Ähnlich wie Lesen und Schreiben für die Bewältigung des beruflichen und gesellschaftlichen Alltags notwendig sind, braucht es Gesundheitskompetenz, um gesund zu werden, gesund zu bleiben und gesundheitspolitische Entscheide zu fällen. Ausländische Studien lassen vermuten, dass es auch in der Schweiz vielfach an Gesundheitskompetenz fehlt. Zudem haben die Anforderungen, um sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden, in den letzten Jahren stark zugenommen. Fehlende Gesundheitskompetenz wirkt sich jedoch nicht nur im Gesundheitswesen selbst, sondern auch in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik aus.
Die heutige Informations- und Wissensgesellschaft verlangt von den Bürgerinnen und Bürgern immer mehr Kompetenzen. Eine davon ist die Gesundheitskompetenz. Dieser Begriff, der im englischsprachigen Raum als «Health Literacy» schon seit einigen Jahren diskutiert wird, fasst im deutschsprachigen Raum erst allmählich Fuss. Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit jedes und jeder Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken (vgl.
Kasten 1
Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit des und der Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken. Sie umfasst fünf wichtige Bereiche:a) Persönliche Gesundheit: Individuelle Gestaltung der Gesundheit. Wissen und Anwendung von entsprechendem Verhalten auch bei der Betreuung der Familie;b) Systemorientierung: Die Fähigkeit, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden und gegenüber den Gesundheitsberufen als kompetente/r Partner/in aufzutreten;c) Konsumverhalten: Die Fähigkeit, Konsum- und Dienstleistungsentscheidungen unter gesundheitlichen Gesichtspunkten zu treffen;d) Arbeitswelt: Unfälle und Berufskrankheiten vermeiden, Einsatz für die Sicherheit und für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen sowie eine angemessene Balance zwischen Beruf und Privatleben;e) Gesundheitspolitik: Informiertes gesundheitspolitisches Handeln (Eintreten für Gesundheitsrechte, Stellungnahmen zu Gesundheitsfragen, Mitgliedschaften in Patienten- und Gesundheitsorganisationen).Quelle: Kickbusch (2006)). Nutbeam (2000) unterscheidet drei Ebenen der Gesundheitskompetenz: – Funktionale Gesundheitskompetenz: Ausreichende Grundkompetenzen im Bereich Lesen und Schreiben; – kommunikative, interaktive Gesundheitskompetenz: Grundlegende kognitive und soziale Kompetenzen, die es erlauben, aktiv am Alltag teilzunehmen, Informationen zu sammeln und in Interaktionen mit anderen Akteuren zu interpretieren sowie vorhandene Informationen unter veränderten Bedingungen anzuwenden; – kritische Gesundheitskompetenz: Fortgeschrittene kognitive und soziale Kompetenzen, die für die kritische Analyse von Informationen eingesetzt werden können, um eine grössere Kontrolle unter verschiedenen Lebenssituationen ausüben zu können. Dienstleistungen, Behandlungsmöglichkeiten und Produkte, die mit Gesundheit zu tun haben, wurden in den letzten 15 Jahren immer zahlreicher. Parallel dazu haben die Anforderungen an die Menschen zugenommen, um sich im Gesundheitswesen zu orientieren, Leistungen auszuwählen, über Therapien zu entscheiden und sich über einen gesunden Lebensstil zu informieren, aber auch um gesundheitspolitisch gut abgestützte Entscheide zu treffen. Notwendige Grundlage zur Bewältigung dieser Rollen- und Anforderungsvielfalt ist ein genügendes Mass an Gesundheitskompetenz. Ist diese nicht ausreichend, muss mit negativen Auswirkungen in verschiedenen Bereichen gerechnet werden. Zentral ist dabei das Gesundheitswesen selbst. Menschen mit weniger Gesundheitskompetenz sind häufiger krank und können allfällige Krankheiten weniger gut bewältigen. Insbesondere haben Menschen, die von gesundheitlicher Ungleichheit besonders betroffen sind, ohne ausgeprägte Gesundheitskompetenz kaum Chancen, ihre Lage zu verbessern. Auch in der Wirtschaft ist mit Folgekosten zu rechnen. Die Auswirkungen der Gesundheitskompetenz auf das Gesundheitswesen wurden bereits an anderer Stelle beschrieben. Vgl. Spycher (2006a,b). Im Rahmen dieses Beitrags fokussieren wir auf die wirtschaftlichen Aspekte sowie auf die Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, in der Gesundheitspolitik Einfluss zu nehmen.
Ökonomische Auswirkungen ungenügender Gesundheitskompetenz
Grafik 1 zeigt stark vereinfacht die Bedeutung der Gesundheitskompetenz. Neben den Ressourcen der einzelnen Personen bzw. den Ressourcen des gesellschaftlichen Umfeldes ist die Gesundheitskompetenz eine wichtige Grundlage für das individuelle Gesundheitsverhalten, das sich unmittelbar auf den Gesundheitszustand auswirkt. Sie beeinflusst aber den Gesundheitszustand auch direkt, da davon auszugehen ist, dass kranke Menschen mit höherer Gesundheitskompetenz rascher gesund werden und nachhaltiger gesund bleiben. Der Gesundheitszustand wirkt sich in unterschiedlichen Bereichen – Wirtschaft, Gesundheitswesen, Politik, Gesellschaft – aus. Somit besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Ausmass der Gesundheitskompetenz und den ökonomischen Auswirkungen eines Defizits in verschiedenen Bereichen. Zurzeit liegen für die Schweiz keinerlei empirische Schätzungen vor, in welchem Ausmass zusätzliche Kosten entstehen, die auf mangelnde Gesundheitskompetenz zurückzuführen sind. Wendet man die Ergebnisse einer amerikanischen Studie Vgl. CAS (1998). auf die Schweiz an und nimmt man einige Anpassungen für die hiesigen Verhältnisse vor, so dürften im Jahr 2004 im Gesundheitswesen rund 1,5 Mrd. Franken an vermeidbaren Mehrkosten entstanden sein. Davon dürften rund 700 Mio. Franken auf die obligatorische Krankenversicherung entfallen. Selbstverständlich sind dies nur sehr grobe Kostenschätzungen, die sich zudem nur auf den Bereich des Gesundheitswesens beschränken. Sie weisen aber darauf hin, dass es sich beim Phänomen der mangelnden Gesundheitskompetenz auch um ein quantitativ relevantes Problem handelt. Die Beziehungen zwischen Gesundheitskompetenz und Wirtschaft sind vielfältig. Sie können folgendermassen beschrieben werden: – Der von der Gesundheitskompetenz mitbeeinflusste Gesundheitszustand hat einen direkten Einfluss auf die Produktivität der Mitarbeitenden. Gesunde Menschen erbringen grundsätzlich bessere Arbeitsleistungen als kranke. Kranke Menschen sind zudem öfter abwesend. Dies verursacht entsprechende Folgekosten für die Betriebe und die Versicherungen. Die Gesundheit der Mitarbeitenden ist darüber hinaus eine wesentliche Voraussetzung für deren Motivation. Günstige Rahmenbedingungen und eine sinnstiftende sowie herausfordernde Arbeit stärken die Gesundheit und damit die Motivation der Mitarbeitenden. – Die Bereitstellung von Informationen und Angeboten zum Aufbau, zum Erhalt und zum Ausbau der Gesundheitskompetenz stellt einen eigenen und gewinnträchtigen Markt dar (Kurse, Zeitschriften etc.). Allerdings gibt es auch gewisse Branchen, die durch eine Zunahme der Gesundheitskompetenz an Umsatz verlieren könnten (z.B. die Pharmaoder die Tabakindustrie). – Gesundheitskompetentere Menschen geben mehr Geld für die Prävention und einen gesunden Lebensstil aus. Andererseits sparen sie Geld ein, weil sie weniger häufig und weniger lang krank sind. Die Nettowirkungen sind noch nicht empirisch untersucht. Wenn sie positiv sind und gesundheitskompetente Menschen letztlich Geld einsparen, so werden diese finanziellen Ressourcen für anderen Konsum (bzw. für das Sparen) frei. Unter Umständen geht davon also ein positiver Wachstumsimpuls aus.
Abschätzung von Kosten und Nutzen
Die Bildung und Erhaltung von Gesundheitskompetenz ist nicht kostenlos. Dies führt zu einer Güterabwägung: Investitionen in Gesundheitskompetenz kosten Geld, bringen aber auf der anderen Seite auch einen Nutzen, indem die negativen volkswirtschaftlichen Auswirkungen geringer Gesundheitskompetenz in den genannten Bereichen reduziert werden. Für die Schweiz ist daher zweierlei empirisch zu untersuchen: – In welchem Ausmass fehlt Gesundheitskompetenz, und mit welchen Folgekosten ist bereits heute zu rechnen? – Wie kann die Gesundheitskompetenz erhöht werden, und wie hoch sind die Kosten dafür? Führt man beide Seiten zusammen, können Kosten und Nutzen einer zusätzlichen Investition in die Gesundheitskompetenz abgeschätzt werden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass nicht alles in Franken und Rappen berechnet werden kann. So dürften gesundheitskompetentere Menschen auch eine höhere Lebensqualität geniessen, deren Nutzen nur schwer zu beziffern ist.
Makroökonomische Aspekte
Ungenügende Gesundheitskompetenz führt zu Kostenfolgen in den Bereichen des Gesundheitswesens, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Was vom Standpunkt der Gesundheitskompetenz aus negativ zu bewerten ist – «unnötige» Folgekosten, geringere Lebensqualität der Betroffenen -, sieht aus einer makroökonomischen Perspektive etwas anders aus: Die Folgekosten im Gesundheitswesen führen zu zusätzlichen Anstellungen und damit zu einer Steigerung des Bruttosozialproduktes. Oder umgekehrt betrachtet: Wird die Gesundheitskompetenz erhöht, dann könnte es im Gesundheitsbereich zu einer geringeren Wertschöpfung kommen. Dieser Effekt kann vermieden werden, wenn – was sicher sinnvoll wäre – die Akteure für ihr Engagement im Bereich der Gesundheitskompetenz abgegolten werden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Bildung und Erhalt der Gesundheitskompetenz einen eigenen Markt darstellen.
Gesundheitsförderung und Prävention
Immer öfter wird darauf hingewiesen, dass die steigenden Kosten im Gesundheitswesen nur dann wirklich stabilisiert werden können, wenn die Menschen weniger häufig krank werden. Gesundheitsförderung und Prävention sind wichtige zukünftige Handlungsfelder von Politik und Wirtschaft. Allerdings muss auch in diesem Zusammenhang die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung im Auge behalten werden: Präventionskampagnen können beispielsweise ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn die Informationen verstanden und insbesondere auch umgesetzt werden. Bei der Gesundheitsförderung kommen den Betrieben wichtige Aufgaben zu, da sie im täglichen Kontakt mit den Mitarbeitenden stehen. Damit gesundheitsfördernde Massnahmen wirksam sein können, müssen die Mitarbeitenden über eine ausreichende Gesundheitskompetenz verfügen.
Kompetenz in der Gesundheitspolitik
In einer demokratischen Gesellschaft hängt die Qualität der politischen Entscheidungen und somit die Qualität der institutionellen Rahmenbedingungen wesentlich von den Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger ab. Im Bereich der Gesundheitspolitik kommt der Gesundheitskompetenz eine doppelte Bedeutung zu. Zum einen ermöglicht eine hohe Gesundheitskompetenz das Verständnis der Vorlagen und das Treffen informierter Entscheide. Dies lässt sich am Beispiel der Volksinitiative zur Einführung einer Einheitskasse illustrieren. Um sich eine Meinung zu dieser einfach formulierten, inhaltlich aber äusserst komplexen Vorlage bilden zu können, sind verschiedenste Kompetenzbereiche von grosser Bedeutung. Zum anderen beeinflusst die Gesundheitskompetenz das Verhalten des Einzelnen innerhalb des Gesundheitssystems. Folglich müsste bei der Wahl der institutionellen Rahmenbedingungen auch darüber nachgedacht werden, ob die teilweise nicht vorhandene bzw. ungenügende Gesundheitskompetenz der Menschen ausreichend berücksichtigt wird. So beruht das Krankenversicherungsgesetz (KVG) auf dem Konzept des regulierten Wettbewerbs: Innerhalb starker staatlicher Rahmenbedingungen sollen in verschiedenen Bereichen Wettbewerbselemente zum Tragen kommen. Dieses System erfordert von den Versicherten intensive Orientierungsarbeiten, wenn z.B. verschiedene Versicherungspakete, Prämien oder Leistungserbringer verglichen werden sollen. Kann aber ein solches System funktionieren, wenn viele Menschen die dazu notwendige Gesundheitskompetenz nicht mitbringen? Welche Konsequenzen hat dies für die Ausgestaltung der aktuell diskutierten KVG-Reformen?
Schlussfolgerungen
Noch vieles ist im Zusammenhang mit Gesundheitskompetenz ungeklärt. Ausländische Studien lassen jedoch vermuten, dass auch in der Schweiz Gesundheitskompetenz nicht in genügendem Ausmass vorhanden ist. Trifft dies zu, so muss die Frage aufgeworfen werden, ob in den Schulen, der beruflichen Ausbildung, den höheren Ausbildungen, am Arbeitsplatz oder bei der Ausbildung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen nicht zu wenig in den Aufbau und den Erhalt der Gesundheitskompetenz investiert wird. Diesbezügliche Forschungsanstrengungen drängen sich auf; doch sie allein genügen nicht. Alle staatlichen Akteure, Nicht-Regierungsorganisationen und Arbeitgeber, aber auch die Bürgerinnen und Bürger sind gefordert, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen.
Grafik 1 «Wirkungen von Gesundheitskompetenz»
Kasten 1: Definition
Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit des und der Einzelnen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken. Sie umfasst fünf wichtige Bereiche:a) Persönliche Gesundheit: Individuelle Gestaltung der Gesundheit. Wissen und Anwendung von entsprechendem Verhalten auch bei der Betreuung der Familie;b) Systemorientierung: Die Fähigkeit, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden und gegenüber den Gesundheitsberufen als kompetente/r Partner/in aufzutreten;c) Konsumverhalten: Die Fähigkeit, Konsum- und Dienstleistungsentscheidungen unter gesundheitlichen Gesichtspunkten zu treffen;d) Arbeitswelt: Unfälle und Berufskrankheiten vermeiden, Einsatz für die Sicherheit und für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen sowie eine angemessene Balance zwischen Beruf und Privatleben;e) Gesundheitspolitik: Informiertes gesundheitspolitisches Handeln (Eintreten für Gesundheitsrechte, Stellungnahmen zu Gesundheitsfragen, Mitgliedschaften in Patienten- und Gesundheitsorganisationen).Quelle: Kickbusch (2006)
Kasten 2: Literatur
– Abel Thomas und Eva Bruhin (2003): Health Literacy / Wissensbasierte Gesundheitskompetenz», in: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Vierte und erweiterte Auflage, Schwabenheim a.d. Selz. – BAG (2006): Arbeitsbericht Gesundheitskompetenz 2006, www.bag.admin.ch , Rubriken «Themen», «Gesundheitspolitik», «Politik», «Gesundheitskompetenz».- BAG (2006): Zukunft von Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz; Bericht der Fachkommission «Prävention + Gesundheitsförderung» zuhanden des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI), www.bag.admin.ch , Rubriken «Themen», «Gesundheitspolitik», «Politik», «Neuregelung von Prävention und Gesundheitsförderung», «Fachkommission Prävention + Gesundheitsförderung». – Banks Ian, Ilona Kickbusch, Daniela Maag, Peggy McGuire und Suzanne Wait (2006): Navigating Health. The Role of Health Literacy, www.ilcuk.org .uk, Rubrik «Publications».- CAS Center on an Aging Society (1998): Low Health Literacy Skills Increase Annual Health Care Expenditures by $73 Billion, http://ihcrp.georgetown.edu/agingsociety, Rubriken «Papers and Projects», «Publications».- European Health Forum Gastein (2005): Gastein Health declaration 2005. Partnerships for Health, www.ehfg.org , Rubriken «Archiv», «2005».- Gesundheitsförderung Schweiz (2005): Denkanstösse für ein Rahmenkonzept zu Health Literacy.- Kickbusch Ilona (2006): Die Gesundheitsgesellschaft. Megatrends und deren Konsequenzen für Politik und Gesellschaft. Verlag für Gesundheitsförderung, Hamburg.- Nationale Gesundheitspolitik Schweiz (2006): Gesundheitspolitiken in der Schweiz – Potential für eine nationale Gesundheitspolitik.- Nutbeam D. (2000): Health Literacy as Public Goal: A Challenge for Contemporary Health Education and Communication Strategies into the 21st Century, Health Promotion International, 15(3), S. 259-267.- Spycher Stefan (2006): Ein bisher vernachlässigtes Thema: Die Folgekosten fehlender Gesundheitskompetenzen, Soziale Sicherheit, 4/2006, S. 220-224.- Spycher Stefan (2006): Ökonomische Aspekte der Gesundheitskompetenzen. Ein Konzeptpapier, www.buerobass.ch , Rubriken «Studienverzeichnis», «Krankenversicherung, Gesundheitswesen».