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EU-Finanzbinnenmarkt: Zielsetzung und Fortschritte

Die EU-Kommission lancierte 1999 einen Aktionsplan mit dem Ziel, die Schaffung eines funktionierenden und wettbewerbsfähigen EU-Finanzbinnenmarktes weiter voranzutreiben. Das materiell und zeitlich anspruchsvolle Programm gilt heute als praktisch abgeschlossen. Über die konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen ist aufgrund des kurzen Zeithorizonts noch wenig bekannt. Am meisten Defizite bestehen indes noch im Binnen-Retailmarkt. Im 2005 veröffentlichten Weissbuch zur Finanzdienstleistungspolitik 2005-2010 legte die EU-Kommission das Schwergewicht auf die «dynamische Konsolidierung des Erreichten».

Die Stellung der Europäischen Union (EU) als Marktteilnehmer auf dem globalen Finanzmarkt ist vergleichbar mit jener der USA. Je nach Marktsegment variiert der EU-Anteil am globalen Finanzgeschäft zwischen 20% und 40%. Banken und Versicherungen erwirtschaften EU-weit 6% des Bruttoinlandproduktes (BIP) und sind für 2,5% der Gesamtbeschäftigung verantwortlich. Angesichts der grossen Bedeutung der Finanzdienstleistungen vermag es nicht weiter zu erstaunen, dass der EU nach der Vollendung der Zollunion den Aufbau eines «Gemeinsamen Marktes» für Finanzdienstleistungen vorantreiben wollte. Trotz Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit war es jedoch über all die Jahre nicht zu einem gut funktionierenden Finanzbinnenmarkt gekommen.

Aktionsplan für Finanzdienstleistungen FSAP


Um die Integration des EU-Finanzbinnenmarktes und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit weiter voranzutreiben, hat die Europäische Kommission am 11. Mai 1999 einen Aktionsplan für Finanzdienstleistungen («Financial Services Action Plan, FSAP») verabschiedet, in dem verschiedene politische Ziele und 42 Massnahmen zur Verbesserung des Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen vorgeschlagen wurden. Der FSAP verfolgt drei strategische Ziele: – Gewährleistung einheitlicher Finanzdienstleistungsregelungen für Firmenkunden; – Schaffung offener und sicherer Privatkundenmärkte; – Anpassung der Aufsichtsregeln und der Überwachung.   Materiell und zeitlich galt der FSAP als ambitiöses Unterfangen. Obwohl Misserfolge nicht ausgeblieben sind, kann sich die Bilanz sehen lassen: Von den 42 FSAP-Massnahmen konnten 39 innerhalb der gesetzten Frist von Mitte 2004 abgeschlossen werden. Noch bevor der FSAP praktisch vollendet war, erkannte die EU-Kommission, dass die wirtschaftlichen Vorteile der Marktintegration nur dann voll zum Tragen kommen, wenn die Umsetzung der Richtlinien in den Mitgliedstaaten pünktlich und konsistent erfolgt. Der Finanzbinnenmarkt wird im Rahmen des FSAP häufig über den so genannten «europäischen Pass» oder die «Einheitslizenz» geschaffen. Mit dem Prinzip des EU-Passes werden die einzelstaatlichen Vorschriften stärker harmonisiert, wobei die Zuständigkeit bei der Zulassung von z.B. Wertpapieren bei den nationalen Behörden des Herkunftsstaates verbleibt. Die im Herkunftsstaat erreichte Zulassung wird in der Folge EU-weit anerkannt.  Zusätzlich wurde im Herbst 2000 mit dem so genannten Ausschuss der Weisen («Group of Wise Men») unter dem Vorsitz von Baron Lamfalussy eine Expertengruppe mit dem Ziel bestellt, den komplexen und langwieri-gen regulären EU-Gesetzgebungsprozess zu vereinfachen und zu beschleunigen (siehe Kasten 1 Unter dem Lamfalussy-Verfahren erarbeiten die EU-Organe unter Federführung der Kommission die politische Rahmengesetzgebung (so genannte 1. Stufe). Die Ausarbeitung der technischen Durchführungsbestimmungen wird von der Kommission mit Unterstützung von vier Fachausschüssen vorgenommen (2. Stufe). Diese Ausschüsse werden aus hochrangigen Vertretern der nationalen Finanzministerien gebildet und stimmen über die von der Kommission vorgelegten Durchführungsbestimmungen ab. Dabei handelt es sich um den Europäischen Bankenausschuss (EBC), den Europäischen Wertpapierausschuss (ESC), den Europäischen Ausschuss für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge (EIOPC) und den Europäischen Finanzkonglomerateausschuss (EFCC).Auf der 3. Stufe des Lamfalussy-Verfahrens wird die Kommission für die Entwicklung der Durchführungsbestimmungen wiederum von Expertenausschüssen beraten. Bei diesen handelt es sich um den Ausschuss der europäischen Bankaufsichtsbehörden (CEBS), dem Ausschuss der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (CESR) sowie dem Ausschuss der europäischen Aufsichtsbehörden für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge (CEIOPS). Sie setzen sich aus hochrangigen Vertretern der jeweiligen nationalen Aufsichtsbehörden zusammen. Nebst der Unterstützung der Kommission bei der Entwicklung der technischen Durchführungsbestimmungen beschäftigen sich diese Expertenausschüsse mit der einheitlichen Umsetzung der europäischen Rechtsakte und der Angleichung der Praxis bei der Aufsicht für Finanzdienstleistungen. Auf der 4. Stufe überprüft die Kommission in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten, den Aufsichtsbehörden in Stufe 3 und dem privaten Sektor die konsistente Einhaltung der Rechtsvorschriften durch die Mitgliedstaaten und leitet bei Verstössen rechtliche Schritte ein.).

Stossrichtungen der EU-Kommission


Die globale Strategie der EU-Kommission auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen für die kommenden fünf Jahre war Gegenstand des Weissbuchs zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005-2010, das im Dezember 2005 veröffentlicht wurde. Internet: http://ec.europa.eu/internal_market/finances/policy/index_de.htm. Bis Ende des Jahrzehnts sollen weniger neue Initiativen als vielmehr die dynamische Konsolidierung des Erreichten im Zentrum stehen. Folgende Aspekte stehen dabei im Vordergrund:

Bessere Regulierung


Darunter werden verschiedene Massnahmen verstanden, zu denen offene und transparente Konsultationen, Wirkungsanalysen, die Um- und Durchsetzung von regulatorischen Vorhaben, die Ex-post-Evaluation sowie die Wechselwirkungen mit anderen Politikgebieten gehören.  Von besonderer Bedeutung dürfte das Instrument der Wirkungsanalyse sein, welches zukünftige Kommissionsvorschläge systematisch begleiten soll. Es soll sich auf Kosten und Nutzen, den Einfluss auf die Stabilität der Finanzmärkte, das Funktionieren der Märkte sowie auf den Konsumentenschutz konzentrieren. Wenn immer möglich soll ein Austausch über die Methodologien der Wirkungsanalyse mit den betroffenen Kreisen erfolgen. Die termingerechte Umsetzung von gesetzgeberischen Massnahmen der EU auf Ebene Mitgliedstaat stellt nach wie vor ein Problem dar. Die Kommission hat sich deshalb vorgenommen, den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung zur Seite zu stehen und regulatorische Ergänzungen auf Stufe Mitgliedstaaten (so genanntes «Goldplating») zu verhindern. Zu diesem Zweck wird die Kommission ihre auf dem Internet zugängliche FSAP-Umsetzungsübersicht regelmässig à jour halten und internetbasierte Querverweise mit den Umsetzungstexten in den Mitgliedstaaten erstellen. Internet: http://ec.europa.eu/internal_market/finances/actionplan/index_de.htm#actionplan. Seminare mit Vertretern der Mitgliedstaaten und Aufsichtsbehörden sollen den Konsens bei der Umsetzung von EU-Gesetzgebungen fördern und eine wirksame Überwachung dieser Umsetzung erleichtern.  In den nächsten fünf Jahren betrachtet die Kommission die Ex-post-Evaluationen des FSAP und aller neuen gesetzgeberischen Massnahmen als hohe Priorität. Bereits im November 2005 präsentierte sie einen ersten Teil einer FSAP-Evaluation, die u.a. bei der Umsetzung der FSAP-Massnahmen in die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten Defizite ortete. Eine zweite Evaluationsstudie – eine ökonomische und juristische Wirkungsanalyse – soll 2006 bis 2008 nach Umsetzung aller FSAP-Massnahmen durch die Mitgliedstaaten vorgenommen werden. Eine vollständige Wirkungsanalyse sollte demnach 2008/09 verfügbar sein.

Verbesserte Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden


Die EU-Kommission hat sich zum Ziel gesetzt, die Zusammenarbeit – und damit die Effizienz von nationalen Aufsichtsbehörden – zu verbessern. Durch doppelte Berichtspflichten entstehen den grenzüberschreitend tätigen Konzernen unnötige Kosten. Gleichzeitig bieten die International Financial Reporting Standards (IFRS), die Richtlinie über Märkte für Finanzdienstleistungen (MIFID) und die Entwicklung neuer Aufsichtsvorschriften für Banken und Versicherungsunternehmen die einmalige Gelegenheit, die Berichtsstandards zu rationalisieren. Einheitliche Daten- und Berichtsformate sollen daher ausgearbeitet werden, wodurch erhebliche Effizienzgewinne erzielt werden könnten. Die Kommission hofft, dass es ab 2009 allen Banken, Versicherungen und grossen Wertpapierfirmen in der EU möglich sein wird, sämtliche Berichtspflichten zu erfüllen, indem lediglich ein komplettes Berichtspaket an die auf konsolidierter Ebene zuständige Aufsichtsbehörde übermittelt wird. Eine europäische Aufsichtskultur soll gefördert werden, indem gemeinsame Kontrollen, Peer Reviews und praktische Massnahmen – wie Personal- und Informationsaustausch usw. – ausgebaut werden.

Gesetzgeberische Initiativen


Aktiv werden will die Kommission nur noch in wenigen Fällen, nämlich wo es gilt, Lücken zu schliessen. Handlungsbedarf erkennt die Kommission im fragmentierten Markt für das Privatkundenbankgeschäft. Dagegen sollen u.a. folgende Massnahmen ergriffen werden: – Bessere Integration der Hypothekarkreditmärkte; – eine Richtlinie betreffend Konsumentenkredite; – Schaffung eines einheitlichen europäischen Zahlungsverkehrsraums; – Beseitigung von (grenzüberschreitenden) Hindernissen bei der Eröffnung von Bankkonten; – weitere Untersuchungen im Bereich der Kreditvermittlung; – regulatorische Massnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der Anlagefonds.  Auf Mitte 2007 soll zudem ein Vorschlag für stärker risikoorientierte Solvenzregeln für Versicherungsgesellschaften (Solvency II) präsentiert werden.  Finanzmarktaufsichtsbehörden können einen erheblichen Einfluss auf potenzielle Firmenübernahmen und Fusionen ausüben. Die Kommission möchte deshalb die Transparenz von Aufsichtsaufgaben zur Prüfung von qualifizierten Beteiligungen erhöhen. In Zusammenarbeit mit den entsprechenden Aufsichtskomitees will die Kommission die Banken- und Versicherungsrichtlinie revidieren und allgemeingültige Kriterien einführen. Ganz allgemein sollen ungerechtfertigte Hindernisse bei grenzüberschreitenden Fusionen nach Möglichkeit eliminiert werden.  Hingegen verzichtet die EU-Kommission vorerst auf einen Richtlinienvorschlag zur gesetzlichen Regelung der Abwicklungs-Aktivitäten («Clearing and Settlement»). Wie EU-Binnenmarktkommissar McCreevy vor kurzem erläuterte, setzt sie auf die Zustimmung der Branche zu einem «Code of Practice» zur Überwindung der derzeitigen Probleme. Die grenzüberschreitende Clearing- und Abrechnungsinfrastruktur ist nämlich erheblich kostenaufwändiger als entsprechende inländische Einrichtungen; ihr Sicherheits- und Effizienzstandard ist jedoch erheblich geringer.  Als weiteren Schwerpunkt nennt das Weissbuch die externe Dimension. Da Standards beispielsweise für die Buchführung oder das Eigenkapital von Banken zunehmend auf globaler Ebene festgelegt werden, ist eine starke Vertretung der EU in den einschlägigen internationalen Gremien gefordert.

Fazit – das Ziel ist nähergerückt


Die EU ist in den letzten Jahren dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen Marktes für Finanzdienstleistungen nähergekommen. Das Lamfalussy-Verfahren hat das schwerfällige und langfädige Gesetzgebungsverfahren rationalisiert, womit die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Finanzmarktes durch eine raschere Gangart («time to market») positiv beeinflusst werden konnte. Allerdings fehlen qualitative Angaben dazu, ob und gegebenenfalls wie die Qualität der Finanzmarktregulierung unter engeren Zeitvorgaben gelitten hat. Ausserdem muss sich die EU gegen die wettbewerbsfähigsten Finanzmärkte der Welt behaupten und insofern ist nicht Nabelschau, sondern globale Ausrichtung angesagt.  Um zum Ziel zu gelangen, mussten jedoch in Einzelfällen zum Teil erhebliche Kompromisse eingegangen werden (z.B. Übernahmerichtlinie), worunter die Qualität der Regulierung gelitten haben dürfte. Der FSAP hat nicht umsonst die Überregulierungsdiskussion in der EU massgeblich mitgeprägt. Die betroffene Finanzindustrie forderte nach dessen Vollendung konsequenterweise eine «regulatorische Pause». Es ist daher kein Zufall, dass die zukünftige Zielsetzung von der Kommission selber mit «dynamischer Konsolidierung» umschrieben worden ist.

Problembereich Binnen-Retailmarkt


Der gleiche Fortschritt kann für den fragmentierten Binnen-Retailmarkt für Finanzdienstleistungen nicht festgestellt werden. Hier bestehen noch erhebliche Lücken, die nicht nur aufgrund unterschiedlicher regulatorischer Hindernisse zwischen Mitgliedstaaten ihre Ursache finden. Zu den möglichen Handelshemmnissen im grenzüberschreitenden Geschäft mit Privatkunden gehören Faktoren wie sprachliche und kulturelle Gegebenheiten, vorhandene Vertriebskanäle, unterschiedliche Steuervorschriften oder Kundenpräferenzen.

Kasten 1: Das Lamfalussy-Verfahren Unter dem Lamfalussy-Verfahren erarbeiten die EU-Organe unter Federführung der Kommission die politische Rahmengesetzgebung (so genannte 1. Stufe). Die Ausarbeitung der technischen Durchführungsbestimmungen wird von der Kommission mit Unterstützung von vier Fachausschüssen vorgenommen (2. Stufe). Diese Ausschüsse werden aus hochrangigen Vertretern der nationalen Finanzministerien gebildet und stimmen über die von der Kommission vorgelegten Durchführungsbestimmungen ab. Dabei handelt es sich um den Europäischen Bankenausschuss (EBC), den Europäischen Wertpapierausschuss (ESC), den Europäischen Ausschuss für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge (EIOPC) und den Europäischen Finanzkonglomerateausschuss (EFCC).Auf der 3. Stufe des Lamfalussy-Verfahrens wird die Kommission für die Entwicklung der Durchführungsbestimmungen wiederum von Expertenausschüssen beraten. Bei diesen handelt es sich um den Ausschuss der Europäischen Bankaufsichtsbehörden (CEBS), dem Ausschuss der Europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (CESR) sowie dem Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge (CEIOPS). Sie setzen sich aus hochrangigen Vertretern der jeweiligen nationalen Aufsichtsbehörden zusammen. Nebst der Unterstützung der Kommission bei der Entwicklung der technischen Durchführungsbestimmungen beschäftigen sich diese Expertenausschüsse mit der einheitlichen Umsetzung der europäischen Rechtsakte und der Angleichung der Praxis bei der Aufsicht für Finanzdienstleistungen. Auf der 4. Stufe überprüft die Kommission in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten, den Aufsichtsbehörden in Stufe 3 und dem privaten Sektor die konsistente Einhaltung der Rechtsvorschriften durch die Mitgliedstaaten und leitet bei Verstössen rechtliche Schritte ein.

Zitiervorschlag: Rudolf Zurkinden (2006). EU-Finanzbinnenmarkt: Zielsetzung und Fortschritte. Die Volkswirtschaft, 01. November.