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Jean-Luc Nordmann: Der Grossmeister der Arbeitsmarktpolitik tritt ab

Jean-Luc Nordmann: Der Grossmeister der Arbeitsmarktpolitik tritt ab

Jean-Luc Nordmann, Direktor für Arbeit und stv. Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), ist nach 35 Jahren Tätigkeit in leitenden Positionen im Bereich der Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik auf Ende Januar 2007 in Pension gegangen. Zu seinem Nachfolger als Leiter der Direktion für Arbeit hat der Bundesrat Dr. Serge Gaillard, bisher geschäftsleitender Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), gewählt. Serge Gaillard tritt die Stelle auf den 1. Februar 2007 an.

Die Volkswirtschaft: Herr Nordmann, Sie haben jahrzehntelang erfolgreich im Bereich der Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik gewirkt – zuerst als Leiter einer privaten Arbeitsvermittlungsagentur, später als Leiter Kiga Baselland und seit 1991 bei der Bundesverwaltung. Bis zur Gründung des Seco waren Sie Direktor des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Biga) und dann Direktor der Direktion für Arbeit und stv. Direktor Seco.  Gibt es etwas Gemeinsames, das Sie auf den drei Ebenen Privatwirtschaft, kantonale Verwaltung und Bundesverwaltung erfahren haben? Nordmann: Das gibt es. Der Umgang mit Menschen hat mich immer sehr stark beschäftigt, wie auch die Kombination von Recht und Wirtschaft. Wichtig war mir dabei immer der Dialog und die Vertrauensbildung. Diese Elemente bildeten die Basis all meiner beruflichen Tätigkeiten.  Die Volkswirtschaft: Wie wichtig waren für Sie in Bundesbern die Erfahrungen, die Sie früher in der Privatwirtschaft und auf der kantonalen Ebene gesammelt haben? Nordmann: In der Privatwirtschaft und auf der kantonalen Ebene war ich näher an der Praxis als hier in Bern. Diese Erfahrungen waren für mich auf Bundesebene dann immer wieder sehr wertvoll, wenn es darum ging zu antizipieren, was eine Entscheidung und deren Umsetzung für die einzelnen Menschen, die Gemeinden, die Kantone und die Wirtschaft bedeutet.  Die Volkswirtschaft: Sie haben in den Jahren beim Biga und später beim Seco eine Reihe von Erfolgen verzeichnen können. Was sind für Sie die wichtigsten? Nordmann: Die wichtigsten sind die Einführung der Berufsmaturität und der Fachhochschulen, aber auch die Schaffung der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV), wo wir von 3000 nebenamtlich betreuten Gemeindearbeitsämtern zu einem System mit rund 130 professionell geführten Vermittlungszentren übergegangen sind. Hinzu kommen die Anpassung der Arbeitslosenversicherung (ALV) an die verschiedenen wirtschaftlichen und arbeitsmarktlichen Anforderungen sowie die flankierenden Massnahmen zum Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU. Schliesslich sind die Vermittlungstätigkeiten in schwierigen Situationen zu erwähnen, wie diejenige im Baugewerbe im Vorfeld der ersten Abstimmung über die Personenfreizügigkeit mit der EU oder diejenige bei der Swissair-Krise. In beiden Fällen ist es uns gelungen, Streiks zu verhindern.  Die Volkswirtschaft: Immer wieder war in Ihrer Tätigkeit Überzeugungs- und Vermittlungsarbeit auf höchstem Niveau gefragt. Wie entwickelten Sie Ihre Kommunikationsfähigkeit? Nordmann: Ich habe in erster Linie Freude an der Kommunikation. Es steckt weniger ein systematisches Vorgehen dahinter als ein Grundinteresse, das sich bereits in der Schule entwickelte und dann später in der Ausbildung, im Militär, in der Arbeitswelt und nicht zuletzt auch in der Familie weiter wuchs. In der Kommunikation kann nur jener Erfolg haben, der sich bewusst ist, dass es nicht in erster Linie auf das Sprechen, sondern vor allem auf das Zuhören ankommt. Nur so kann man wirklich auf den Partner eingehen und daraus Lösungen entwickeln.  Die Volkswirtschaft: Neben den Erfolgen gab es wohl auch Niederlagen, die Sie erlebt haben. Welche? Nordmann: Die erste sehr schmerzliche Niederlage – und wahrscheinlich auch die folgenreichste für die Schweiz – war das Nein des Schweizer Volkes zum EWR vom 6. Dezember 1992. Auch ein zweiter sehr knapper Volksentscheid ist als Niederlage zu werten, nämlich die Ablehnung eines dringlichen Bundesbeschlusses im September 1997 zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung.   Die Volkswirtschaft: Welche Lehren haben Sie aus diesen Niederlagen gezogen? Nordmann: Nach dem Nein zum EWR haben wir sofort damit begonnen, die Ursachen der Ablehnung zu analysieren. Wir haben gespürt, dass das Volk vor allem Angst hatte vor einer Überschwemmung mit ausländischen Arbeitskräften und vor Lohndumping. Danach haben wir die flankierenden Massnahmen ausgehandelt. Dieses Paket konnten wir dann den bilateralen Verträgen hinzufügen, was massgeblich dazu beigetragen hat, dass die Bilateralen vom Volk angenommen wurden. Die Volkswirtschaft: Was war für Sie persönlich in den letzten drei Jahrzehnten die grösste Veränderung im Arbeitsmarkt? Nordmann: Grosse Veränderungen haben die Beschäftigungskrisen in den Siebziger- und den Neunzigerjahren ausgelöst: Im Jahr 1974 hatte die Schweiz im Jahresdurchschnitt 221 Arbeitslose. Damals gab es sogar Bestrebungen, die ALV ganz abschaffen. Dann kam die Ölkrise, und man begann sich wieder bewusst zu werden, dass es nicht eine ewige Aufwärtsbewegung geben konnte und mit konjunkturellen Rückschlägen zu rechnen ist. In der Folge wurde das Obligatorium für die ALV eingeführt und verschiedene weitere Massnahmen ergriffen, die schliesslich zum heutigen System geführt haben. Noch in den Jahren 1989/90 hatten wir 0,5% registrierte Arbeitslose. Diese Quote ist bis 1997 um das Elffache gestiegen, nämlich auf 5,7%. Das war zwar im internationalen Vergleich immer noch wenig, aber für die schweizerische Bevölkerung bedeutete es eine massive Veränderung der gewohnten Verhältnisse.  Die zweite grosse Veränderung erfolgte mit der Öffnung des schweizerischen Arbeitsmarktes gegenüber Personen aus dem Efta-/EU-Raum im Jahre 2001, also mit der Personenfreizügigkeit.  Die Volkswirtschaft: Die Arbeitslosigkeit ist in der Schweiz – im Vergleich zum Ausland – sehr tief. Welche Faktoren sind für Sie dafür entscheidend? Nordmann: Für mich ist der flexible schweizerische Arbeitsmarkt ganz entscheidend. Das ist ein Trumpf, den wir nicht leichtfertig aus der Hand geben sollten. Wichtig ist aber auch das duale Ausbildungssystem mit der Berufslehre. Diese praxisorientierte Berufsausbildung erleichtert den Berufseinstieg erheblich. Das ist mit ein Grund, weshalb die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz nur geringfügig höher ist als die übrige Arbeitslosigkeit, dies im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern. Zu unseren Stärken gehört auch das gute Bildungssystem, das wir pflegen und weiter ausbauen sollten. Und schliesslich hat die ALV selbst mit ihrem effizienten Arbeitsvermittlungssystem zu einer tiefen Arbeitslosigkeit beigetragen. Erst kürzlich hat eine Studie nachgewiesen, dass wir mit dem System der RAV und der wirkungsorientierten Führung in den letzten Jahren jährlich 1 Mrd. Franken eingespart haben.  Die Volkswirtschaft: Die Schweiz geniesst im Arbeitsmarktbereich international mit ihrer hohen Arbeitsmarktpartizipation ein hohes Ansehen. Was hat aus Ihren Erfahrungen grössten Vorbildcharakter? Nordmann: Uns beneidet man in erster Linie um den flexiblen Arbeitsmarkt. Was die Vorteile dieses flexiblen Arbeitsmarktes sind, war besonders nach der Beschäftigungskrise in den Neunzigerjahren zu spüren. Wir hatten im Februar 1997 206000 Arbeitslose. Damals sagten viele, dass diese Zahl nie mehr unter 140000 sinken werde. Tatsache ist, dass im Juni 2001 noch 59000 Arbeitslose zu verzeichnen waren. Dieser Erfolg war nur möglich, weil Betriebe, welche die Wahl hatten, Arbeitsplätze in Deutschland oder in der Schweiz zu schaffen, sich wegen des flexibleren Arbeitsmarktes für die Schweiz entschieden haben.   Die Volkswirtschaft: Sie haben schon öffentlich bekannt, dass die Wirtschaft für den Menschen und nicht der Mensch für die Wirtschaft da sei. Was steckt hinter dieser Aussage? Nordmann: Die Marktwirtschaft braucht die soziale Dimension, um richtig funktionieren zu können. Motivierte Menschen bringen bessere Leistungen und Resultate. Überhaupt ist ja der Mensch der Ursprung der Wirtschaft. Er hat sie geschaffen, um zu überleben, und sie hat ihm ermöglicht, besser zu leben. Die Wirtschaft ist also dadurch motiviert, dass sie etwas für den Menschen tut. Im Gegensatz zum Huhn und dem Ei ist hier ganz klar, dass der Mensch zuerst war.   Die Volkswirtschaft: Wodurch zeichnet sich – wie Sie ihn sehen – ein guter Unternehmer aus? Nordmann: Ein guter Unternehmer muss in erster Linie über persönliche Eigenschaften verfügen wie Verantwortungsbewusstsein, Vorbildcharakter und die Fähigkeit, den Mitarbeitenden Vertrauen zu schenken. Weitere Eigenschaften eines guten Unternehmers sind Risikobereitschaft, Mut, Leidenschaft sowie Innovationskraft. Dazu muss er auch längerfristig strategisch denken können. Er muss ein aktiver «Macher» sein – eben ein Unternehmer und kein «Unterlasser».  Die Volkswirtschaft: Wie schnell verlagert ein solcher guter Unternehmer die Arbeitsplätze ins Ausland? Nordmann: Wenn ein Unternehmer dies tun will, muss er diesen Schritt aus einer langfristigen Perspektive betrachten und nicht aus kurzfristigen Motiven handeln. Es gibt ja bereits Unternehmen, die wieder zurückgekommen sind, weil sich der Erfolg nicht auf Dauer eingestellt hat. Aber es ist durchaus denkbar, dass ein Unternehmer zum Schluss kommt, dass ein Teil der Produktionskette in der Schweiz nicht sinnvoll belassen werden kann, im Interesse der Wahrung der andern Arbeitsplätze in der Schweiz. Generell sind wertschöpfungsintensive Tätigkeiten für die Schweiz besser geeignet. Aber selbst Massenprodukte, die einen hohen Technologiegrad haben, können in der Schweiz produziert werden. Das beste Beispiel dafür ist die Swatch. Bereiche wie die Schwerindustrie werden dagegen in der Schweiz kaum eine Chance haben.  Die Volkswirtschaft: In den letzten Jahren ist die Sozialpartnerschaft in der Schweiz brüchiger geworden. Wie gefährdet ist diese? Nordmann: Wir müssen uns bewusst sein, dass wir in der Schweiz im Vergleich zum Ausland immer noch eine sehr tragfähige Sozialpartnerschaft haben. Es gilt dabei zu unterscheiden zwischen den in der Öffentlichkeit vorgetragenen harten Forderungen und den Verhandlungen an sich. Harte Forderungen sind durchaus legitim und auch der Sozialpartnerschaft nicht abträglich. Niemand muss bereits mit dem Kompromiss an den Verhandlungstisch. In den Verhandlungen selbst ist dann wichtig, dass ein echter Dialog zustande kommt. In der Regel ist bei uns eine gute Gesprächskultur zwischen den Sozialpartnern festzustellen. Was da und dort zu einer gewissen Verhärtung beigetragen hat, ist der Umstand, dass es früher mehr Verhandlungsführer gab, die den Beruf aus eigener Erfahrung als Arbeiter kannten. Die heute mehr theoretische Betrachtungsweise der Verhandlungsführer verzögert manchmal die Lösungsfindung.  Die Volkswirtschaft: Gewisse Kreise befürchten, dass Ihr Nachfolger, Serge Gaillard, sich stark für einen regulierten Arbeitsmarkt engagieren und damit der Schweizer Wirtschaft schaden könnte. Teilen Sie diese Meinung? Nordmann: Ganz klar nein! Ich bin der Überzeugung, dass mein Nachfolger kein «Regulierungsturbo» ist und als guter Ökonom sehr genau abzuschätzen weiss, welche Folgen eine Regulierung in einem Bereich haben wird. Was ihm allerdings gelingen muss, ist, den alten Hut abzulegen und den neuen Hut anzuziehen. Er vertritt jetzt nicht mehr nur die eine Seite; das durfte und musste er tun als Vertreter der Gewerkschaften. Ich bin überzeugt, dass ihm dieser Wechsel auch gelingen wird.

Gesprächsleitung und Redaktion: Geli Spescha, Chefredaktor «Die Volkswirtschaft»   Aufzeichnung des Gesprächs: Simon Dällenbach, Redaktor «Die Volkswirtschaft»

Kasten 1: Chancen des schweizerischen Arbeitsmarktes Die Volkswirtschaft: Wie beurteilen Sie die Chancen und Risiken des schweizerischen Arbeitsmarktes in den nächsten 5 bis 10 Jahren? Nordmann: Wir haben mit der Personenfreizügigkeit die Chance, Arbeitsplätze in der Schweiz allein deshalb zu schaffen, weil sie eventuell mit Personen aus dem Ausland besetzt werden können. Als Schweizer kann man im europäischen Ausland ohne Hindernisse tätig sein – eine wichtige Errungenschaft, die noch besser genutzt werden muss. Auf der anderen Seite setzen wir uns dadurch vermehrter Konkurrenz aus. Wir wollen, dass sich unsere Unternehmen im Vergleich mit dem Ausland bewähren und sich fit halten. Dieser Wettbewerb muss auch auf der Arbeitnehmerseite verstärkt ins Bewusstsein gerückt werden. Das bedeutet, dass wir bereits in der Schule das Wettbewerbsdenken wieder vermehrt pflegen und dieses während des gesamten Erwerbslebens durchziehen müssen, unter anderem mit permanenter Weiterbildung in fachlichen Belangen.Die Volkswirtschaft: Daneben gibt es aber auch Personen, die unqualifiziert sind und in diesem Wettbewerb nicht bestehen können. Was passiert mit diesen? Nordmann: Für diesen Personenkreis gibt es immer wieder Tätigkeiten, die weniger Qualifikationen erfordern und für welche wir nicht Personen aus dem Ausland beiziehen müssen. Denken Sie zum Beispiel an das Gastgewerbe und den Tourismus: Das Bettenmachen in einem Hotel können Sie nicht nach Indien auslagern. Dazu brauchen Sie Leute in der Schweiz, die das zuverlässig erledigen können. Solche eher unterstützende Tätigkeiten werden in verschiedenen Bereichen nach wie vor benötigt, so z.B. im Gesundheitswesen oder in der Wald- und Landschaftspflege.

Zitiervorschlag: Geli Spescha (2007). Jean-Luc Nordmann: Der Grossmeister der Arbeitsmarktpolitik tritt ab. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.