Mit dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) wurden bei der Einführung 1996 drei Ziele verfolgt: das Sicherstellen einer qualitativ hoch stehenden medizinischen Versorgung, die Stärkung der Solidarität unter den Versicherten und eine Dämpfung der Kostenentwicklung. Gemäss einer Wirkungsanalyse des Bundesamtes für Sozialversicherung Bundesamt für Sozialversicherung (Hrsg.) (2001), Wirkungsanalyse Krankenversicherungsgesetz, Synthesebericht. Bern. konnten die ersten zwei Ziele erreicht werden. Das dritte Ziel wurde jedoch klar verfehlt. Die degressiven Wirkungen der Kopfprämie konnten mit der Einführung der individuellen Prämienverbilligung zumindest für Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen gemildert werden. Haushalte mit mittleren Einkommen werden allerdings durch die steigenden Prämien finanziell sehr stark belastet. Davon besonders betroffen sind Familien mit Kindern oder Jugendliche in Ausbildung.
Prämienexplosion seit 1998
Seit 1980 lag das Wachstum der Gesundheitskosten in der Schweiz praktisch immer über demjenigen des Bruttoinlandproduktes (BIP). Die wachsenden Gesundheitskosten konnten somit nicht durch steigende Einkommen kompensiert werden. Die durchschnittliche jährliche reale Wachstumsrate des BIP betrug zwischen 1981 und 2003 1,3%, diejenige der Gesundheitskosten 3,4%. Die im Vorfeld der Einführung des KVG versprochene Dämpfung der Kostenentwicklung hat in den Jahren nach der Einführung keinerlei Wirkung gezeigt. Zwischen 1998 und 2003 haben die Kosten des Gesundheitswesens jährlich um 3,7% zugenommen. Die Kosten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung sind in derselben Periode um jährlich 4,3% angestiegen und die Prämien der Grundversicherung gar um 5,8%. Die Hoffnungen, dass die Konkurrenz zwischen den Versicherungen auf die Kostenentwicklung dämpfend wirken würde, haben sich nicht erfüllt. Der Kostenanstieg im Gesundheitswesen wird kontrovers beurteilt. Auf der einen Seite wird zu Recht darauf hingewiesen, dass ein überproportionaler Anstieg der Gesundheitsausgaben Folge des medizinischen Fortschritts und – bis zu einem bestimmten Grad – eine unvermeidliche Begleiterscheinung des wachsenden Wohlstands sei. Unzählige Studien zeigen denn auch, dass steigende Einkommen ein wichtiger Erklärungsfaktor für die zunehmenden Gesundheitsausgaben sind. Vgl. OECD (2003), Health Care Systems: Lessons from the Reform Experience, Economics Department Working Papers No. 374, Paris. Eine weitere Ursache ist die demografische Entwicklung, welche für sich allein eine jährliche Zunahme der Gesundheitsausgaben um rund 1% erklärt. Auf der anderen Seite wird darauf hingewiesen, dass das heutige Gesundheitssystem anfällig sei für Fehlanreize, die zu einer übermässigen Leistungsbeanspruchung führen können. Das Gesundheitswesen könne wegen dem Abhängigkeitsverhältnis der Patienten vom Arzt sowie der Schwierigkeit, die Leistungserbringer zu überwachen, als «Angebotsmarkt» charakterisiert werden. Die Anbieter würden das Ausmass der Leistungsbeanspruchung festlegen, weshalb die Kosten in Kantonen mit einer hohen Ärztedichte auch höher seien als in solchen mit einer tieferen. Grundsätzlich sei die Kombination von Einzelleistungsvergütungen und dem Kontrahierungszwang geeignet, um das Angebot ungesteuert zunehmen zu lassen und damit eine rasche Zunahme der Kosten zu begünstigen. Verschiedene Statistiken scheinen die Hypothese von Ineffizienzen in der Schweiz zu bestätigen.
Internationaler Vergleich
Auch ein internationaler Vergleich der Entwicklung der Gesundheitsausgaben deutet darauf hin, dass es im schweizerischen Gesundheitswesen erhebliche Sparpotenziale geben dürfte (vgl. Grafik 1). Im Jahr 1980 befand sich die Schweiz im Mittelfeld unter den betrachteten Ländern bezüglich des Anteils der Gesundheitskosten am BIP. Am stärksten zugenommen hat dieser Anteil in der Schweiz sowie in den USA. 2002 belegte die Schweiz mit 11,1% hinter den USA (14,6%) den zweiten Platz. Die Grafik zeigt weiter, dass sich keinerlei Konvergenz finden lässt. Einige Länder – wie zum Beispiel Österreich – sind im Mittelfeld geblieben, während Länder wie die USA bereits 1980 einen hohen Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP hatten, der aber in der Folge noch weiter gestiegen ist. Und schliesslich gibt es Länder mit sowohl tiefen als auch mit hohen Ausgangspunkten, deren Ausgaben nur mässig gestiegen sind. Auffallend sind die beiden skandinavischen Länder Schweden und Dänemark, deren Anteil am BIP nicht zugenommen bzw. sogar abgenommen hat. Das sind starke Hinweise darauf, dass bei geeigneter Organisationsform die Ausgaben auf das Wachstum des BIP beschränkt werden können. Gleichzeitig widerlegt diese Grafik auch die Hypothese einer «Konvergenz» der Kosten. Im Gegenteil: In den USA hat der BIP-Anteil am meisten zugenommen, obschon die USA bereits damals einen hohen Anteil für das Gesundheitswesen zu verzeichnen hatten. Die internationalen Vergleiche geben auch einen Hinweis darauf, ob liberale Marktsysteme mit einem verhältnismässig geringen Staatseinfluss oder Systeme, in denen die öffentliche Hand für die Angebotssteuerung verantwortlich ist, die Kosten besser kontrollieren können. Grafik 2 zeigt, dass die BIP-Quote in den vergangenen 20 Jahren in Ländern mit einem geringeren Anteil staatlicher Finanzierung stärker zugenommen hat. Eine vorsichtige Schlussfolgerung könnte dahin gehen, dass Gesundheitssysteme mit einem hohen öffentlichen Finanzierungsanteil eher in der Lage sind, die Ausgabenentwicklung zu kontrollieren. Damit ist nichts über die Qualität der Gesundheitssysteme gesagt. Allerdings bestätigen Studien, dass innerhalb der von uns betrachteten reichen Länder kein Zusammenhang besteht zwischen dem Gesundheitszustand der Bevölkerung und der Höhe der Gesundheitsausgaben. Kommission für Konjunkturfragen. Jahresbericht 2006.
Managed Care – Kontrolle durch öffentliche Hand oder Krankenversicherungen?
Zunehmend scheint sich die Vorstellung durchzusetzen, wonach die Effizienz- und Qualitätsprobleme des Gesundheitswesens durch den Einsatz von so genannten Managed-Care-Modellen gelöst werden sollen. Dadurch wird eine «Organisation» geschaffen, welche für eine festgelegte Gruppe der Bevölkerung die medizinischen Leistungen erbringt und zudem die Leistungserbringer (Spitäler, Ärzte, Pflegeheime etc.) vernetzt. Zur zweckmässigen Planung und Überwachung der Qualität muss die Möglichkeit bestehen, selektiv Verträge mit den Leistungserbringern abzuschliessen. Somit müsste der heutige Kontrahierungszwang zumindest gelockert werden. Weiter muss eine Managed-Care-Organisation über die Kompetenz verfügen, den Zugang der Versicherten zu den einzelnen Leistungsanbietern zu beschränken. Den Versicherten kann beispielsweise vorgeschrieben werden, vor jeder Behandlung einen Hausarzt aufzusuchen, welcher über eine weitergehende Behandlung bei einem Spezialisten resp. im Spital entscheidet (Gatekeeping). Eine solche Organisation ermöglicht eine verbesserte Kontrolle von Kosten und Qualität, beseitigt Doppelspurigkeiten in der Behandlung und verhindert den Aufbau von Überkapazitäten, insbesondere bei teuren technologischen Ausrüstungen. In der Schweiz stecken Managed-Care-Modelle in den Kinderschuhen, weil kein Konsens darüber besteht, ob sie unter öffentlicher Kontrolle stehen oder von den Krankenversicherungen aufgebaut werden sollen. Im ersten Fall müssten die Planungskompetenzen der öffentlichen Hand besser genutzt oder verstärkt, im zweiten müsste der Kontrahierungszwang aufgehoben werden. Die Krankenversicherungen erhielten so das Recht, selektiv mit Spitälern und Ärzten Verträge abzuschliessen. Bei diesem strategischen Entscheid geht es nicht in erster Linie darum, ob Wettbewerbselemente in das Gesundheitswesen eingebaut werden. Solche sind in beiden Systemen denkbar. Sowohl die öffentliche Hand wie auch die Krankenversicherungen können beim Aufbau von Managed-Care-Modellen zwischen verschiedenen Leistungsanbietern auswählen oder Leistungen ausschreiben. Allerdings bleibt die Frage, ob es sinnvoll ist, in der kleinräumigen Schweiz verschiedene sich konkurrierende Versorgungsnetze aufzubauen. Die Folge wäre, dass die Leistungsanbieter mit jeder Krankenversicherung unterschiedliche Verträge abschliessen müssten und die Leistungen nach unterschiedlichen Bewertungsgrundsätzen abgerechnet würden.
Bringt der Wettbewerb zwischen den Krankenversicherungen Vorteile?
Die meisten Ökonomen in der Schweiz schlagen vor, den Vertragszwang der Versicherungen mit den Leistungsanbietern aufzuheben und den Krankenkassen dadurch zu ermöglichen, auf breiter Basis Managed-Care-Modelle anzubieten. Kommission für Konjunkturfragen. Jahresbericht 2006. Sie versprechen sich vom Wettbewerb unter den Versicherungen effiziente und qualitativ hoch stehende Versorgungsnetze. Die Krankenversicherungen würden damit versuchen, möglichst viele Versicherte und Marktanteile zu gewinnen. Allerdings bestehen erhebliche Zweifel, ob ein solches Modell funktionieren kann. – Risikoselektion: Eine Aufhebung des Kontrahierungszwangs hat zur Folge, dass die Versicherungen auch gegenüber den Leistungserbringern Risikoselektion betreiben können. So können Ärzte, welche vor allem teure Patienten und Patientinnen behandeln, von der Liste genommen und die überdurchschnittlich teuren Versicherten zum Wechsel in eine andere Versicherung motiviert werden. Es ist umstritten, ob ein finanzieller Risikoausgleich zwischen den Versicherungen geschaffen werden kann, der den Kassen den Anreiz nimmt, Risikoselektion zu betreiben. Somit ist zu befürchten, dass die Versicherungen einen grossen Teil ihres Handlungsspielraums für die Werbung der jungen und billigen Versicherten und das Abschieben teurer Patienten nutzen werden. – Qualität und Prävention: Der Gesundheitszustand einer Person ist weder beim Eintritt noch bei einem allfälligen Austritt aus einer Versicherung messbar. Deshalb besteht für die Krankenversicherungen kein Interesse, den Gesundheitszustand ihrer Versicherten langfristig zu optimieren. Sie werden deshalb nicht genug in die Prävention investieren. Ebenso werden sie teure Behandlungen zu vermeiden suchen, auch wenn diese langfristig die beste Garantie für eine gute Gesundheit bieten. Peters Oliver: Wann sind öffentliche Monopole effizienter als private Versicherungen? In: Jahrbuch Denknetz 2006. – Hohe Verwaltungskosten: Sobald die Krankenversicherungen selektive Verträge mit den Leistungsanbietern abschliessen, dürften die Verwaltungskosten in die Höhe schiessen. Da die Schweiz sehr klein ist, können die Versicherungen nicht eigene Versorgungsnetze mit eigenen Spitälern aufbauen. Sie müssen mit allen bestehenden Leistungsanbietern Verträge abschliessen. Das hiesse, dass sich die Leistungsanbieter mit unterschiedlichen Abrechnungsmodalitäten der Versicherungen herumschlagen müssten. Jede Versicherung könnte wählen, welche Behandlungen sie bezahlt und welche nicht, ebenso welche Tarife verwendet werden. Die Verwaltungskosten wären sowohl bei Versicherungen wie auch bei den Leistungsanbietern hoch. Lebendiges Beispiel dafür sind die USA: Die Verwaltungskosten von Versicherungen, die im Wettbewerb stehen, sind rund 10 Mal höher als diejenigen der staatlichen Medicare. Auch in der Schweiz sind die Verwaltungskosten der Zusatzversicherungen rund vier Mal höher als diejenigen der Grundversicherung. Das bedeutet, dass die Einsparungen in Folge neuer Managed-Care-Modelle, welche vielleicht 15% bis 20% der Kosten ausmachen könnten, durch höhere Verwaltungskosten überkompensiert würden. Die genannten Argumente erklären, weshalb Gesundheitssysteme ohne staatliche Planung im internationalen Vergleich teurer sind. Sie sprechen dafür, Managed-Care-Modelle unter öffentlicher Kontrolle aufzubauen und diese Aufgabe nicht den privaten Krankenversicherern zu überlassen. Ein Schritt in diese Richtung könnte im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung eine Beschränkung des Zugangs zu teuren Spezialisten und Spitälern sein. Teure Ausrüstungen und Operationen könnten in wenigen Spitälern konzentriert werden, was die Überkapazitäten verringern und dadurch die Kosten senken würde. Gleichzeitig dürfte damit dank grösserer Routine auch die Qualität erhöht werden. Um dies zu erreichen und zu verhindern, dass die Spitalplanung und Kostenkontrolle durch den unkontrollierten Aufbau von Privatspitälern unterlaufen werden, müssen die Planungskompetenzen der Kantone erweitert werden. Auch wären die Tarifsysteme auf falsche Anreize hin zu untersuchen, welche zu einer Mengenausweitung bei teuren Untersuchungen führen.
Grafik 1 «Anteil Gesundheitsausgaben am BIP 1980 und Veränderung 1980-2002»
Grafik 2 «Veränderung der BIP-Quote 1980-2002 und Anteil öffentliche Finanzierung 2002»
Kasten 1: Soziale Einheitskasse als Chance?
Im März 2007 hat das Stimmvolk über die Initiative zur Schaffung einer «Sozialen Einheitskasse» zu entscheiden. Sie fordert einerseits den Vollzug der obligatorischen Krankenpflegeversicherung durch eine einzige Krankenkasse und andererseits den Ersatz der heutigen Kopfprämie durch Prämien, welche die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Versicherten berücksichtigt. Die Initiative sieht kantonal unterschiedliche Prämien vor, da die Planung der Gesundheitsversorgung in der Kompetenz der Kantone verbleibt.Eine Einheitskasse kann dazu beitragen, Risikoselektion zu verhindern, Verwaltungskosten zu sparen und die Qualitäts- und Kostenkontrolle zu verstärken. Einheitliche Instrumente zur Qualitätsbemessung und -bewertung sowie zur Effizienzkontrolle können eher durchgesetzt werden, da alle Leistungserbringer bei der gleichen Kasse unter Vertrag stehen.Mit der Schaffung einer Einheitskasse wäre auch ein Grundsatzentscheid gefällt: Die öffentliche Hand wäre fortan für eine qualitativ hoch stehende sowie effiziente Gesundheitsversorgung zuständig. Sie hätte die Spitalplanung vorzunehmen, müsste Versorgungsnetze aufbauen und die Verantwortung für mehr Kostenbewusstsein übernehmen. Dabei könnten durchaus auch Wettbewerbselemente eingebaut werden, beispielsweise durch Ausschreibungen für bestimmte Leistungen. Die Verantwortung für ein effizientes Gesundheitssystem wäre aber klar geregelt. Sie könnte nicht mehr wie heute zwischen der öffentlichen Hand und den Versicherungen hin und her geschoben werden.