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Wirtschaftspolitik zwischen Effizienz und Gerechtigkeit: Interview mit Jean-Daniel Gerber zu Verteilungsfragen

Angesichts der derzeit guten Wirtschaftslage rückt die Frage, wer vom Aufschwung profitiert, vermehrt ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Weil eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik nicht blind für Verteilungswirkungen sein darf, setzt sich der Chef des Seco mit dieser Thematik auseinander. National wie international geht es dabei auch um den Ausgleich zwischen den Gewinnern und Verlierern der Globalisierung. Innenpolitisch liegen die Handlungsfelder in der Bildungs-, Steuer- und Sozialpolitik, international im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklungshilfe. Eine ausgewogene Verteilung und Partizipation am Wohlstand sind, so Jean-Daniel Gerber, eine wichtige Quelle für neues Wachstum.

Die Volkswirtschaft: Wie wichtig ist für Sie die Frage der Wohlfahrtsverteilung? Ist es mehr eine wirtschaftspolitische oder eine ethische Frage? Gerber: Die Frage ist zunächst in ethischer Hinsicht wichtig: Echte Lebenszufriedenheit ist schwer zu erzielen, wenn der Nachbar in der Bedürftigkeit lebt. Wegen einseitiger Verteilung wurden Kriege geführt und Revolutionen ausgelöst. Sie ist eine Quelle von sozialen Spannungen sowie öffentlicher Unsicherheit und hat die Menschheit seit jeher beschäftigt: Nicht nur in der Politik, wie etwa bei den zahlreichen Abstimmungen über Steuern in der Schweiz, sondern auch in der Religion mit dem Gebot der Nächstenliebe. In der Philosophie verlangen etwa Vertreter wie John Locke, Jean-Jacques Rousseau und als jüngeres Beispiel John Rawls in seiner «Theorie der Gerechtigkeit» deshalb einen eigentlichen «Sozialvertrag». Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist die Frage relevant, weil eine möglichst breite Partizipation am wirtschaftlichen Wohlstand auch das «Ownership» der Bevölkerung am Wirtschaftssystem stärkt. Die Menschen sind dadurch eher bereit, schmerzhafte Reformen mitzutragen, wenn diese zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes erforderlich sind. Dadurch wird Verteilungsgerechtigkeit auch zu einer Quelle für neues Wachstum und neuen Wohlstand.   Die Volkswirtschaft: Die Schweiz ist bezüglich der Einkommensverteilung im westeuropäischen Vergleich im vorderen Mittelfeld zu finden. Wie erklären Sie die relativ gute Position? Gerber: Ich denke nicht, dass die Schweiz wesentlich «sozialer» eingestellt ist als andere Länder Westeuropas. Hingegen konnten wir dank höherem Wohlstand auch mehr verteilen, um einen Ausgleich sicherzustellen. Im Gegensatz zu unseren Nachbarstaaten blieb die Schweiz vom Krieg verschont. Wir konnten somit sofort nach Kriegsende über einen intakten Produktionsapparat verfügen und die anschliessenden Jahre des Wiederaufbaus in Europa voll nutzen. Zudem haben wir stets auf einen flexiblen Arbeitsmarkt geachtet, was eine tiefe Arbeitslosigkeit begünstigt. Allerdings sind wir bei den sozialpolitischen Regulierungen in den letzten Jahren an die Grenzen des Finanzierbaren gelangt. Hier müssen wir aufpassen, das Augenmass nicht zu verlieren. Zudem haben uns die nordischen Staaten in den letzten Jahren in einigen Bereichen überholt. Sie haben bessere Wachstumsbedingungen geschaffen und die notwendigen Reformen durchgeführt. Entsprechend erzielten sie höhere Wachstumsraten als die Schweiz. Dank des höheren Wachstums fällt ihnen auch die Herstellung des sozialen Ausgleichs leichter.   Die Volkswirtschaft: Allerdings fällt bei den nordischen Staaten die hohe Staatsquote auf, was ja nicht gerade als wachstumsfördernd gilt. Gerber: Die hohe Staatsquote der nordischen Länder erklärt sich weit gehend mit dem grossen Anteil der Finanzierung der Sozialwerke über die Staatsfinanzen. In Bezug auf die Schweiz müssen wir Äpfel mit Äpfeln vergleichen: Zählt man in der Schweiz etwa die obligatorischen Krankenversicherungsprämien und die Zahnarztkosten zur Staatsquote hinzu, hinken wir nicht weit zurück.  Die Volkswirtschaft: Welche Rolle spielen Faktoren wie die Bildung und die Altersvorsorge im Kontext der Wohlstandsverteilung? Gerber: Beides spielt eine grosse Rolle. Zuerst zur Bildung: Bildung ist ein Kernelement für soziale Mobilität und Chancengleichheit. Von Armut betroffen sind in erster Linie die wenig gebildeten Bevölkerungsschichten. Je besser die Bildung, desto grösser die Chancen, am Wohlstand teilhaben zu können und umgekehrt. Die Altersvorsorge wirkt ausgleichend. Armut trifft heute mehr jüngere Personen, darunter Alleinerziehende sowie Migrantinnen und Migranten.  Die Volkswirtschaft: Gibt es Anzeichen einer Verschlechterung?  Gerber: Die Antwort ist nein und ja: Nein, weil sich die Einkommensverteilung von 1990 bis heute nicht wesentlich verändert hat, auch weil in der Periode von 1990-2004 die Sozialausgaben gemessen am BIP stark zugenommen haben, nämlich von 19,7% auf 29,4%.  Ja, weil die Öffentlichkeit einen anderen Eindruck hat. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens litt die Schweiz während Jahren an einer Wachstumsschwäche, die keine oder nur geringe Reallohnerhöhungen erlaubte. Diese bescheidenen Zuwächse wurden dann erst noch weit gehend von den Prämienerhöhungen der Krankenkassen aufgefressen. Zweitens ist die Diskussion über die hohen Managerlöhne zu nennen. Sie erweckt den Eindruck, dass die Reichen viel mehr verdienen als in der Vergangenheit. Allerdings trifft dies nur für die alleroberste Schicht auch wirklich zu.   Die Volkswirtschaft: Die exorbitanten Managerlöhne sind ein Phänomen, das in der Bevölkerung und in den Medien häufig zu Ärgernis und zu Schlagzeilen geführt hat. Sind diese Löhne gerechtfertigt, oder handelt es sich wirklich – wie häufig kritisiert – um Abzockerei?  Gerber: Die psychologische Wirkung ist wie gesagt gross. Wie soll ich etwa den Gewerkschaften überzeugend erklären, dass es zur Sicherung unserer Wettbewerbsfähigkeit schmerzhafte Strukturanpassungen und entsprechende Opferbereitschaft braucht, wenn gleichzeitig die Löhne einiger Topmanager in die Höhe schiessen? Wie wirkt das Ganze erst, wenn die Spitzenverdiener dann noch in eine steuergünstige Gemeinde umziehen? Hingegen ist der direkte materielle Schaden unbedeutend. Vergessen wir nicht: Die Reichen leisten, gerade auch dank der progressiv wirkenden direkten Bundessteuer, einen weitaus überproportional hohen Beitrag zum gesamten Steueraufkommen und damit zur Finanzierung öffentlicher Leistungen im Interesse aller.  Die Volkswirtschaft: Trotzdem: Gibt es Massnahmen, die gegen die Auswüchse beim Topmanagement getroffen werden sollten? Und was kann der Staat unternehmen?  Gerber: Alleine die Diskussion in den Medien über die Managersaläre hat Spuren hinterlassen. Niemand lässt sich gerne öffentlich an den Pranger stellen und sagen, das millionenschwere Salär sei nicht gerechtfertigt.  In einem marktwirtschaftlichen System mit Kontrahierungsfreiheit kann es nicht Aufgabe des Staates sein, die Saläre für Manager festzulegen. Hier sind der Verwaltungsrat und die Aktionärsversammlung gefordert. Mangelnde Ungebundenheit der Remunerationsausschüsse und ungenügende Transparenz erschweren ihnen die Wahrnehmung dieser Aufgabe. Neue Offenlegungspflichten und Rechte, welche im Zuge der Aktienrechtsrevision eingeführt werden, sollten hier Abhilfe schaffen.    Die Volkswirtschaft: Auf der andern Seite der Skala haben wir die «Working Poor»? Hat die Schweiz hier ein Problem? Gerber: Alle Länder haben ein Problem mit Erwerbsarmut. Hier ist die Schweiz kein Sonderfall. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, Familien mit mehreren Kindern, Personen mit tiefem Bildungsstand sowie Migrantinnen und Migranten. Wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung wertschöpfungsstarker Arbeitsplätze bieten das beste Rezept, um Erwerbsarmut vorzubeugen. Die gegenwärtige Konjunkturlage zeigt dies deutlich: Alleine zwischen dem 2. Quartal 2006 und dem 2. Quartal 2007 stieg die Beschäftigung im Umfang von 75400 vollzeitäquivalenten Stellen an. Trotz des beachtlichen Anstiegs der Beschäftigung ist der Anteil der Tieflohnstellen, d.h. der Vollzeitstellen mit einer monatlichen Entlöhnung von unter 3500 Franken, von 10,9% im Jahr 2000 auf noch 6,2% im Jahr 2006 gesunken. Wir befinden uns also auf gutem Wege. An zweiter Stelle ist die Ausbildung zu nennen. Je besser die Ausbildung, umso geringer das Risiko, zu den Working Poor zu gehören. Und drittens sind Tagesstrukturen für Alleinerziehende zu schaffen, damit sie ins Erwerbsleben zurückkehren können. Für Migrantinnen und Migranten sind Integrationskurse, wie z.B. Sprachkurse, angezeigt. Letztlich sind die Anreize richtig zu setzen. Der Bezug von Sozialhilfe darf nicht zu einem Nettoeinkommen in einer Höhe führen, bei der sich Arbeit nicht mehr lohnt.  Die Volkswirtschaft: Die Schweiz hat den Arbeitsmarkt gegenüber der EU geöffnet. Führt die damit verbundene Lohnkonkurrenz nicht zu mehr Ungleichheit? Gerber: Einzelfälle ausgenommen ist zurzeit kein Lohndruck gegen unten zu spüren, sondern eher gegen oben. Das ist sicher durch die gegenwärtig gute Konjunktur bedingt. Zahlreiche Unternehmen haben eher mit Arbeitskräftemangel zu kämpfen. Die flankierenden Massnahmen haben sich bewährt.  Hier und da ist die Anpassung noch im Gang. Die Unternehmen müssen noch besser informiert werden, und auch die Kontrollen sind noch zu verstärken. Zwar werden jetzt bereits neue Massnahmen gefordert, die wir auch prüfen. Dabei kann es jedoch nicht darum gehen, neue Schranken zu errichten. Unsere Nachbarn in Vorarlberg und Baden-Württemberg kritisieren bereits heute die Anwendung der flankierenden Massnahmen als bürokratisch.   Die Volkswirtschaft: Die Globalisierungsdebatte ist eng mit der Verteilungsfrage verbunden. Die Befürworter der Globalisierung betonen die positive Wirkung auf das Wachstum, die Gegner hingegen die Vergrösserung der Ungleichheit. Auf dem Hintergrund Ihrer reichen Erfahrungen in der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit, auch bei der Weltbank: Wie beurteilen Sie diese Frage?  Gerber: Alle Entwicklungsländer – ob ärmere, mittlere oder reichere – hatten von 1995 bis heute ein grösseres Wachstum als die Industriestaaten. Insbesondere China und Indien schwingen bezüglich Wachstum oben aus, aber – und das ist besonders hervorzuheben – auch Afrika verzeichnet erfreuliche Wachstumsraten. Weniger erfreulich ist, dass die unteren Einkommensschichten in diesen Ländern vom Wachstum proportional weit weniger profitieren als die einkommenshöheren Schichten. Es zeigt sich dabei ein fataler Zusammenhang: Je ärmer ein Land ist, desto enger ist der Personenkreis, der vom Wachstum profitiert. Die Erklärung für dieses Phänomen ist einfach: Die armen Länder verfügen nicht über Sozial- und Steuersysteme, die auf einen sozialen Ausgleich hinwirken, wie wir sie kennen. Die Volkswirtschaft: Wo gilt es anzusetzen, damit in den Entwicklungsländern breitere Bevölkerungsschichten vom Wachstum profitieren? Gerber: Der Hebel ist eindeutig im Bildungs-, im Sozialsowie im Steuersystem anzusetzen. Grundlage dazu bildet wiederum «Good Governance». Darunter versteht man gute makroökonomische Bedingungen, Rechtsstaatlichkeit und Transparenz. Wenn diese drei Elemente vorhanden sind, funktioniert in aller Regel eine Marktwirtschaft zum Wohl der Gesamtbevölkerung. Vereinzelte Ausnahmen bestätigen die Regel. Einige arme Länder haben trotz relativ guter Regierungsführung keine Fortschritte erzielt. In solchen Fällen kommt der Entwicklungszusammenarbeit eine entscheidende Rolle zu. Ich vergleiche die Situation mit jener unserer Bergbauerngemeinden: Auch mit dem besten Willen werden unsere Bergbauern kaum in der Lage sein, ohne Subventionen ein angemessenes Einkommen zu erzielen.   Die Volkswirtschaft: Ist für Sie die Globalisierung im Kontext der Verteilungsfrage insgesamt eher positiv oder doch eher negativ zu werten? Gerber: Zunächst ist Globalisierung eine Tatsache, nicht eine Wahl. Kurzfristig kann sie zu schwierigen Strukturanpassungsprozessen führen. Diese können einzelne Unternehmen und Personen hart treffen und zu struktureller Arbeitslosigkeit führen. Die richtige Antwort auf die Probleme der Globalisierung liegt aber sicher nicht in protektionistischen Massnahmen. Sie ziehen die schmerzhaften Anpassungen lediglich in die Länge und machen sie daher umso einschneidender. Ich kenne kein wirtschaftlich erfolgreiches Land, das sich der Globalisierung entziehen konnte. China hat es versucht. Deng Xiaoping hat den Schlussstrich gezogen und das Land geöffnet. Das vormals stark protektionistische Indien öffnet sich ebenfalls zunehmend. Das resultierende Wachstum wäre ohne Globalisierung und ohne eine Öffnung für neue, produktivitätssteigernde Technologien nicht erzielt worden.   Die Volkswirtschaft: Kommen wir von der Einkommenszur Vermögensverteilung. Hier ist die Ungleichheit in der Schweiz – im internationalen Vergleich – deutlich grösser. Ist die ungleiche Vermögensverteilung der Schweiz ein Problem?  Gerber: Es ist umstritten, ob eine gleichmässige oder eine ungleichmässige Vermögensverteilung ökonomisch besser ist. Nach der einen Theorie hat eine ungleiche Vermögensverteilung den Vorteil, dass vermehrt Sparkapital gebildet wird, was eine der Voraussetzungen für zusätzliche Investitionen und Wachstum darstellt. Für eine gleichmässigere Vermögensverteilung spricht dagegen der Umstand, dass sich die mittleren Einkommensbereiche eher staatstragend verhalten und sich für die Erhaltung guter Rahmenbedingungen für die Gesamtbevölkerung einsetzen, weil sie den direkten Nutzen daraus ziehen. Ich gehöre eher der zweiten Tendenz an. Ob die meisten Schweizerinnen und Schweizer Letzteres auch so sehen, bezweifle ich allerdings. Die Mehrheit der Stimmbürger will das Vermögen vor dem Zugriff des Staates schützen und hat in den letzten Jahren entsprechende Entscheide an der Urne gefällt. So wurde die Vermögenssteuer reduziert. In vielen Kantonen wurde die Erbschaftssteuer für Ehegatten oder Nachfahren in direkter Linie abgeschafft. Nach einer Nationalfondsstudie wird Erben als Privatsache und nicht als unverdientes Vermögen angesehen; 85% der Bevölkerung sehen diesbezüglich kein Gerechtigkeitsproblem. Ausserdem findet nur ein Viertel der Bevölkerung, dass es richtig sei, dass für Erbschaften Steuern zu bezahlen seien – und dies, obwohl ein Drittel der Bevölkerung beim Erben leer ausgeht und die obersten zehn Prozent drei Viertel der Gesamtsumme erhalten.  Die ungleiche Vermögensverteilung in der Schweiz wird bestehen bleiben; sie könnte sich wegen der Verminderung der Erbschaftssteuer noch verstärken. Mit der Bundesverfassung 1848 wurden alle Vorrechte abgeschafft. Ist die Schweiz daran, das «Vorrecht des Adels bei Geburt» durch das «Vorrecht des Geldes bei Geburt» zu ersetzen? Ist das ethisch gerechtfertigt? Der Stimmbürger hat diese Frage beantwortet, jedenfalls auf kantonalem Niveau. Allerdings dürften viele dieser kantonalen Vorlagen auch angenommen worden sein, weil die Stimmbürger befürchteten, die vermögenden Steuerzahler würden in erbschaftssteuerfreie Kantone abwandern.  Eine weitere Frage: Die Schweiz hat bekanntlich eine Bundessteuer mit starker Progression, was leistungshemmend wirkt. Diese Progression könnte erheblich gemildert werden, wenn eine Erbschaftssteuer eingeführt würde, um die Steuerausfälle zu kompensieren. Die Erbschaftssteuer ist unter dem Gesichtpunkt der materiellen Chancengleichheit und der Leistungsgerechtigkeit wohl eine «gerechtere Steuer». Wieso soll eine Person dank der ihr automatisch zufallenden Vermögenswerte alle finanziellen Sorgen los sein, während die andere Person von einem solchen «Manna» nicht profitieren kann und auch noch über die hohe Progression ihrer Einkommenssteuer geschröpft wird?  Die Volkswirtschaft: Trotz der Abstimmungsentscheide sorgt die Pauschalbesteuerung wohlhabender Ausländer immer wieder für Aufregung in der Öffentlichkeit. Wie beurteilen Sie diese Frage? Gerber: Ich gebe zu, kein Patentrezept zu haben. Wenn Sie den «Normalbürgers» fragen, ob es gerecht sei, dass Roger Federer mehr Steuern zahlen muss als Johnny Hallyday, lautet seine Antwort nein. Wenn Sie ihn aber fragen, ob es besser sei, dass Johnny Hallyday seine Steuern hier anstatt im Ausland zahlt, antwortet er ja.   Die Volkswirtschaft: Gewisse Kantone hatten die Einführung degressiver Steuermodelle beschlossen, um mehr reiche Steuerzahler anzuziehen. Zur Diskussion steht auch die Einführung der so genannten «Flat Rate Tax», also eine radikale Vereinfachung des Steuersystems mit einem Einheitssteuersatz. Wie beurteilen Sie solche Reformen? Gerber: Das Bundesgericht hat sich in seinem Entscheid vom 1.Juni 2007 gegen degressive Steuermodelle – also gegen mit steigendem Einkommen sinkende Steuersätze – ausgesprochen. Solche würden gegen das in der Bundesverfassung verankerte Rechtsgleichheitsprinzip und den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verstossen. Die betroffenen Kantone haben die Konsequenzen gezogen und planen, statt einer degressiven Steuer, eine Flat Tax einzuführen.  Die Flat Rate Tax kommt ohne das umstrittene Element der Degression aus. Durch Freibeträge wird ausserdem eine gewisse Progressionswirkung erreicht. Inwieweit indessen ein über alle Einkommen grundsätzlich konstanter Steuersatz den Vorstellungen einer gerechten Besteuerung entspricht, werden etwa die Obwaldner Stimmberechtigten im Dezember an der Urne entscheiden. Schliesslich gebe ich zu bedenken, dass auch ohne Flat Rate Tax durch eine wesentliche Vereinfachung unseres Steuersystems erhebliche Effizienzgewinne erzielt werden könnten. Eine solche Vereinfachung würde zudem nicht unser ganzes Steuersystem – wenigstens auf Bundesebene – über den Haufen werfen.   Die Volkswirtschaft: Haben Sie persönlich eine Vision von einer ethischen, gerechten Gesellschaft? Gerber: Ja, lesen Sie dazu die Präambel der Bundesverfassung; sie entspricht meinen Vorstellungen.   Die Volkswirtschaft: Herr Gerber, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Zitiervorschlag: Die Volkswirtschaft (2007). Wirtschaftspolitik zwischen Effizienz und Gerechtigkeit: Interview mit Jean-Daniel Gerber zu Verteilungsfragen. Die Volkswirtschaft, 01. Dezember.