Suche

Abo

Im Gespräch mit Bundesrat Hans-Rudolf Merz: Warum eine radikale Mehrwertsteuerreform?

Im Gespräch mit Bundesrat Hans-Rudolf Merz: Warum eine radikale Mehrwertsteuerreform?

Der Bundesrat möchte die Mehrwertsteuer radikal vereinfachen. Die Totalrevision, die er Mitte Februar in Konsultation geschickt hat, soll weniger Bürokratie, weniger Ausnahmen und wenn möglich einen Einheitssatz von 6% bringen. Für die Unternehmen wie für die Verwaltung ist die Mehrwertsteuer zum Dauerärgernis geworden. Dazu beigetragen haben die drei Sätze, die mittlerweile 25 Ausnahmen und der daraus entstandene riesige administrative Aufwand. Die Vernehmlassung dauert bis Ende Juli. Mit der Inkraftsetzung des neuen Mehrwertsteuergesetzes ist nicht vor 2012 zu rechnen. Der Vorsteher des Eidg. Finanzdepartementes, Hans-Rudolf Merz, erläutert die Vorlage.

Die Volkswirtschaft: Herr Bundesrat, Steuerreformen haben auf Bundesebene Hochkonjunktur: Neben der Reform der Mehrwertsteuer sind es die Unternehmenssteuerreform sowie die Reform der Familien- und Ehepaarbesteuerung, die entweder bereits über die Bühne gegangen sind oder sich in der Pipeline befinden. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Reformen? Merz: Einen eigentlichen Zusammenhang gibt es nicht.  Die Volkswirtschaft: Und was ist der Hintergrund der einzelnen Reformen?  Merz: Die Unternehmenssteuerreform II ist die logische Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform I, die bereits 1997 in Kraft gesetzt wurde. Dort ging es um die Verbesserung des Holdingstandortes Schweiz. Bei der Unternehmenssteuerreform II hingegen handelt es sich um eine ausgesprochene KMU-Vorlage; dazu hat das Parlament wesentlich beigetragen. Hauptpunkte der Revision sind die Besteuerung der Dividenden, die Anrechnung der Gewinnsteuer an die Kapitalsteuer sowie die Beseitigung so genannter Ärgernisse – wie der Transfer vom Geschäftsins Privatvermögen oder die Bewertung von Reserven, die für Neuinvestitionen herangezogen werden. Davon betroffen sind eindeutig kleine und mittlere Unternehmen.   Die Volkswirtschaft: Und beim Reformprojekt Familien- und Ehepaarbesteuerung? Merz: Kernpunkt dieses Reformprojekts war ursprünglich die Beseitigung der Heiratsstrafe. Das Bundesgericht hatte bereits vor über 20 Jahren entschieden, dass die heutige Besteuerung von Ehepaaren verfassungswidrig sei. Mit den Sofortmassnahmen wird die Heiratsstrafe für einen Grossteil der Steuerpflichtigen beseitigt. Nun geht es ums System: Individualbesteuerung oder Splitting – oder beides mit Wahlmöglichkeit.  Die Volkswirtschaft: Und was war die Triebfeder bei der Mehrwertsteuerreform? Merz: Das Parlament hat nach 10 Jahren Mehrwertsteuer vom Bundesrat einen Zwischenbericht über die Erfahrungen verlangt. Bekanntlich war es auch das Parlament, das die Mehrwertsteuer gesetzgeberisch aufgegleist hat – und nicht wie üblich Bundesrat und Verwaltung. Obschon das Parlament bei seinen Beratungen beste Arbeit geleistet hat, erwies sich das Gesetz in der Praxis als unausgeglichen und immer weniger praktikabel. Heute ist die Mehrwertsteuer zu einem administrativen Dschungel, ja einem Monster geworden. Zuerst glaubte ich noch, dieses System könne mit ein paar gezielten Eingriffen vereinfacht werden. Aber je länger ich mich damit auseinandersetzte, desto mehr gelangte ich zur Überzeugung, dass eine Totalrevision unausweichlich ist. Das ist wie beim Umbau eines Hauses, der sich komplizierter gestaltet als ursprünglich angenommen. Irgendwann kommt man zur Einsicht, dass eine Mauer – oder was auch immer – nicht zu retten ist.   Die Volkswirtschaft: Welche dieser Reformen hat für Sie allerhöchste Priorität? Merz: Es gibt nur zeitliche Prioritäten: Bei der Ehepaarbesteuerung gelten ab Januar 2008 die Sofortmassnahmen; der Zweiverdienerabzug wird erhöht und ein Verheiratetenabzug von 2500 Franken für alle Ehepaare eingeführt. Die Unternehmenssteuerreform II wurde von der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates verabschiedet; der Rat wird sich im Frühling damit befassen. Und die Mehrwertsteuerreform ist in der Phase der Vernehmlassung.  Die Volkswirtschaft: Was ist für Sie der wichtigste Grund für die Mehrwertsteuerreform? Merz: Viele Unternehmen haben sich über die Rechtsunsicherheit beschwert. Nach den Kontrollen sind oft grössere Nachzahlungen fällig geworden, und zwar aus Nichtwissen oder Unsicherheit über die Handhabung dieser Steuer. Zudem haben die drei Steuersätze, wie wir sie heute kennen, zu teilweise unglaublichen Abgrenzungsproblemen geführt. Ein weiterer Grund ist der Erhebungsaufwand, der heute einfach zu gross ist. Die von den Unternehmen allein für die Mehrwertsteuer eingesetzten Treuhänder verursachen jährlich Kosten von über 1 Mrd. Franken. Und es ist auch die vorherrschende Steuerkultur, die mich zu einer Totalrevision bewegte: Die Steuerverwaltung hat das Gesetz teilweise sehr rigide gehandhabt, weil sie befürchtete, dass sich andernfalls alle von der Mehrwertsteuer befreien würden. Diejenigen Unternehmen, die sich nicht befreien konnten, erwarteten von der Steuerverwaltung erst recht eine konziliante Behandlung, was diese nicht gewähren konnte. Die Gesamtheit all dieser Umstände brachte mich zur Überzeugung, dass nur ein Befreiungsschlag eine gute Lösung sein kann.  Die Volkswirtschaft: Im internationalen Vergleich sind die Mehrwertsteuersätze in der Schweiz sehr tief. Wie wichtig ist Ihnen das Festhalten an möglichst tiefen Sätzen? Merz: Für die Beibehaltung tiefer Steuersätze gibt es zwei Hauptargumente: Erstens muss die Inlandproduktion auf einem moderaten Niveau besteuert werden, weil wir ein Exportland sind und tiefere Herstellungskosten die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen gegenüber dem Ausland erhöhen. Zweitens handelt es sich bei der Mehrwertsteuer um eine Konsumsteuer, bei der den Leuten das Geld sozusagen direkt aus der Tasche gezogen wird. Je weniger das der Fall ist, desto mehr steht ihnen Geld für den privaten Konsum zur Verfügung.   Die Volkswirtschaft: Der Reformentwurf, den der Bundesrat in die Vernehmlassung geschickt hat, beinhaltet immerhin die Abschaffung von 20 Ausnahmen vom Standardsatz. Wie lassen sich die 5 verbleibenden Ausnahmen, die vorgesehen sind, begründen? Merz: Sie lassen sich alle begründen, wenn auch unterschiedlich: mit einem übertriebenen administrativen Aufwand, aber auch mit der Schwierigkeit, die Bemessungsgrundlage zu definieren, sowie mit sozialpolitischen Argumenten. So steht bei der Landwirtschaft der Erhebungsaufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag. Es gibt sehr viele Betriebe, die einen Umsatz von weniger als 100000 Franken erzielen und unterhalb der Schwelle der Abgabepflicht zu liegen kämen. Wir würden somit Zehntausende von Steuerpflichtigen definieren, von denen aber nur die wenigsten Steuern zahlen müssten.  Bei den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen ist es unmöglich, die Bemessungsgrundlage zu erfassen; ich denke da an Kredite oder Lebensversicherungen. Hingegen kann man die Dienstleistungen erfassen, die mit den Bank- und Versicherungsdienstleistungen verbunden sind. Das werden wir auch weiterhin tun.  Bei den Mieten kommt eine sozialpolitische Komponente zum Tragen. Die Mieter haben keine Möglichkeit, den Vorsteuerabzug geltend zu machen. Die Eigentümer selbst genutzten Wohnraums dagegen schon. Bei Mietern wäre die gesamte Miete steuerbelastet, bei Eigentümern nur die Investitionen und Nebenkosten. Und bei der Befreiung von gewissen Dienstleistungen der öffentlichen Hand ist es der Zwangskonsum, der die Ausnahme begründet.  Die Volkswirtschaft: Der Bundesrat hat drei Modulvorschläge in die Vernehmlassung geschickt – und nicht wie üblich eine Variante. Warum? Merz: Diese Vorgehensweise hat sich hier geradezu aufgedrängt. Wir hätten uns der Kritik ausgesetzt, wenn wir diese Fragen nicht in den politischen Meinungsbildungsprozess hineingegeben hätten. Ein paar Worte zu den einzelnen Modulen: Das Modul «Steuergesetz» ist gewissermassen die Pflicht. Mit den 50 Massnahmen wird eine Totalrevision für mehr Rechtssicherheit, einfachere Verfahren und mehr Kundenfreundlichkeit durchgeführt. Die Kür ist die Diskussion um die Steuersätze: Im Modul «Einheitssatz» plädieren wir für einen generellen Satz von 6%, mit der Subvariante einer unechten Befreiung des Gesundheitswesens. Im Modul «2 Sätze» schliesslich operieren wir mit den zwei Sätzen 7,6% und 3,4%.   Die Volkswirtschaft: Besteht nicht die Gefahr, dass mit der Neuunterstellung des Gesundheitswesens, aber auch mit dem Wegfall des ermässigten Satzes für Lebensmittel, einkommensschwache Personen und Haushalte mit der Reform stärker belastet werden? Merz: Sie haben Recht. Bei den heute reduziert besteuerten Gütern namentlich des Nahrungsmittel- und des Gesundheitsbereichs ist mit einer Mehrbelastung zu rechnen, wenn auch in unterschiedlichem Masse. Die Mehrbelastung der einkommensschwächsten Haushalte beläuft sich durchschnittlich auf rund 0,5% des Einkommens. Die Verteilungswirkungen halten sich also im Rahmen. Trotzdem stellen wir ein zeitlich befristetes sozialpolitisches Korrektiv zur Diskussion.  Die Volkswirtschaft: Die IV-Sanierung soll über die Erhöhung der Mehrwertsteuer erfolgen. Bleiben somit tiefe Mehrwertsteuersätze, wie Sie sie anstreben, nicht eine Illusion? Merz: An der Mehrwertsteuer hängen verschiedene Gesetze und Kassen, so z.B. der Finöv-Fonds, die AHV und ein Teil des KVG-Bereichs. Diese Einnahmen müssen gesichert werden. Wofür ich plädiere, ist, dass der Übergang ins neue Mehrwertsteuerregime haushaltsneutral zu gestalten sei. Wir wollen mit der Revision weder Mehrnoch Mindereinnahmen erzielen. Deswegen muss die Frage der IV-Finanzierung vollkommen getrennt betrachtet werden, was vor allem zeitlich geschehen muss. Wenn beide Projekte, die IV-Sanierung und die Mehrwertsteuerreform, zur gleichen Zeit spruchreif würden, würden wir riskieren, dass sich die Opposition kumuliert und beide Vorlagen auf der Strecke blieben. Im Übrigen sehe ich leider kaum eine andere Möglichkeit zur Sanierung der IV als eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Lohnprozente kommen für mich nicht in Frage, weil sie der Preisbildung und damit der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft schaden. In welchem Ausmass und mit welcher Dauer, darüber wird noch beraten. Aber an der Notwendigkeit an sich besteht kein Zweifel.  Die Volkswirtschaft: Gemäss heutigem Timing ist mit der Inkraftsetzung der Mehrwertsteuer erst 2012 zu rechnen. Wäre es angesichts dieses langen Zeithorizonts nicht sinnvoller, das Reformpaket aufzuschnüren? Merz: Aus meiner Sicht ist in der Wirtschaft niemand der Meinung, man müsste nicht mindestens das Modul 1 umsetzen. Wir haben ja auf dem Weg dorthin bereits zwei Etappen hinter uns. Mit rund 20 Massnahmen hat die Eidg. Steuerverwaltung die Praxis bereits geändert. Auch die Verordnungen wurden angepasst. Vor uns liegt also die dritte Stufe, die Gesetzesebene. Davon dürfen wir auf keinen Fall abweichen.  Zum Zeitplan: Die Vernehmlassung dauert bis im Sommer 2007; wir werden bis Ende 2007 die Gewissheit haben, in welche Richtung sich das Projekt entwickelt. 2008 folgt die Botschaft und dann die parlamentarische Beratung. Ein solches Geschäft dürfte etwa 2 Jahre unterwegs sein. Das bedeutet, dass die Mehrwertsteuerreform voraussichtlich 2010 vom Parlament verabschiedet wird.  Die Inkraftsetzung des neuen Mehrwertsteuergesetzes wird mit erheblichen Umstellungen verbunden sein. Denken Sie etwa an die nötige neue Software bei den Unternehmen oder die neuen Verordnungen. Somit erscheint in der Tat 2012 als frühest möglicher Termin der Inkraftsetzung.  Die mögliche Volksabstimmung über die IV-Sanierung muss vor einer eventuellen Abstimmung über die Mehrwertsteuerreform stattfinden. Eine Annahme hätte zur Folge, dass die Mehrwertsteuersätze entsprechend erhöht würden – aber nicht wegen der Revision, sondern eben infolge der IV-Sanierung. Wenn es uns gelingt, diese beiden Dinge klar genug voneinander zu trennen, ist mir nicht bange um die Annahme der Mehrwertsteuerreform.   Die Volkswirtschaft: Wie wollen Sie die Bürger und Politiker für die Reform gewinnen, besonders die Interessenvertreter, die für Ausnahmen kämpfen? Merz: Es müssen sich jetzt alle die Hand geben und den Mut haben zu sagen, wir machen bei dieser Reform mit, um einen Beitrag zur Entwicklung des Ganzen zu leisten. Die internationalen Entwicklungen im Steuerbereich stehen nicht still. Wir sind also gefordert, und ich hoffe, dass wir den Mut aufbringen, uns zu bewegen. Es geht letztlich um die Frage, wie reformfähig wir sind. Wenn alle nur um ihr eigenes Wohl besorgt sind und immer mehr Ausnahmen verlangen, kommen wir nirgends hin. Wir müssen erkennen, dass dieses Projekt volkswirtschaftlich positive Auswirkungen hat: durch Reduktion der «Taxe occulte» und Verminderung der Erhebungskosten.  Die Volkswirtschaft: Herr Bundesrat, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Gesprächsleitung und Redaktion: Geli Spescha, Chefredaktor «Die Volkswirtschaft»  Aufzeichnung des Gesprächs: Simon Dällenbach, Redaktor «Die Volkswirtschaft»

Zitiervorschlag: Geli Spescha (2007). Im Gespräch mit Bundesrat Hans-Rudolf Merz: Warum eine radikale Mehrwertsteuerreform. Die Volkswirtschaft, 01. April.

Das könnte Sie auch interessieren