Energieperspektiven 2035 – Veränderung der Prioritäten in der Energiepolitik notwendig
Von 2004 bis 2007 befasste sich das Bundesamt für Energie (BFE) eingehend mit Energieszenarien mit dem Zeithorizont 2035. Im Vordergrund standen grundlegende Wirkungszusammenhänge: Wie wirken sich Energiepreise, die wirtschaftliche Rahmenentwicklung (Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum), Vorschriften, preisliche Instrumente oder Förderinstrumente auf das Energiesystem der Schweiz aus? Diese fundamentalen Zusammenhänge wurden mit Hilfe von quantitativen Modellen sichtbar gemacht. Im Wesentlichen kamen zwei Modelltypen zur Anwendung (siehe Grafik 1): – Zur Darstellung von Energienachfrage und -angebot wurden Bottom-up-Energiemodelle eingesetzt. Diese berechnen, ausgehend von Anzahl, Grösse und Alter der Bauten, Geräte, Fahrzeuge und Anlagen, den Energieverbrauch für jeden Wirtschaftssektor, gegliedert nach Strom, Wärme und Treibstoff. Der Nachfrageentwicklung wurden verschiedene Stromangebotsvarianten gegenübergestellt. – Ein dynamisches Gleichgewichtsmodell stellte die globalen und nationalen CO2-Reduktionsziele ins Zentrum. Unter Berücksichtigung der internationalen Verflechtung der Schweiz mit dem Ausland sind Auswirkungen von globalen und schweizerischen Energie- und Klimapolitiken auf die Wirtschaft und den Konsum untersucht worden. Die Arbeiten wurden von einer Arbeitsgruppe mit Fachleuten aus der Wissenschaft, der Energiewirtschaft und ihren Fachverbänden sowie der Verwaltung begleitet. Alle Grundlagenarbeiten, Schlussberichte und Resultate sind auf www.energie-perspektiven.ch verfügbar.
Politikvarianten der Szenarien
Die Energieperspektiven umfassen vier energiepolitische Szenarien: – Im Szenario I «Weiter wie bisher» wird die Wirkung beschlossener und in Kraft gesetzter Instrumente dargestellt. Die Zulassungsvorschriften im Bereiche Energietechnik sowie Zielvereinbarungen gemäss Energiegesetz des Bundes werden weitergeführt und dem technischen Fortschritt angepasst. – Szenario II zeichnet sich durch eine «Verstärkte Zusammenarbeit» zwischen Staat und Wirtschaft aus, mit einer moderaten Verschärfung von Vorschriften und der Einführung einer CO2-Abgabe auf Brennstoffen, welche einen Anreiz für Zielvereinbarungen zwischen Staat und Wirtschaft schafft. Mit der Weiterführung des Klimarappens bis 2035 und der Einführung eines Stromrappens werden finanzielle Förderprogramme verstärkt. Sie werden für Effizienzmassnahmen im Wärme-, Treibstoff- und Strombereich sowie zur Förderung der erneuerbaren Stromerzeugung verwendet. – Szenario III «Neue Prioritäten» untersucht die Möglichkeit einer deutlichen CO2-Reduktion und einer wesentlichen Steigerung der Energieeffizienz durch konsequente Anwendung bester vorhandener Technologien. Zudem sollen die Anteile der erneuerbaren Energien in der Strom- und Wärmeproduktion und im Treibstoffbereich erhöht werden. Zentrales Instrument ist die Verteuerung der nicht erneuerbaren Energien und der Elektrizität mit einer Lenkungsabgabe ab 2011, welche der Wirtschaft und den Haushalten vollumfänglich zurückbezahlt wird. Ausgehend von der realen Preisentwicklung von Szenario I bedeutet dies für Heizöl und Benzin ungefähr eine Verdoppelung der Preise und für Elektrizität eine Erhöhung um rund 50%. Es wird zudem von einer internationalen Harmonisierung der energiepolitischen Ziele und Instrumente ausgegangen. Ein Alleingang der Schweiz wird ausgeschlossen. – Szenario IV bildet den Übergang zur «2000-Watt-Gesellschaft», welche bis 2100 erreicht werden soll. Dafür erforderlich sind – neben einer Verstärkung der Massnahmen und Instrumente von Szenario III – die Marktdurchdringung von neuen Schlüsseltechnologien, Produkten und Produktionsverfahren der Industrie sowie Strukturänderungen bei den Wohn-/Energiebezugsflächen und im Verkehrsverhalten. Wiederum wird vorausgesetzt, dass diese Ziele international abgestimmt sind. Das zentrale Instrument einer Lenkungsabgabe bewirkt gegenüber den Preisen in Szenario III nochmals einen Aufschlag um 11% beim Benzin und bis zu 37% bei der Elektrizität. Es gilt zu beachten, dass Szenarien keine Prognosen liefern, sondern Entwicklungen verschiedener Politikvarianten aufzeigen und Antworten auf die Frage «Was wäre wenn?» suchen.
Energie- und Elektrizitätsnachfrage
Aus den vier untersuchten Szenarien ergeben sich stark unterschiedliche Energie- und Stromverbrauchsentwicklungen. Die Energienachfrage in Szenario I nimmt bis 2035 leicht zu. Mit Politikinstrumenten lässt sich die Gesamtnachfrage in Szenario II gegenüber 2000 leicht verringern. Erst in den Szenarien III und IV ist ab 2012 mit einer Nachfragereduktion zu rechnen, welche einen deutlichen Rückgang der Gesamtnachfrage im Jahr 2035 im Vergleich zu 2000 mit sich bringt (siehe Grafik 2). Der Stromverbrauch weist – mit Ausnahme von Szenario IV – einen deutlichen Zuwachs aus. Obschon angenommen wird, dass neue Stromanwendungen eine höhere Effizienz aufweisen, steigt in Szenario I die Endnachfrage nach Strom bis 2035 um rund einen Viertel. Die angenommenen Politikinstrumente in Szenario II vermögen den Zuwachs der Endnachfrage nach Strom leicht zu dämpfen. In Szenario III steigt sie bis 2020 deutlich, sinkt danach leicht ab. Sie liegt aber im Jahr 2035 immer noch über dem Verbrauch von 2000. Unter den Voraussetzungen des Szenarios IV geht die Elektrizitätsnachfrage schon ab 2012 zurück und liegt im Jahr 2035 leicht unter dem Niveau des Jahres 2000.
Elektrizitätsangebot, Stromlücke und Kosten der Lückenschliessung
Erfolgt zwischen 2005 und 2035 kein Kapazitätsersatz im schweizerischen Kraftwerkpark, öffnet sich in den Jahren 2018 bis 2020 eine Stromlücke. Der Zeitpunkt des Eintritts der Lücke variiert zwischen den Szenarien kaum, da die Elektrizitätsnachfrage in allen Szenarien bis mindestens 2012 noch ansteigt. Hingegen ist der Bedarf an neuen Produktionskapazitäten oder einer Erhöhung der Importe bis 2035 in Szenario I wesentlich grösser als in Szenario IV (siehe Tabelle 1). Für die Deckung der Stromlücke werden sieben Angebotsvarianten untersucht: A Nuklear: Der Ausbaubedarf wird ab 2030 durch neue Kernkraftwerke (KKW) gedeckt. Als Übergangslösung sind von 2020 bis 2030 zusätzlich neue Stromimporte nötig. B Nuklear und fossil-zentral: Um Stromimporte bis zur Inbetriebnahme eines neuen Kernkraftwerks zu vermeiden, werden vorerst Gaskombikraftwerke zugebaut. C Fossil-zentral: Bis 2035 wird die Lücke durch Gaskombikraftwerke geschlossen. D Fossil-dezentral: Der Ausbaubedarf wird durch fossil befeuerte Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen (WKK) gedeckt. E Erneuerbare Energien: Die Lücke wird ausschliesslich mit erneuerbaren Energien geschlossen. F Veränderte Laufzeit: Es wird eine Verkürzung der Laufzeit der bestehenden Kernkraftwerke auf 40 Jahre unterstellt. Als Alternative wird eine Verlängerung der Laufzeiten der Anlagen Beznau und Mühleberg auf 60 Jahre untersucht. G Import: Die Lücke wird vorwiegend mit Stromimporten geschlossen. Alle möglichen Varianten zur Deckung des Strombedarfs weisen Vor- und Nachteile auf. Kernenergie ist zwar CO2-frei und im Vergleich zu andern Produktionstechnologien kostengünstig; dafür ist die Frage der Entsorgung nicht geklärt und die soziale Akzeptanz nicht gewährleistet. Gaskombikraftwerke sind rasch und kostengünstig gebaut, belasten jedoch die CO2-Bilanz und erhöhen die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern. Erneuerbare Energieträger sind nachhaltig, aber teuer, und sie beeinträchtigen zum Teil das Landschaftsbild. Die Importvariante ist grundsätzlich kostengünstig, doch können zum Beispiel bei Kältewellen physische Engpässe auftreten, die sowohl die Versorgungssicherheit beeinträchtigen als auch hohe finanzielle Risiken bergen. Es werden nicht alle Angebotsvarianten in allen Szenarien gerechnet (siehe Tabelle 2). Beispielsweise ist Szenario I «Weiter wie bisher» nicht mit einer Angebotsvariante E «Erneuerbare Energien» vereinbar, da als Folge fehlender Förderinstrumente die ausschöpfbaren Potenziale für die Deckung der grossen Nachfrage zu klein sind. Die Varianten D und E sind erst in den Szenarien III und IV machbar, aber Variante D stösst an die Grenzen der möglichen Produktionspotenziale, und Variante E ist insbesondere bei der Geothermie mit Unsicherheiten über die Technologieentwicklungen verbunden. Deshalb ist in den Szenarien III und IV eine Kombination der Angebotsvarianten D&E sinnvoll. Eine weitere sinnvolle Mixvariante besteht in Szenario III aus der Kombination von Gaskombikraftwerken und erneuerbaren Energien (Variante C&E). Dabei werden für die Stromerzeugung neben dem Gaskombikraftwerk-Projekt Chavalon noch zwei weitere Gaskombikraftwerke benötigt, für welche eine Zufeuerung von 20% Holzgas unterstellt wird. In der Variante G erfolgt die Lückenschliessung durch Stromimporte. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass sich schweizerische Akteure an ausländischen Kraftwerken (Kernkraftwerke, fossil-thermische Kraftwerke) beteiligen, da langfristige Bezugsverträge auch in einem geöffneten Markt zu Grenzkostenpreisen möglich sein sollten. Falls Grünstrom importiert wird, ist davon auszugehen, dass einerseits die im Vergleich zum Marktpreis noch für längere Zeit höheren Gestehungskosten und andererseits die bei stochastischer Einspeisung (Wind- und Solarenergie) erforderliche Ausregulierung (durch Kraftwerke im Ursprungsland oder durch schweizerische Speicherkraftwerke) mitfinanziert werden müssen. Um die Kosten der Angebotsvarianten miteinander vergleichen zu können, werden die für den Ausbau auf die Gegenwart diskontierten direkten Gesamtkosten ermittelt. Bei den Kernkraftwerken sind alle Kosten (inklusive Entsorgung) berücksichtigt, nicht aber subjektive Risikozuschläge. Bei den Gaskombikraftwerken sind die Kosten der CO2-Kompensation enthalten. Auswirkungen der verschiedenen Angebotsvarianten auf die Netzkosten sind umstritten, dürften sich jedoch im betrachteten Zeitraum wenig voneinander unterscheiden, da alle Szenarien von den gleichen Wirtschaftsstrukturen, Infrastrukturen und Gebäudeparks ausgehen. Bilden die diskontierten Gesamtkosten der Lückenschliessung Grundlage des Vergleiches, so ist Szenario IV als Folge des geringeren Stromverbrauches am günstigsten. Interessant ist das Ergebnis, dass die Gesamtkosten der dezentralen Varianten des Szenarios IV in der Grössenordnung der zentralen Varianten der Szenarien I und II liegen. Die höchsten Gesamtkosten weist das Szenario III in Kombination mit dezentralen Angebotsvarianten auf. Dies liegt daran, dass sowohl in Variante D als auch E als Folge des nach wie vor zunehmenden Stromverbrauchs grosse Potenziale erschlossen werden müssen, die teilweise sehr teuer sind.
Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen
Im verwendeten dynamischen allgemeinen Gleichgewichtsmodell werden alle relevanten inländischen und ausländischen Wirtschaftsverflechtungen erfasst. Es ermöglicht, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen von politischen Massnahmen abzuschätzen. Die Bewertung wirtschaftlicher Auswirkungen unterschiedlicher CO2-Ziele auf die Volkswirtschaft bedingt explizite Annahmen zu energie- und umweltpolitischen Zielen der Weltwirtschaft. Sowohl die aufgrund einer Expertenbefragung angenommene internationale Harmonisierung der CO2-Ziele als auch das Instrument «Lenkungsabgabe» bewirken geringe, allerdings moderat negative volkswirtschaftliche Auswirkungen der untersuchten Politikvarianten. Es sind begrenzte Konsumverluste und geringe Beschäftigungseinbussen zu erwarten. Die Kosten der CO2-Reduktion der Schweiz werden deutlich verringert, wenn eine Kompensation im Ausland zugelassen wird. So sind die spezifischen Kosten der CO2-Reduktion in der Schweiz zwar um rund einen Faktor zehn höher als im Ausland, dafür zielen die inländischen Instrumente und Massnahmen auch auf die Gewährleistung der Versorgungssicherheit, welche durch die CO2-Minderung im Ausland Abstriche erfährt. Mit energetischer Effizienzsteigerung im Inland sind zudem technische Fortschritte und Komfortgewinne (insbesondere im Gebäudebereich) verbunden, die bei verstärktem internationalem CO2-Handel nicht genutzt werden.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
– In einer Welt «Weiter wie bisher» (Szenario I) kompensiert der autonome technische Fortschritt die von der Wirtschafts- und Demografieentwicklung ausgelöste Zunahme der Nachfrage nach Energie, sodass bis 2035 mit einer Energienachfrage auf dem heutigen Niveau gerechnet werden kann. Das Szenario II «Verstärkte Zusammenarbeit» bewirkt eine Reduktion der Energienachfrage im Vergleich zu Szenario I, bedeutet jedoch keine Trendwende. Das gesamte schweizerische Energiesystem reagiert träge auf Preisveränderungen. Um die Energienachfrage und damit die energetischen CO2-Emissionen und die Energieverbrauchsentwicklung gegenüber dem heutigen Niveau deutlich zu senken, ist eine national und international koordinierte Veränderung der Prioritäten in der Energie- und Umweltpolitik notwendig, wie sie in den Szenarien III und IV unterstellt wird. Ein Alleingang der Schweiz wird dabei ausgeschlossen. Als Umsetzungsinstrument wird eine Lenkungsabgabe auf alle Energieträger auf der Stufe Endverbrauch eingesetzt, welche die Energiepreise deutlich ansteigen lässt. Für Szenario IV wird zudem davon ausgegangen, dass Potenziale neuer Schlüsseltechnologien unter Effizienzgesichtspunkten erschlossen werden. Zudem wird angenommen, dass bei gleicher Wirtschaftsentwicklung weniger Flächen und weniger Verkehrsleistungen in Anspruch genommen werden. – Die international abgestimmte Neuorientierung der Energie- und Umweltpolitik wirkt sich in geringem Ausmass negativ auf Konsum und Beschäftigung in der Schweiz aus. – Die Umsetzungsinstrumente erfordern je nach Eingriffstiefe Beschlüsse und Vereinbarungen, Verordnungsänderungen, neue Gesetze oder Verfassungsänderungen. – Auch in den Szenarien III und IV bleibt ein erheblicher Einsatz fossiler Energieträger bestehen. Allerdings reduziert sich der Anteil in Szenario III um einen Drittel und in Szenario IV um 50% im Vergleich zu Szenario I. – Die Einsparungen an Treibstoff bewirken Mineralölsteuerausfälle in Milliardenhöhe. Es wird notwendig, nach alternativen Finanzierungen der Infrastrukturausgaben zu suchen. Das Finden von Lösungen und die Umsetzung erfordern in jedem Fall von allen beteiligten Gruppen eine erhebliche Kompromissbereitschaft. Die Energieperspektiven bilden eine umfassende und wissenschaftlich abgestützte Grundlage, um die Folgen einzelner diskutierter und notwendiger Schritte qualitativ beurteilen und quantitativ abschätzen zu können.
Grafik 1 «Methodisches Vorgehen»
Grafik 2 «Endenergie- und Elektrizitätsverbrauch: Entwicklung 1950-2004 und Prognosen bis 2035 gemäss Szenarien»
Tabelle 1 «Varianten der Lückenschliessung: Benötigter Zubau und diskontierte Gesamtkosten»
Tabelle 2 «Veränderungen zwischen 2000 und 2035 In %»
Zitiervorschlag: Andrist, Felix; Piot, Michel (2008). Energieperspektiven 2035 – Veränderung der Prioritäten in der Energiepolitik notwendig. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.