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Der wirtschaftliche Höhenflug der Türkei und die Schweiz

Die Türkei erlebt seit einigen Jahren einen ausgeprägten Wirtschaftsaufschwung, der vorderhand anhalten dürfte. Die ausländischen Unternehmen schätzen es, in diesem Land zu arbeiten, auch wenn in Sachen Bürokratie und Geistiges Eigentum noch gewisse Hürden bestehen. Trotz kräftig wachsendem Handels- und Investitionsvolumen verliert die Schweiz jedoch – wie andere europäische Länder – in der Türkei Marktanteile. Um dem Handel neue Impulse zu verleihen, sollten die offiziellen Kontakte und die Bilaterale Wirtschaftskommission neu belebt werden. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die Förderung der Beziehungen zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in den beiden Ländern zu legen.

In der Türkei vollzieht sich derzeit eine eigentliche wirtschaftliche Revolution. Das Land erfuhr in den letzten Jahrzehnten eine exponentielle Entwicklung, sowohl im Bereich der Infrastruktur mit dem Bau von grossen Zentren als auch auf kultureller Ebene. Dieser Trend dürfte sich bis auf Weiteres fortsetzen. Die Bevölkerung des Landes wird von heute etwas mehr als 70 Mio. Personen – mit einem hohen Anteil von Jugendlichen – bis im Jahr 2025 auf 90 Mio. anwachsen. Gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) ist die Türkei heute die siebzehntgrösste Volkswirtschaft der Welt, und bis 2050 könnte sie bis auf Rang 7 vorrücken. 2005 erreichte das BIP zum ersten Mal jenes der Schweiz. Die Kaufkraft hat sich in den vergangenen fünf Jahren um 50% erhöht und dürfte in den kommenden fünf Jahren nochmals so stark zunehmen. Die Türkei gehört zur Gruppe der «Next Eleven» (N-11), die gemäss der Investmentbank Goldman Sachs nach den Bric-Ländern (Brasilien, Russland, Indien, China) bezüglich Investitionen und Wachstum die vielversprechendsten Aussichten aufweisen. Ein weiteres Plus ist die strategisch wichtige geografische Lage der Türkei: Sie bildet aufgrund ihrer Geschichte und ihrer heutigen Situation eine Brücke zwischen Europa und Asien.

Bewegte politische Entwicklung


Die islamisch orientierte Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des abtretenden Ministerpräsidenten Recip Erdogan hat die vorgezogenen Parlamentswahlen vom 22.Juli 2007 gewonnen und will ihre bislang erfolgreiche Politik weiterführen. Am 28.August 2007 wurde Abdullah Gül, der Kandidat der AKP, zum Präsidenten gewählt. Die Partei wird wegen ihres wirtschaftlichen Erfolgs und der stabilen Lage des Landes in den vergangenen fünf Jahren geschätzt. Im Zentrum der Regierungspolitik stand die Umsetzung wichtiger struktureller Reformen (Privatisierungen, Reform des Bankensektors usw.). Zudem wurden Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union (EU) aufgenommen. Die Angst vor einer Islamisierung des Landes – etwa vor der Einführung einer allgemeinen Pflicht zum Tragen eines Kopftuchs – prägten die politischen Ereignisse dieses Jahres: Annullierung der Präsidentschaftswahl, Demonstrationen und vorgezogene Parlamentswahlen… Zur Opposition gehörten namentlich die «Säkulären», die sich auf eine laizistische Staatsdefinition stützen, wie sie Atatürk in den 1920er-Jahren propagiert hatte. Diese Kräfte werden auch von der Armee unterstützt. Die türkische Gesellschaft ist sehr heterogen. Hier treffen traditionelle und moderne Lebensformen aufeinander, wobei Letztere vor allem in den Grossstädten Istanbul und Ankara dominieren.

Dynamische Wirtschaft


Durch die Liberalisierung des Landes konnte das BIP innerhalb von vier Jahren um über 40% gesteigert und das Handelsvolumen verdreifacht werden. 2006 erreichten die türkischen Exporte 85 Mrd. US-$, gegenüber 36 Mrd. US-$ im Jahr 2002. Die Auslandinvestitionen explodierten geradezu: Von 1 Mrd. US-$ im Jahr 2003 kletterten sie auf 20 Mrd. US-$ 2006, und der Trend scheint auch 2007 ungebrochen. Innerhalb von vier Jahren ist die Zahl der ausländischen Unternehmen beträchtlich gewachsen. In jüngerer Zeit tätigten vor allem die Niederlande, Belgien und Griechenland umfangreiche Investitionen. Dem stehen allerdings erhöhte Werte in Sachen Inflation, Leistungsbilanz und Arbeitslosigkeit sowie eine defizitäre Leistungsbilanz gegenüber. Die meisten Arbeitsplätze bietet der Dienstleistungsbereich (47%), gefolgt von der Landwirtschaft (27%) und der Industrie (20%). In den letzten Jahren hat die Landwirtschaft kontinuierlich an Bedeutung verloren.

Die Türkei und der IWF


Die Beziehungen zwischen dem IWF und der Türkei haben eine lange Tradition. Das laufende Programm ist das Ergebnis des 19. Abkommens zwischen der Türkei und dieser Institution. Experten sprechen von den Neunzigerjahren als einem verlorenen Jahrzehnt in der Wirtschaftsgeschichte des Landes. Die letzten fünf Jahre hingegen brachten einen kräftigen Aufschwung. Angesichts der finanziellen Lage des Landes ist ein neues Programm nicht mehr unbedingt notwendig. Die Analyse des IWF wird jedoch von der internationalen Finanzgemeinschaft als Garantie für wirtschaftliche Disziplin bezüglich Budgetdefizit, Inflation und Umsetzung der Reformen betrachtet. Eine gewisse Vorsicht ist nach Meinung von Fachleuten aufgrund der Anfälligkeit einiger Indikatoren geboten. Das Wachstumstempo wird nur beibehalten werden können, wenn in verschiedenen Bereichen weitere Reformen durchgeführt werden. Dazu gehören der Arbeitsmarkt, das Steuersystem (umfangreiche informelle Wirtschaft), die Landwirtschaft, der Finanzsektor und die Pensionskassen. Die Teuerung liegt seit drei Jahren über dem Zielwert. Auch die Zinssätze bleiben hoch. Die Situation bezüglich Staatsverschuldung hat sich zwar gebessert; das Niveau muss aber weiter gesenkt werden. Das Leistungsbilanzdefizit ist hingegen weniger problematisch und nicht als Ungleichgewicht zu verstehen, das es unbedingt zu beheben gilt. Im Gegenteil: Es kann auch auf umfangreiche Investitionsmöglichkeiten hinweisen.

EU-Beitritt als strategisches Ziel


Die Türkei und Europa können auf eine langjährige Beziehung zurückblicken. Meilensteine waren die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens 1963 und einer Zollunion 1996. Seit 1999 hat das Land den Status eines Beitrittskandidaten, und im Oktober 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Die technischen Verhandlungen sind noch im Gange. Die Übernahme der geltenden EU-Standards wird umfangreiche Anpassungen der Wirtschaft in verschiedenen Bereichen erfordern – namentlich in der Landwirtschaft – und noch Zeit in Anspruch nehmen. Während die technischen Dossiers vorankommen, sind verschiedene wichtige poli-tische Fragen hängig, etwa das Verbot für griechisch-zypriotische Flugzeuge und Schiffe, die Häfen und Flughäfen in der Türkei zu benutzen. Das strategische Ziel des EU-Beitritts ist integraler Bestandteil der Aussenpolitik des Landes. Als theoretisches Datum für einen Beitritt wird etwa 2014 genannt. Die Begeisterung der türkischen Bevölkerung für die EU hat allerdings nachgelassen, da die Haltung Europas als Ablehnung empfunden wird. Die Integration eines muslimischen Landes dieser Dimension in Europa wäre für das regionale und globale politische Gleichgewicht gleichzeitig eine Herausforderung und eine Chance.

Grosses Marktpotenzial in der Türkei


Die Türkei birgt für die europäischen Länder erhebliche Marktchancen. Zur Förderung der Beziehungen werden entsprechende Mittel bereitgestellt. Das Potenzial ist trotz latenter Risiken unbestritten. Die Wirtschaft des Landes wird heute insgesamt als stabil wahrgenommen. Die politischen Ereignisse dieses Jahres wirkten sich nur unwesentlich auf die Wirtschaft aus, und die Märkte reagierten nach den letzten Parlamentswahlen positiv. Die Unternehmen wünschen sich vor allem Stabilität und ein günstiges Geschäftsklima, wie dies in den letzten Jahren überwiegend der Fall war. Die ausländischen Firmen schätzen zum Grossteil das Arbeitsklima in der Türkei. Sie erachten das Land als dynamischen, expandierenden Markt, in dem sich selbst in Krisenzeiten Gewinn erwirtschaften lässt. Gewisse Unternehmen decken den Markt im Nahen Osten und in Asien von der Türkei aus ab. Besonderes Potenzial haben – gemäss diversen Quellen – die Gebiete an der Grenze zu Irak und Iran sowie einige Zentren, die relativ gesehen kräftiger expandieren als der Rest des Landes. Trotz gewisser Schwierigkeiten bewerten die Unternehmen ihre Präsenz im Land als rentabel. Als Probleme werden folgende Aspekte genannt: Zoll, Verwaltung, Steuern, Visa, Arbeitsbewilligungen, Importlizenzen, Referenzpreissystem, Geistiges Eigentum oder die Stärke der Türkischen Lira.

Schweiz-Türkei: Wirtschaftsbeziehungen mit Ausbaupotenzial


Die Türkei bietet einen grossen Markt. Die Schweizer Exporte in Richtung Türkei (1,3% der schweizerischen Exporte im Jahr 2006) übertreffen jene in Richtung vieler europäischer (wie Polen, Portugal, Griechenland, Skandinavien, baltische Länder oder Osteuropa) und Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien oder Mexiko). Die Schweizer Unternehmen sind im Land gut vertreten und decken verschiedene Sektoren ab, wie Maschinenindustrie, Chemie und Pharma, Banken, Versicherungen, Verkehr, Nahrungsmittelindustrie oder Tourismus. Zudem beteiligen sie sich an Grossprojekten, namentlich im Energiebereich. Die offiziellen Beziehungen wurden durch die politischen Folgen der Anerkennung des «armenischen Völkermords» durch das Schweizer Parlament im Jahr 2003 und verschiedene Strafverfahren gegen türkische Staatsangehörige wegen Leugnung des Genozids auf Schweizer Staatsgebiet getrübt. Die Schweizer Unternehmen erfuhren dadurch höchstens punktuell oder bei der Vergabe gewisser öffentlicher Verträge Benachteiligungen im türkischen Markt. Zudem wurden nach dem Besuch des damaligen Vorstehers des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD) im Jahr 2002 zwei weitere geplante Treffen verschoben. Es drängen sich Initiativen von beiden Seiten zur Wiederbelebung der offiziellen bilateralen Wirtschaftsbeziehungen auf. Die bilateralen Handelsbeziehungen haben sich im Gleichschritt mit dem Wirtschaftsaufschwung in der Türkei sehr positiv entwickelt. Die Exporte der Schweiz in Richtung Türkei wuchsen zwischen 2000 und 2006 um 66%. Im gleichen Zeitraum legten die türkischen Exporte um 67% zu. Die Bilanz fällt jedoch weiterhin zugunsten der Schweiz aus: Mit Exporten im Wert von 2345 Mio. und Importen über 676 Mio. Franken belief sich das Handelsvolumen 2006 insgesamt auf fast 3 Mrd. Franken. Gemäss türkischen Quellen sind die Schweizer Exporte und das türkische Handelsbilanzdefizit der Türkei noch grösser. Verantwortlich für diese Abweichung sind die Goldexporte, die in der Statistik der Schweiz nicht erfasst sind, sowie die in der Schweiz ansässigen Factoring-Unternehmen, die in den türkischen Statistiken ebenfalls berücksichtigt sind. Trotz des stetig steigenden Exportvolumens ist allerdings der Marktanteil der Schweiz zurückgegangen. 2005 lag die Schweiz mit 3,5% der Importe in die Türkei noch auf dem 8. Rang, 2006 mit lediglich noch 2,9% auf dem 9. Rang. Die Schweiz steht mit dieser Entwicklung nicht allein da: 2006 musste Deutschland seinen Platz als wichtigster Lieferant der Türkei an Russland abtreten, obwohl die deutschen Exporte innerhalb von fünf Jahren um 150% zunahmen. Bei den Investitionen zeigt sich ein ähnlicher Trend. Der Schweizer Kapitalbestand in der Türkei stieg 2002-2005 um 100% und 2004-2005 um 48% oder in absoluten Zahlen von 1 Mrd. Franken im Jahr 2002 auf 2 Mrd. im Jahr 2005. Aus Sicht der Türkei ist die Schweiz als Investor nicht mehr so wichtig wie früher, weil die Auslandinvestitionen im Land sehr stark gewachsen sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt in den Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei ist der Tourismus: 200000 bis 300000 Schweizerinnen und Schweizer besuchen pro Jahr die Türkei. 2006 war diese Zahl allerdings rückläufig.

Geplantes bilaterales Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung


Nach mehrjährigen Verhandlungen wurde 2006 ein Abkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerungen paraphiert, und die Formalitäten zur Unterzeichnung laufen. Das Inkrafttreten dieses Abkommens wird von der Privatwirtschaft mit Ungeduld erwartet. Der Vertrag wird das seit 1990 geltende Abkommen über die Förderung und den Schutz von Investitionen ergänzen.

Freihandelsbeziehungen


Seit 1992 existiert zwischen den Ländern der Efta – der die Schweiz angehört – und der Türkei ein Freihandelsabkommen, mit dem ausser für landwirtschaftliche Produkte sämtliche Zölle aufgehoben wurden. Der im Abkommen vorgesehene gemischte Ausschuss trifft sich alle zwei Jahre und fungiert als Plattform für Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung des Abkommens. Dort werden verschiedenste Probleme der Unternehmen besprochen, namentlich im Zusammenhang mit der Zertifizierung. Im Übrigen laufen neue Verhandlungen über das bilaterale Landwirtschaftsabkommen. Auf die Agrarprodukte entfallen rund 25% der Importe aus der Türkei in die Schweiz.

Gezielte Förderung der Wirtschaftsbeziehungen


Es existieren verschiedene Kanäle zur Förderung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen sowohl auf türkischer wie auch auf schweizerischer Seite. Dieses Netz soll mit der Eröffnung des geplanten «Swiss Business Hub» in Istanbul, der Wirtschaftsmetropole des Landes, noch weiter ausgebaut werden. Das Osec Business Network Switzerland erwägt, die KMU-Förderung in Zusammenarbeit mit dem türkischen Partner zu institutionalisieren, da dies einem echten Bedürfnis entspricht. Die Erfahrung der KMU ist im Übrigen Thema des 3. Wirtschaftsforums Schweiz-Türkei, das im November 2007 von der Handelskammer in Istanbul mit Beteiligung des Seco organisiert wird. Veranstaltungen, die den Wirtschaftsakteuren Geschäfts- und Investitionsmöglichkeiten in der Schweiz oder der Türkei vor Augen führen, bieten ebenfalls eine gute Gelegenheit zur Förderung von Wirtschaftsbeziehungen, die von beiden Seiten für Interesse sind. Die 2001 gegründete Bilaterale Wirtschaftskommission, der neue Impulse verliehen wurden, bietet einen offiziellen Rahmen, in dem die Handelsbeziehungen und Möglichkeiten zur Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern zur Sprache kommen. Kontakte wollen gepflegt werden. Nach über fünf Jahre ist es Zeit für einen neuen bilateralen Ministerbesuch in der Schweiz und der Türkei, an dem auch Vertreter aus der Privatwirtschaft teilnehmen, die an einer Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen interessiert sind… und zwar bevor die Türkei endgültig den Aufstieg in die erste Wirtschaftsliga schafft!

Grafik 1 «Entwicklung des Handels zwischen der Schweiz und der Türkei, 1990-2006»

Grafik 2 «Schweizer Investitionen in der Türkei, 1997-2005»

Tabelle 1 «Wichtigste Wirtschaftsdaten zur Türkei, 2004-2008»

Zitiervorschlag: Andrea Schmid-Riemer (2007). Der wirtschaftliche Höhenflug der Türkei und die Schweiz. Die Volkswirtschaft, 01. November.