft: Die Schweizer Wirtschaft befindet sich gegenwärtig in ausgezeichneter Form. Gleichzeitig treiben Sie die Wachstumspolitik voran. Ist das überhaupt noch nötig? Leuthard: Die Schweiz hat tatsächlich seit letztem Jahr positive Wirtschaftszahlen zu verzeichnen. Dieses Jahr dürften wir wohl mit einem Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 2,7% rechnen. Für nächstes und übernächstes Jahr erwarten wir jedoch bereits wieder eine Abschwächung des Wachstums. Wenn wir die Wachstumspolitik nicht weiterführen, dann riskieren wir, dass sowohl die Steuereinnahmen wie auch die Einnahmen für die Sozialversicherungen zurückgehen. Deshalb ist Wachstumspolitik immer auch die beste Sozialpolitik. Nachhaltiges Wachstum muss auch im Licht des globalen Wettbewerbs das erste Ziel sein, damit wir unseren jetzigen Wohlstand halten können und wir keine Marktanteile an andere Länder verlieren.    Die Volkswirtschaft: Greifen wir ein Dossier heraus, mit dem Sie sich beschäftigen und in den Medien zitiert wurden, nämlich die Vorlage Cassis-de-Dijon. Die entsprechende Schlagzeile in den Medien lautete: «Leuthard macht Dampf»: Warum wollen Sie beim Abbau technischer Handelshemmnisse Dampf machen? Leuthard: Weil ich davon überzeugt bin, dass es Hindernisse gibt, die insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) preistreibend sind und weder einen Nutzen noch eine Qualitätsverbesserung bringen. Solche Vorschriften gehören abgeschafft. Hier gilt es, die Hochpreisinsel Schweiz zu schleifen, damit sich das Preisniveau an das Niveau der EU angleicht. Ich bin auch überzeugt, dass die einseitige Einführung verantwortbar ist. Wir können dadurch viel Zeit gewinnen. Zudem sind die Vorschriften in vielen Bereichen schon harmonisiert. In den wenigen Bereichen, wo wirklich Diskriminierungen für die Schweizer Produzenten entstehen, wird der Bundesrat bemüht sein, für geeignete Auffangmechanismen zu sorgen.    Die Volkswirtschaft: Im Augenblick wird wild darüber spekuliert, mit wie vielen Ausnahmen vom Cassis-de-Dijon-Prinzip zu rechnen sein wird. Leuthard: Ich möchte mich zwar nicht auf eine Zahl festlegen; doch allzu viele Ausnahmen dürfen es nicht sein, weil sonst das Prinzip verwässert wird. Es darf und muss jedoch gewisse Ausnahmen geben – speziell im Bereich der Gesundheits- und Umweltpolitik, wo wir höhere Standards haben. Dies kann auch eine Marktchance für Schweizer Unternehmen sein, die sich bewusst im Premium-Quality-Segment positionieren.    Die Volkswirtschaft: Die Reduktion der Ausnahmen erweist sich als eine grosse Herausforderung. Weshalb ist dies so schwierig? Liegt das Problem in der Verwaltung? Leuthard: Widerstand kommt von verschiedenen Seiten. Ein Beispiel sind die Kantonschemiker, die einen Teil ihrer Zuständigkeit verlieren. Dafür habe ich ein gewisses Verständnis. Doch schlussendlich kommt es auf das Resultat an. Ein weiterer Grund sind die komplizierten technischen Vorschriften, die auch ein Ausdruck des «Swiss Finish» sind, also der überperfekten Art der schweizerischen Umsetzung. Es gilt zunächst die grossen Linien zu finden, anstatt uns bereits von vornherein in den Detailfragen zu verlieren. Das scheint mittlerweile in der Verwaltung auch klar zu sein.    Die Volkswirtschaft: Die erste grosse Vorlage, die Sie vor dem Parlament zu vertreten haben werden, ist die AP 2011, die Weiterentwicklung der Agrarpolitik für die Jahre 2008 bis 2011. Was sind für Sie die wichtigsten Argumente, mit denen Sie das Parlament – angesichts des nun fehlenden Reformdrucks seitens der WTO – vom Reformtempo der AP 2011 überzeugen wollen? Leuthard: Bereits seit einigen Jahren stellen wir die Landwirtschaftspolitik um. Gemäss Verfassungsauftrag wollen wir von einem Subventionierungssystem von Produkten wegkommen zu einem System mit Direktzahlungen, in dem die gemeinwirtschaftlichen Leistungen der produzierenden Bauern abgegolten werden. In diesem Rahmen ist es wichtig, die Marktstützungen noch weiter abzubauen und zu Direktzahlungen zu verlagern. Das entspricht einem marktgerechteren System, das den Bauern mehr Freiheiten gibt, was und wie sie produzieren, und sich vermehrt nach den Bedürfnissen der Konsumierenden richtet. Diese Stossrichtung ist sicher richtig. Die zweite Frage ist diejenige des Tempos. Hier hat der Bundesrat nichts anderes getan, als das bisherige Reformtempo beizubehalten, d.h. mit einer Quote von rund 2,5% Betrieben weniger jährlich resp. Einkommenseinbussen in dieser Höhe. Diese Geschwindigkeit trägt dem Generationenwechsel Rechnung. Es geht also um Kontinuität mit einer kleinen Richtungsänderung. Wenn wir in der Schweiz eine produzierende Landwirtschaft wollen, dann brauchen wir diese Strukturreform. Es braucht sie im Hinblick auf zukünftige Marktöffnungen – sei es innerhalb der WTO oder mit einem allfälligen EU-Agrarfreihandel. Da der Preisdruck auf die Schweiz weitergehen wird, ist es gescheiter, diese Reform jetzt durchzuziehen, als zu warten und das Tempo zu verlangsamen. Denn die aufgeschobenen Reformen werden immer einschneidender werden, je länger wir damit zuwarten. Und von den Reformen profitieren letztlich Produzenten und Konsumenten – mit geringeren Kosten und Preisen. Die Volkswirtschaft: Überzeugungsarbeit leisten müssen Sie auch bei der Vorlage zum Rahmenkredit für Bildung, Forschung und Innovation für die Jahre 2008-2011 (BFI 2011) – und da bereits im Bundesrat. Sie möchten, dass die Ausgaben des Bundes um jährlich 6% und nicht – wie im Finanzplan vorgesehen – nur um 4,5% erhöht werden. Warum wollen Sie die deutliche Erhöhung des Kreditrahmens? Leuthard: Auch der Bundesrat ist ja für eine Erhöhung. Die 4,5% bedeuten einen substanziellen Mehrbetrag. Mir geht es vor allem um drei Dinge. Erstens: Im internationalen Standortwettbewerb verfügen wir nicht über Öloder Gasreserven. Unsere Ressource ist wissensorientiert. Wir müssen also darum bemüht sein, weltweit die Topleute in der Forschung oder in der Wirtschaft hervorzubringen, damit wir an Innovation und Produktivität weiterhin einen Vorsprung haben. Zweitens: Im Rahmen des Berufsbildungs- und Fachhochschulgesetzes wurden Versprechungen gegenüber den Kantonen abgegeben, dass der Bund seine Beteiligung in diesen beiden Bereichen erhöhen werde. Es geht also darum, Wort zu halten. Drittens: Im Bereich der Berufsbildung haben wir neue Aufgaben, die Mehrkosten verursachen. Wir wollen für die schulisch Schwächeren Module einführen, die jeden und jede befähigen, eine Grundausbildung zu absolvieren. Bei den Fachhochschulen (FH) und in der Berufsbildung kommt neu der Bereich Gesundheit, Soziales und Kunst (GSK) hinzu; ausserdem führte die Einführung von Bologna zu einer Verlängerung der Ausbildungszeiten. Schliesslich wollen wir jene Bereiche aufdotieren, von denen wir denken, dass sie wirtschaftsrelevant sind. Das sind einerseits die KTI und andererseits die Grundlagenforschung über den Nationalfonds oder die Universitäten/ETH. Es braucht diese Investitionen, damit wir unseren Standortvorteil erhalten können.

Die Volkswirtschaft: Die Befürworter des moderateren Wachstum von 4,5% argumentieren mit den knappen Bundesfinanzen sowie bald sinkenden Schüler- und Studentenzahlen in der Schweiz. Beides «einsichtige» Argumente… Leuthard: Im Moment haben wir noch steigende Schüler- und Studentenzahlen. Im Fachhochschulbereich werden es rund 5000 mehr sein; auch in der Berufsausbildung ist die Tendenz noch steigend, bei heute 211 000 Berufsschülerinnen und -schülern. Eine Abnahme wird erst einsetzen, wenn die «Baby-Boom-Jahre» vorbei sind, und das betrifft die Periode nach 2011. Insofern ist der Zeitrahmen, für welchen dieser Kredit zu sprechen ist, von einer Zunahme betroffen – nicht zuletzt auch wegen der stattfindenden Öffnung zum Ausland, was einen zusätzlichen Bedarf an Unterstützung mit sich bringt.   Die Volkswirtschaft: Die EU strebt mit dem Kopenhagen-Prozess in der Berufsbildung eine verstärkte Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten an. Sie will – analog dem Bologna-Prozess – bis 2009 einen europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) in Kraft setzen. Soll sich die Schweiz an diesem Prozess beteiligen?  Leuthard: Im Kopenhagen-Prozess geht es um die gegenseitige Anerkennung – auch um eine gewisse Justierung – der Berufsausbildungen. Die Schweiz ist als Nicht-EU-Mitglied zwar nicht direkt involviert; aber wir wurden von der EU eingeladen, unser duales System zu präsentieren. Wir stellen fest, dass dieses System innerhalb der EU auf sehr grossen Goodwill stösst. Für uns ist es wichtig, eine Anerkennung der Berufsausbildungen zu erhalten und kompatible Systeme zu haben, weil das für die Mobilität unserer Arbeitskräfte notwendig ist. Wir sind also in einer guten Beziehung zum Kopenhagen-Prozess. Ich hatte vor kurzem ein Gespräch mit dem zuständigen EU-Bildungskommissar, Jan Figel, in dem er uns zu den entscheidenden Gesprächen auf Ministerebene eingeladen hat. Das ist eine gute Gelegenheit, unsere Erfahrungen einzubringen.   Die Volkswirtschaft: Am 26. November wird das Schweizer Volk über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas (Bundesgesetz Ostzusammenarbeit) entscheiden. Bei einem Ja leistet die Schweiz einen Erweiterungsbeitrag zu Gunsten der neuen EU-Staaten. Warum soll das Schweizer Volk der Vorlage zustimmen? Leuthard: Weil es eine gute Investition in unsere Zukunft ist. In diesem Gesetz geht es um zwei Engagements: Erstens geht es um die Fortsetzung der bisherigen, traditionellen Osthilfe an die Länder des ehemaligen Ostblocks. Diese ehemals kommunistischen Staaten sollen sich mit dieser so genannten Transitionshilfe zu demokratischen und sozialen Gesellschaften sowie offenen Märkten entwickeln können.  Zweitens geht es um den Erweiterungsbeitrag in der Höhe von 1 Mrd. Franken, welcher über einen Zeitraum von zehn Jahren ausgegeben wird. Dieser Beitrag stellt eine echte Investition dar. Wir investieren in sichere Beziehungen zur EU, die unser mit Abstand wichtigster Wirtschaftspartner ist. Als Beitrag zur Lastenteilung in Europa schafft er auch den nötigen Goodwill seitens der EU für unseren bilateralen Weg. Wir investieren zudem in boomende Märkte, in denen die Schweiz einen Handelsbilanzüberschuss aufweist. Schliesslich kommt der Türöffner-Effekt hinzu. Die EU hat gewaltige Fonds, die jetzt für diese Länder offen stehen. Unsere Unternehmen können sich daran beteiligen und Aufträge erhalten. Deren Chancen verbessern sich, wenn Schweizer Firmen im Rahmen unserer Ostzusammenarbeit in diesen Regionen bereits aktiv und sichtbar sind. Dieses Europa hat sehr viel an Stabilität in diese Region gebracht, was wirtschaftlich enorm wichtig ist. Deshalb empfinde ich es auch als Akt der Solidarität, einen Beitrag an die Sicherung der Stabilität zu leisten.   Die Volkswirtschaft: Scharfzüngige Journalisten und Politiker behaupten, aus dem ehemals schlanken Handels- und Zolldepartement sei – zum Schaden der Wirtschaft – im Laufe der Jahrzehnte die Interventionsmaschine EVD geworden, die es auszumisten und zu entrümpeln gelte. Was ist hier Ihre Haltung? Wie wollen Sie die Wirtschaft vom «Interventionsstaat» befreien? Leuthard: Gewisse Journalisten sagen ja sogar, es brauche das EVD gar nicht mehr. Man müsste sich also entscheiden, ob es interventionistisch oder überflüssig ist… Im Ernst: Die Kultur innerhalb des EVD ist nicht interventionistisch. Wir sind generell Anhänger einer freien Marktwirtschaft, wo der Staat nur interveniert und reglementiert wo nötig. Das sieht man am besten im Kartellrecht, wo sich der Staat nur in der Aufsicht des frei funktionierenden Marktes übt. Auch beim Schwarzarbeitsgesetz wird es so sein. Unsere Rolle ist nur noch die des Wächters über das Funktionieren des Wettbewerbs. Wir versuchen immer, mehr Wettbewerb einzubringen. Oft sind es eher die am Markt Beteiligten, die nicht jede Reform begrüssen und für die Wettbewerb eher ein Schreckgespenst ist, weil damit mehr Anstrengungen verbunden sind. Das ist im Bereich der Landwirtschaft etwas anderes. Dort bestehen allerdings vom Gesetz her viel mehr Aufgaben im Vollzug. Und auch im Bereich der Fachhochschulen und Berufsbildung haben wir Steuerungselemente. Aber in den anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik kann man uns den Vorwurf des Interventionismus sicher nicht machen.   Die Volkswirtschaft: Wirtschaftspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Entsprechend gibt es eine Reihe von wirtschaftspolitischen Dossiers, für die andere Departementsvorsteher zuständig sind. Welche Dossiers oder Schwerpunkte halten Sie für besonders wichtig? Oder wo gedenken Sie sich aus wirtschaftspolitischer Sicht besonders engagiert einzubringen? Leuthard: In der Tat sind viele Themen für die Volkswirtschaft von grosser Relevanz. Dazu zählen die Energiefragen, der im Entstehen begriffene Gesundheitsmarkt, die Fragen rund um das Steuerrecht und die demografische Entwicklung. Das EVD als Kompetenzzentrum zu volkswirtschaftlichen Fragen sollte eine Meinung dazu entwickeln und die anderen Departemente, die operativ zuständig und in den technischen Fragen kompetent sind, unterstützen. Wir können die ökonomischen Hintergründe liefern, damit die Ausarbeitung von Reformen in einem grösseren wirtschaftlichen Zusammenhang gesehen wird.   Die Volkswirtschaft: Frau Bundesrätin, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Gesprächsleitung und Redaktion: Geli Spescha, Chefredaktor «Die Volkswirtschaft» Aufzeichnung des Gesprächs: Simon Dällenbach, Redaktor «Die Volkswirtschaft»

Kasten 1: Bundesrätin Doris Leuthard zur WTO und Aussenwirtschaftsstrategie
Die Volkswirtschaft: Die WTO steckt seit geraumer Zeit – und spätestens seit der Sistierung der Doha-Runde – in einer Krise. Wie kann Ihrer Ansicht nach die WTO-Runde neu lanciert werden? Etwa mit einer Ausklammerung des Agrarbereichs?Leuthard: Der Agrarbereich war Bestandteil des Mandats der Doha-Verhandlungen. Deshalb ist es kaum möglich, diesen Bereich aus dem Verhandlungspaket herauszutrennen. Es ist vor allem im Interesse der Entwicklungsländer, dass die Industrieländer ihnen den Zugang zu Industriebereichen gewähren und die Agrarmärkte für sie öffnen. Das halte ich für ein «must». Die Frage ist, wie das gemacht werden soll. Hier sind die USA mit ihrer Vorgabe von 90% Zollsenkungen über das Ziel hinausgeschossen. Dies ist für kleine Agrarmärkte völlig undenkbar. Im Moment braucht es also auf Seiten der USA ein Überdenken ihrer Position, und auch die EU müsste sich bewegen. Die Schweiz wird nie auch nur annähernd mit den grossen Agrarexporteuren Schritt halten können und sich deshalb im Grossen und Ganzen an der Position der EU orientieren. Dieses Spannungsfeld wird weiterbestehen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die USA bewegen werden; dann könnten auch wir über weitere Konzessionen nachdenken.Die Volkswirtschaft: Frau Bundesrätin, was sind die aussenwirtschaftlichen Schwerpunkte, die Sie setzen werden?Leuthard: Zuerst ist es sicher wichtig, dass wir innerhalb der WTO alles dafür tun, damit die Doha-Runde weitergeführt werden kann. Für die Schweiz ist die multilaterale Ebene immer noch vorrangig. Wenn nur noch auf bilateraler Ebene operiert wird, kommt es zum Wettstreit der verschiedenen regionalen Märkte. Auf globaler Ebene sollten möglichst einheitliche Regulative und Tarife herrschen. Ob das gelingt, hängt indes nicht nur von uns ab. Nichtsdestotrotz werden wir versuchen, kreativ als Brückenbauer zwischen den grossen Playern aufzutreten.Daneben steht für uns der Abschluss von weiteren Freihandelsabkommen im Rahmen der Efta im Vordergrund. Hier haben wir Abkommen mit Kanada und Ägypten in Aussicht. Und schliesslich streben wir mit der EU, unserem wichtigsten Handelspartner, weitere bilaterale Verträge an, vorrangig im Agrarsektor und im Strom-/Energiebereich.

Zitiervorschlag: Geli Spescha (2006). «Den Faktor Mensch vermehrt ins Zentrum rücken»:Im Gespräch mit Bundesrätin Doris Leuthard. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.