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Praktische Herausforderungen des demografischen Wandels

Praktische Herausforderungen des demografischen Wandels

Das Durchschnittsalter der Bevölkerung in den entwickelten Industrieländern steigt stetig. Nicht nur Politik und Gesellschaft sind durch diesen Trend herausgefordert, auch Unternehmen müssen sich dieser Thematik annehmen. Indem Unternehmen die Risiken und Chancen des demografischen Wandels frühzeitig einschätzen, können sie die nötigen Massnahmen rechtzeitig in die Wege leiten.

In den Industrieländern sind wir mit zwei gegenläufigen Entwicklungen konfrontiert. Während die durchschnittliche Lebenserwartung seit über 100 Jahren unaufhörlich steigt, ist die Geburtenrate auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. In seinen Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung spricht das Bundesamt für Statistik (BFS) denn auch eine klare Sprache: Ab 2010 bis 2030 wird gemäss diesen Prognosen der Anteil der Über-50-Jährigen an der Erwerbsbevölkerung von heute 25% auf über 30% ansteigen. Gleichzeitig soll in diesem Zeitraum die Erwerbsquote in der Schweiz von 57% auf 53% fallen.  Wirtschaftsführer weltweit sind sich einig, dass der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in den kommenden Jahren zu einem Bremsklotz für die Weltwirtschaft werden könnte, wenn die Generation der Baby-Boomer ihr Pensionsalter erreicht. Schon jetzt haben viele Unternehmen Mühe, Stellen mit hohen Anforderungsprofilen zu besetzen. In diesem Frühjahr meldeten Schweizer Grossunternehmen insgesamt mehrere Tausend offene Stellen.  Unsere Volkswirtschaft ist deswegen darauf angewiesen, das Potenzial der Arbeitskräfte in Zukunft optimal ausschöpfen zu können. Angesichts des wachsenden Anteils der Älteren an der Erwerbsbevölkerung liegt es auf der Hand, deren Fähigkeiten länger und besser als bisher zu nutzen. Um den Entwicklungen des demografischen Wandels in positiver Weise begegnen zu können, sind konkrete Massnahmen auf verschiedenen Gebieten nötig.

Den Wandel erforschen


In erster Linie müssen sich Unternehmen frühzeitig mit den möglichen Auswirkungen und Risiken der demografischen Trends auseinandersetzen. Hier geht es vor allem auch darum, herauszufinden, wie sich die Alterspyramide auf das Unternehmen auswirkt. Aber auch Migrationsströme und die Globalisierungseffekte müssen in diesen Prognosen berücksichtigt werden. In einem zweiten Schritt gilt es, konkrete Projekte und Instrumente umzusetzen. Seit Jahren steht IBM deshalb weltweit im Dialog mit Akademikern, Regierungsvertretern, Entscheidungsträgern aus der Wirtschaft, Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und Think Tanks, um herauszufinden, wie wir diesem Problem gemeinsam begegnen können.  IBM hat verschiedene Forschungspro-jekte realisiert, die sich den möglichen Herausforderungen des demografischen Wandels widmen. So wurde in einer vom Unternehmen in Auftrag gegebenen Studie die strategische Personalplanung der IBM Schweiz unter dem Aspekt der demografischen Veränderung analysiert. Denn erst ein fundierter Personalentwicklungsplan kann die längerfristige Leistungserstellung eines Unternehmens gegenüber seinen Kunden gewährleisten. Ein Ziel der Forschungsarbeit war es, unterschiedliche Prognoseverfahren für Bevölkerungszahlen zu beschreiben und zu beurteilen. Damit kann das Personalmanagement ein Simulationstool entwickeln, welches die zukünftige Personalentwicklung voraussagt. Durch solche Forschungsprojekte kann ein Unternehmen zukünftige Problembereiche frühzeitig identifizieren und die geeigneten Massnahmen ergreifen.

Wissen erhalten und weitergeben


Wenn wertvolle Know-how-Träger zu Heerscharen in Pension gehen, werden damit Erfahrungen, Kompetenzen und persönliche Netzwerke ebenfalls in den Ruhestand versetzt. Wer soll nun zum Beispiel hochkomplexe Grossrechner pflegen und weiterentwickeln, deren Kernsysteme vor 30 Jahren entstanden sind und deren Software mit einer Programmiersprache geschrieben wurde, die heute an den Hochschulen nicht mehr gelehrt wird? Dieses für den Unternehmenserfolg elementare Know-how gilt es durch Aus- und Weiterbildungsprogramme zu sichern. Dabei ist es ratsam, auch ältere Mitarbeitende in den Vermittlungsprozess einzubeziehen, sei es in Mentoren- und Coachingprogrammen oder zum Einarbeiten von neuen Mitarbeitenden.  Studien helfen dabei herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt welche Kompetenzen und welches Know-how aus dem aktiven Erwerbsleben ausscheiden. Um den notwendigen Wissenstransfer zu ermöglichen, braucht es ein Workforce Management und die in der Forschung erarbeiteten mathematischen Modelle, die eine solche Projektion möglich machen. Grundsätzlich gilt es, das Wissen innerhalb einer Organisation zugänglich zu machen und somit den Transfer an die jüngeren Generationen zu gewährleisten.

Ältere Mitarbeitende fördern


Demografische Entwicklungen fordern von den Unternehmen auch konkrete personalpolitische Massnahmen. Wir benötigen flexiblere Arbeitszeitmodelle, um Mitarbeitende an das Unternehmen zu binden. So können wir ihnen eine gute Balance zwischen Arbeit und anderen Lebensbereichen ermöglichen. Diese Modelle müssen auch ältere Mitarbeitende im Pensionsalter miteinbeziehen. Auf diesem Gebiet haben sich die Einstellungen von Schweizer Unternehmen zum Positiven gewandelt, wie eine Befragung von Avenir Suisse unter dem Titel «Arbeit und Karriere: Wie es nach 50 weitergeht» gezeigt hat. Demnach haben bereits 70% der antwortenden Betriebe mindestens eine Massnahme zur Förderung älterer Mitarbeitender getroffen. Zu diesen Massnahmen gehören die Einführung der Teilpensionierung gegen Berufsende sowie Stellenwechsel innerhalb des Unternehmens.  Bei IBM legen wir zudem grossen Wert auf eine Kultur des lebenslangen Lernens. Dazu gehört, dass alle Mitarbeitenden unabhängig vom Alter in regelmässigen Zielvereinbarungsgesprächen mit dem Vorgesetzten über die eigene Aus- und Weiterbildung sprechen. Auf diese Weise können Mitarbeitende Wissenslücken schliessen und ihre Laufbahn aktiv mitgestalten.

Zugang für alle


Angesichts des wachsenden Anteils der Älteren an der Erwerbsbevölkerung liegt es auf der Hand, deren Fähigkeiten länger und besser als bisher zu nutzen. Wir müssen verhindern, dass sich ältere Arbeitnehmende frustriert aus dem Erwerbsleben verabschieden, weil das Umfeld nicht ihren Anforderungen und Möglichkeiten gerecht wird. Wie wichtig zum Beispiel altersgerechte Computerprogramme als Element einer vorausschauenden Personalpolitik sind, zeigt der Blick in die Medizinalstatistiken. Mit zunehmendem Alter nimmt das Sehvermögen bei praktisch allen Menschen ab. 90% der Über-50-Jährigen sehen wesentlich schlechter als noch in jüngeren Jahren. Mit den heutigen technischen Kenntnissen lässt sich diese Barriere ohne grosse Kosten aus dem Weg räumen. Dazu sind ein Bewusstsein beim Management und die Verankerung der entsprechenden Anforderungen in allen Pflichtenheften für die Beschaffung und Entwicklung von Software notwendig. In Anbetracht der relativ langen Beschaffungszyklen von Business-Software sollte man beachten, dass die Umstellung auf altersgerechte Programme relativ lange dauert.  Idealerweise sollten zukünftig sämtliche Computerprogramme im Unternehmen so gestaltet sein, dass sie sowohl von normal wie auch von schlechter Sehenden problemlos bedient werden können. Übersichtlich gestaltete und sauber aufgebaute Programme können von allen Mitarbeitenden effizienter bedient werden. Unternehmen sollten diese Optimierung der Arbeitsinstrumente als Investition zur Erhöhung der Produktivität betrachten und nicht bloss als Kostenfaktor einer bestimmten Anwendergruppe.

Perspektiven und Chancen


Die hier dargestellten Massnahmen erheben nicht den Anspruch, vollständig zu sein. Eine personalpolitische Massnahmenplanung muss flexibel bleiben und ständig überprüft werden. Neben der Altersstruktur der Erwerbstätigen sollte man auch Migrationsströme und Globalisierungseffekte nicht aus den Augen verlieren. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssen zusammenwirken, um die Chancen des Alterungsprozesses zu erkennen und zu ergreifen. Und es wäre wünschenswert, wenn sich in der Wirtschaft die Erkenntnis durchsetzt, dass auch Ältere motiviert und leistungsfähig sein und bleiben können.

Grafik 1 «Entwicklung der Altersgruppen der schweizerischen Erwerbsbevölkerung, 2000-2020»

Zitiervorschlag: Hans-Juerg Roth (2007). Praktische Herausforderungen des demografischen Wandels. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.