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Internationale Regulierung: Chancen und Gefahren für ein wirksames Safety Management

Die Standardisierung des modernen Safety Management befindet sich in einem Spannungsfeld. Sie ist einerseits ein Instrument hoher Interoperabilität und Investitionssicherheit; anderseits hat sie eine gewisse systeminhärente Trägheit zur Folge. Im nachfolgenden Artikel wird die Wirkungsweise der bisherigen resultatbezogenen Regulierung einer komplementären prozessbezogenen Regulierung gegenübergestellt. Schliesslich wird die Bedeutung der Regulierung im Licht von Safety Management komplexer Systeme behandelt. Nicht Thema dieses Artikels sind Aspekte der Security (Gefahren im Bereich des Terrorismus und der Kriminalität).

Die Luftfahrt gehört zu den wenigen Systemen, die seit einem halben Jahrhundert systematisch international normiert und reguliert werden, von der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (Icao). Gegenstand der Regulierung sind hoheitliche, wirtschaftliche und technisch-operationelle Aspekte, die alle in Wechselbeziehung zueinander stehen. So hat ein hohes Mass an internationaler Standardisierung mitentscheidend zum Erfolg dieses landesübergreifend funktionierenden Verkehrsträgers beigetragen. Es besteht ein dichtes Netz von so genannten Standards and Recommended Practices (Sarps) für alle wesentlichen Bereiche der Luftfahrt: – Flugoperation und -verfahren; – Ausbildung und Lizenzierung der Besatzungen;  – Herstellung, Zertifizierung und Unterhalt der Luftfahrzeuge; – Bereitstellung und Betrieb der Infrastruktur, wie z.B. Flugsicherung und Flughäfen. (Allerdings besteht hier eine stellenweise deutlich kleinere Regulierungsdichte, weil diese Leistungen in der Vergangenheit teilweise stark hoheitlichen Charakter hatten.)

Vorteile der Standardisierung…


Durch die stark durchdringende Standardisierung wurde ein hoher Grad an Interoperabilität erreicht. Diese wiederum erlaubt ohne Weiteres den grenzüberschreitenden Betrieb und den vergleichsweise einfachen Markteintritt von betreibenden Gesellschaften, aber auch von Herstellern und Dienstleistern. Die Zertifizierungs- und Zulassungsverfahren – gerade für Flugzeuge und Triebwerke – sind im Wesentlichen vereinheitlicht und gegenseitig anerkannt. Dies ermöglicht Herstellern überhaupt, Produktinnovationen am internationalen Markt zu rentabilisieren. Sie kommen der Wirtschaftlichkeit, dem Umweltschutz und insbesondere der Sicherheit zugute. Gerade Investitionen eines Betreibers in Umweltschutz und Sicherheit sind mit klassischen Return-on-Investment-Berechnungen schwer abzubilden, weil der Nutzen entweder buchhalterisch gar nicht zu beziffern ist oder zumindest erheblich zeitverzögert eintreten wird. Ohne internationale Standardisierung wären diese Investitionen noch schwieriger zu tätigen. Das Safety Management profitiert erheblich von der Standardisierung. Zum einen ist in den Standards und Empfehlungen der verschiedenen Luftverkehrsorganisationen Neben der Icao u.a. die Federal Aviation Administration (FAA), die Europäische Agentur für Flugsicherheit (Easa) und Eurocontrol. ein immenses Wissen über den sicheren Betrieb dieses komplexen Systems verdichtet. Zum andern erlauben diese Sarps die Operationalisierung der Expertise und brechen teilweise die systeminhärente Komplexität. Das Resultat ist eine beispielhafte Leistung bezüglich Sicherheit bei einem gewaltigen Verkehrsvolumen: Die heutige weltweite professionelle Flugoperation fordert jährlich im Durchschnitt nicht mehr Todesopfer als der schweizerische Strassenverkehr.

…und deren Grenzen


Die Standardisierung birgt aber auch Nachteile und Gefahren. Zunächst sind die Sarps von Menschenhand, vielfach im Konsensverfahren, eingeführt worden. Gezwungenermassen in Kauf zu nehmende Unzulänglichkeiten menschlichen Tuns führen zur Erkenntnis, dass die Standards und Empfehlungen nicht lückenlos und nicht fehler- und widerspruchsfrei sein können. Folglich kann selbst die strikte Einhaltung der Sarps nicht zur totalen Sicherheit führen. Allein aus diesem Grund wird ein Restrisiko im System bestehen bleiben. Zu diesen Unzulänglichkeiten kommen auch unvermeidbare Risiken durch die Anwender als sozio-technische Systeme. Auch bestausgestaltete Sicherheitskulturen können den Anspruch der Risikofreiheit nicht erfüllen. Die Bereitschaft, ein Restrisiko zu tragen, ist eine gesellschaftspolitische Frage. Deutlich ausgeprägter ist folgende Herausforderung der Standardisierung: Die in den hoch kompetitiven Märkten operierenden Unternehmen können versucht sein, sich auf die Erfüllung der gesetzlich bindenden Standards zu beschränken und auf die Umsetzung der empfohlenen Praktiken zu verzichten. Diese Diskussion wird zuweilen auch unter den Begriffen «Regeln der Technik» und «Stand der Technik» geführt. Überdies wird die Feststellung nicht überraschen, dass Partikularinteressen von Marktteilnehmern und Staaten dazu führen können, dass in einer internationalen Organisation relevante Erkenntnisse nicht immer in Empfehlungen oder gar Standards münden. Die zuweilen langsame Weiterentwicklung der Sarps oder die aufwändigen Zertifizierungsverfahren können die Nutzung technisch einführungsreifer und sicherheitsförderlicher Innovationen verzögern oder gar verhindern. Der erwähnte international erleichterte Marktzugang (dank der Standardisierung und der gegenseitig anerkannten Zulassung) wird teilweise durch den Aufwand der Normerfüllung abgeschwächt.

Neuer prozessbezogener Ansatz


Im Umfeld bisher hoheitlich wahrgenommener Aufgaben besteht ein struktureller Bedarf an Standardisierung. Das wird besonders deutlich im Bereich der Flugsicherung, die bisher von einer teilweise dünnen resultatbezogenen Regulierung geprägt ist. Eurocontrol hat dies erkannt und für alle am geplanten Single European Sky interessierten Flugsicherungsgesellschaften einen neuen, komplementären prozessbezogenen Ansatz entworfen. Die Eurocontrol Safety Regulatory Requirements (Esarrs) geben nicht technische Detailspezifikationen vor, sondern verlangen von den Flugsicherungsdienstleistern Metastrukturen.  Diese Metastrukturen fokussieren auf den konstruktiven Umgang mit Störungen und Fehlern, die Ausbildung und Lizenzierung, die Risikobeurteilung von Systemänderungen sowie die Art und Weise, wie Systeme grundsätzlich zu spezifizieren, entwerfen, bauen und zu prüfen sind. Für das Sicherheitsmanagement ist dies ein erfolgversprechender Ansatz: Er ist technisch-operationell lösungsneutral und deshalb im Vergleich zum Bottom-up-Ansatz nicht demselben Änderungsrhythmus unterworfen. Diese relative Stabilität ist der erreichbaren Sicherheit grundsätzlich förderlich. Insgesamt ist der prozessorientierte Ansatz darauf ausgerichtet, eine stete Verbesserung in den Unternehmen zu erwirken. Der schiere Umfang und die Komplexität des bisherigen internationalen Normenwerks verhindern zuweilen eine hinreichend schnelle Anpassung an die Entwicklung.

Umgang mit Komplexität


Das Luftfahrtsystem ist breit gefächert. Es vernetzt Teilbranchen mit vollständig unterschiedlichen Geschäftsmodellen, Technologien und Berufsgruppen mit der ganzen Breite an Bildungsansprüchen. Das System ist grenzübergreifend und mit politischen, wirtschaftlichen, psychologischen und technischen Rückkoppelungen versehen. Die Standards und guten Praktiken leisten einen wesentlichen Beitrag zur Interoperabilität im System.  Auf der Mikroebene sind die Sarps ein wesentliches Werkzeug für die Gestaltung der Arbeitsprozesse in den verschiedenen Teilbranchen und zur Sicherstellung vorhersagbarer Resultate dieser operationellen Prozes-se – einem zentralen Anliegen aus Sicht der Sicherheit. Komplexe, sehr sicherheitssensitive Arbeiten – wie zum Beispiel ein Triebwerkwechsel inklusive Betriebstest – werden dank solcher Strukturen an (lizenzierte) Mitarbeitende ohne Tertiärausbildung endgültig delegiert. Wenngleich die Sarps bedeutende Arbeitsvorgänge delegierbar machen, so bleibt trotz hohem Anspruch an das Verantwortungsbewusstsein der Ausführenden und deren Vorgesetzten – insbesondere in Bezug auf die Ausbildung und den lernenden Umgang – das menschliche Tun mit Fehlern behaftet. Die Sarps bilden aber auch die Grundlage für die Interoperabilität auf der Makroebene. Das grenzübergreifende Zusammenspiel von Flugsicherung, Flugwetterdiensten sowie der Einsatz- und Routenplanung der Fluggesellschaften ist beispielsweise auf dieses Normenwerk angewiesen. Auch hier steht die Vorhersagbarkeit der Resultate für beherrschte Prozesse und ist neben der kommerziellen Bedeutung eines reibungslosen Betriebs von direkter Bedeutung für die Luftfahrtsicherheit. Das gesamte internationale Normenwerk ist schliesslich eine wesentliche Hilfe gerade für kleinere Länder. Die von Icao, Eurocontrol und anderen Organisationen geschaffenen Strukturen wären für kleinere Länder kaum erreichbar und mit den Handelspartnern abstimmbar. Der Preis für die Übernahme der internationalen Standards ist allerdings, dass die Einflussmöglichkeiten eines einzelnen Staates eher klein sind. Um die Gestaltungsmöglichkeiten zu wahren, ist eine konsequente und aktive Teilnahme in den massgebenden internationalen Gremien erforderlich.

Suche nach dem Gleichgewicht


Aus Sicht der Luftfahrtsicherheit bieten international abgestützte und gelebte Sarps eine der wesentlichen Voraussetzungen für ein nachhaltig wirksames Safety Management. Dies gilt sowohl für technisch-operationelle und organisatorische wie auch für institutionelle Belange. Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen der Tiefe der vorhandenen Sicherheitskultur bei Ausführenden und Kadern einerseits und der Langjährigkeit relevanter Sarps andererseits.  Ebenso bedeutend scheint auch die Beobachtung, dass Standards und empfohlene Praktiken dem konkreten Gegenstand oder Prozess gerecht werden müssen. Ein Zuwenig ist der erreichbaren Sicherheit ebenso abträglich wie ein Zuviel. Relevante Lücken können im kompetitiven Umfeld dazu verleiten, auf sicherheitsrelevante Massnahmen zu verzichten. Bei überbordenden oder zu schnell verschärften Sarps besteht die Gefahr, dass die Aufmerksamkeit ungebührlich vom weiterlaufenden Tagesgeschäft abgelenkt wird. Wirksames Safety Management lebt – neben den hier ins Zentrum gerückten Regeln – von stetiger, langfristig angelegter Entwicklung und vom Wahrnehmen der Verantwortung nach dem Stand der Technik. Zum künftigen Stand der Technik wird eine Firmenkultur gehören müssen, die unerwartete Fehler und Risiken als natürliche Begleiterscheinungen anerkennt, sich gleichzeitig aber systemisch darauf einrichtet, diese als Teil des Tagesgeschäfts nachhaltig und schnell einzudämmen.

Zitiervorschlag: Andrea Norbert Muggli (2007). Internationale Regulierung: Chancen und Gefahren für ein wirksames Safety Management. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.