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Die Mär von der Stromlücke

Der Schweiz drohe eine Stromlücke, warnen Vertreter der Elektrizitätswirtschaft und fordern den schnellen Bau von neuen Atomkraftwerken. Die damit verbundenen Risiken muss die Schweiz nicht in Kauf nehmen: Alles, was es für die Zukunft braucht, ist eine umfassende Effizienzpolitik und einen gezielten Ausbau der erneuerbaren Energien. Denn die «Stromlücke» ist genau betrachtet nur eine Politik-Lücke. Allein mit einer Lenkungsabgabe auf Strom und der konsequenten Förderung effizienter Geräte könnten wir den Stromverbrauch um 15 TWh oder einen Viertel des heutigen Wertes reduzieren. Zum Vergleich: Die drei Atomkraftwerke, welche bis 2020 abzuschalten sind, produzieren weniger als 9 TWh.

Weshalb hat sich der Stromverbrauch seit 1970 mehr als verdoppelt, obschon die Bevölkerungszahl nur um ein Fünftel zunahm? Weil es in der Schweiz an einer echten Strompolitik fehlt und weil die Elektrizität viel zu billig ist. Dank längst abgeschriebenen Wasserkraftwerken und dem lukrativen Stromhandel sanken die Schweizer Strompreise in den letzten 25 Jahren teuerungsbereinigt um 27%. Im gleichen Zeitraum nahm der Stromverbrauch um mehr als ein Drittel zu.  Dieser Anstieg hat drei Gründe: Erstens haben die grossen Elektrizitätswerke bisher die Strompolitik weit gehend selber bestimmt. Allein im Ständerat sitzen nicht weniger als elf Verwaltungsräte von Elektrizitätswerken. Zweitens ist Strom nach wie vor sehr billig. Pro Kopf und Monat kostet der Haushaltstrom durchschnittlich nur 30 Franken. Und drittens hat der sorglose Umgang mit dieser hochwertigen Energie auch psychologische Gründe. Strom aus der Steckdose ist geruchlos und in vielen Anwendungen sogar geräuschlos. Die Verschwendung von Strom wird also kaum wahrgenommen.

Massnahmenbündel sichert Vollversorgung


Umso wichtiger ist es, dass es in der Schweiz endlich zu einem Paradigmenwechsel kommt: weg von einer rein produktionsorientierten Sichtweise (Motto: «Wir müssen jegliche Nachfrage befriedigen»), hin zu einer verbrauchsorientierten Effizienzpolitik. Der von der «Allianz für eine verantwortungsvolle Klimapolitik» erstellte Klima-Masterplan zeigt Instrumente auf, wie der Verbrauch bis 2025 um über 15% gegenüber heute gesenkt werden kann, selbst wenn die Zahl der Stromanwendungen weiter steigt:  – Die Strompreise mit Hilfe einer Lenkungsabgabe verdoppeln. Das sorgt für einen genügend grossen Steuerungseffekt, ohne dass dadurch die Kaufkraft sinkt – die Einnahmen werden ja vollständig rückverteilt. Stromintensive Industrien profitieren von Sonderregelungen, welche die Stromeffizienz erhöhen und die Wettbewerbsfähigkeit erhalten. – Die Zahl ineffizienter Geräte der Energieklassen C bis G limitieren und mit speziellen Verkaufslizenzen auktionieren. – Energieetiketten auf möglichst viele Stromverbraucher anwenden und sie alle drei Jahre der technischen Entwicklung anpassen. – Für bereits gekaufte, aber ineffiziente Geräte einen Gutschein zum verbilligten Kauf eines A-Gerätes abgeben, wenn das alte Gerät dafür aus dem Verkehr gezogen wird.  – Elektrowiderstandsheizungen in Neubauten verbieten und für über 20-jährige Elektroheizungen eine Substitutionspflicht einführen.  – Den durchschnittlichen Standby-Verlust mittels Branchenvereinbarungen unter 0,5 Watt senken.

Mehr Effizienz heisst nicht mehr Stromverbrauch


Selbst die Vertreter der Stromindustrie anerkennen meist die Bedeutung der effizienten Verwendung von Energie, behaupten dann aber, dass dies zwingend mit einem massiv höheren Stromverbrauch einhergehe. Das ins Feld geführte Lieblingsbeispiel ist der Ersatz von Ölheizungen durch Wärmepumpen.  Dies wäre richtig, wenn der heutige Gebäudebestand ohne jede Sanierung auf Wärmepumpen umgerüstet würde. Faktisch werden die Altbauten aber zuerst besser isoliert und dann mit der jeweils sinnvollsten Technologie beheizt. Berechnungen zeigen, dass bereits die geforderte Substitutionspflicht für alte Elektroheizungen ausreichen würde, um den Mehrbedarf durch Wärmepumpen zu decken, denn energetisch sanierte Bauten brauchen weniger Heizenergie – und damit auch deutlich weniger Strom.  Das Schönste zum Schluss: Wirtschaftswachstum und Stromsparen schliessen sich nicht aus, wie etwa das Energie-Modell Zürich – ein Zusammenschluss von 16 umweltbewussten Grossfirmen – zeigt. Die Unternehmen wollen ihre Energieeffizienz bis 2010 um 13% steigern sowie den CO2-Ausstoss um mehr als ein Drittel reduzieren – und das mit Massnahmen, die sich innert kurzer Zeit zurückzahlen, wie die Firmen auf ihrer Homepage schreiben. Bei steigenden Strompreisen lohnen sich solche Investitionen erst recht – auch bei bis jetzt weniger fortschrittlichen Firmen.

Zitiervorschlag: Hans-Peter Fricker (2008). Die Mär von der Stromlücke. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.