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Schweizer Wachstumspolitik im Lichte der OECD-Empfehlungen

Seit 2005 bezeichnet die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) in ihrer Publikation «Going for Growth» die Prioritäten, welche die einzelnen Mitgliedländer in ihrer Reformpolitik verfolgen sollten. Der nachfolgende Artikel macht deutlich, dass die wachstumspolitischen Vorhaben der laufenden Legislatur eine Antwort auf die von der OECD festgestellten Schwächen in der Schweizer Wirtschaft und Wirtschaftspolitik sind.

Schweizer Wachstumspolitik im Lichte der OECD-Empfehlungen

 

Wirtschaftspolitische Empfehlungen der OECD


Am 4.März 2008 stellte der Generalsekretär der OECD, Angel Gurria, die Publikation «Going for Growth 2008» vor. OECD (2008): Economic Policy Reforms: Going for Growth 2008, Paris. Neben thematischen Studien enthält die jährliche Publikation jeweils Empfehlungen für jedes Mitgliedland, die bei den wirtschaftlichen Strukturreformen beachtet werden sollen. Bei der Schweiz liegt das Hauptgewicht der Empfehlungen der neusten Ausgabe auf den Produktmarkreformen; sie lauten wie folgt: – Weitere Reduktion der Wettbewerbshindernisse in den Netzwerkindustrien;  – Abbau der Stützung der Agrarproduktion; – Förderung der Vollzeiterwerbstätigkeit der Frauen; – Eliminierung der nicht-tarifären Handelshemmnisse; – Bremsen der Kostensteigerung im Gesundheitswesen dank besserer Regulierung.  Ein etwas breiterer Ansatz wird in den Länderexamen der OECD zu den nationalen Wirtschaftspolitiken verfolgt. OECD (2007): Economic Survey of Switzerland 2007, Paris. Im neusten Bericht des Länderprüfungsausschusses zur Schweiz, der im November 2007 öffentlich vorgestellt wurde, nennt die OECD drei politische Herausforderungen, um die derzeitige Konjunkturerholung in eine dauerhafte Verbesserung des Wachstums überzuführen. Zur Forderung nach mehr Wettbewerb auf den Produktmärkten treten jene nach Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen und einer besseren Integration der Migranten und ihrer Kinder, mit dem Ziel, das wirtschaftliche Potenzial der Zuwanderer noch besser auszuschöpfen. Die OECD motiviert die drei Forderungen wie folgt:

Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen


Zwar werde in den öffentlichen Haushalten ein Überschuss erwirtschaftet. Dennoch bleibe es notwendig, mittels Reformen im Sozialwesen das Wachstum der obligatorischen Sozialausgaben zu stoppen und zu einer hohen Arbeitsmarktbeteiligung beizutragen. Dazu müsse unter anderem die Ausgestaltung des Rentensystems an die demografische Alterung angepasst werden. Steuerreformen, mit denen Vollzugskosten reduziert und Verzerrungen gemildert werden, könnten gleichfalls zur Stimulierung der Wirtschaftstätigkeit beitragen. Überleitend zur Produktmarktreform hält der Bericht des Länderprüfungsausschusses schliesslich fest, dass die gemeinsame Spitalfinanzierung durch Versicherer und Kantone ein Problem bleibe.

Mehr Wettbewerb auf den Produktmärkten


Der bislang von der Politik gesetzte Rechtsrahmen könne – so die OECD – nicht gewährleisten, dass neue Marktteilnehmer in den Netzwerkindustrien keine Diskriminierungen gegenüber den historischen Betreibern der Infrastrukturen erfahren. Für eine bessere Durchsetzung der allgemeinen und branchenspezifischen Wettbewerbsgesetzgebung sollten deshalb die Regulierungsbehörden mit mehr Ressourcen und Befugnissen ausgestattet sowie ihre Unabhängigkeit besser sichergestellt werden. Im Landwirtschaftssektor seien die verbleibenden produktionsbezogenen Stützungsmassnahmen und die im Bodenrecht gründenden Hindernisse für die strukturelle Anpassung zu beseitigen.

Arbeitsmarktliche Integration der Einwanderer


Zwar anerkennt die OECD, dass die meisten Immigranten in der Schweiz gut im Arbeitsmarkt integriert seien, vermerkt aber auch, dass Ausländer bezüglich Arbeitslosigkeit und Löhne weniger gut abschneiden würden als Schweizer und dass der Schulerfolg von Kindern mit Migrationshintergrund verbessert werden könne – so etwa durch den offeneren Zugang zu Vorschulerziehung und familienexterner Kinderbetreuung sowie durch weniger selektive Schulsysteme. Solche Reformen würden die Auswirkungen des sozioökonomischen Hintergrundes auf die Ausbildungsergebnisse aller Kinder reduzieren. Die Schweiz kann diese Empfehlungen akzeptieren – nicht nur, weil sie sich auf einen faktengestützten länderübergreifenden Vergleich abstützen, sondern auch, weil sie mit den wirtschaftspolitischen Prioritäten der angelaufenen Legislatur übereinstimmen.

Sechs Handlungsfelder der Schweizer Wachstumspolitik


Die Wachstumspolitik des Bundes wurde 2002 durch den Wachstumsbericht des EVD lanciert. Die zuerst 17 und später auf 19 erweiterten Massnahmen des 2004 vorgestellten Wachstumspakets des Bundesrates wurden konzeptionell sechs wirtschaftspolitischen Handlungsfeldern zugeordnet. Diese Gliederung hat sich bewährt und soll auch in der angelaufenen Legislatur beibehalten werden. Dies geschieht unter paarweiser Zusammenfassung der sechs Themen (kursiv): – Wettbewerb im Binnenmarkt und internationale Öffnung sollen zu einem attraktiven Preisniveau in der Schweiz führen. – Die Optimierung des Staatshaushaltes und ein die Initiative fördernder Rechtsrahmen für unternehmerische Aktivitäten sollen den Wirtschaftsstandort Schweiz weiter aufwerten. – Ein integrativer Arbeitsmarkt und ein Bildungssystem, das internationalen Quervergleichen standhält, sollen gewährleisten, dass es sich weiterhin auszahlt, in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit zu suchen.   In diese sechs Handlungsfelder reihen sich die Massnahmen, die auf die Empfehlungen der OECD antworten, problemlos ein.

Wettbewerb im Binnenmarkt und internationale Öffnung


Gemäss der vom Bundesrat am 23.Januar 2008 verabschiedeten Legislaturplanung soll der Wettbewerb u.a durch vermehrte Importkonkurrenz gestärkt werden. Die zentrale Massnahme hierzu ist die Revision des Bundesgesetzes über technische Handelshemmnisse, mit der von der OECD angesprochenen Empfehlung, die nicht-tarifären Handelshemmnisse abzubauen. Der Artikel von Reiner Eichenberger auf Seite 18ff in diesem Heft begründet, warum Öffnung für Importe gerade in kleinen und reichen Volkswirtschaften einen zentralen Beitrag an die Förderung des individuellen Wohlstands leistet.  Die Schweiz soll aber auch durch Exporte von den Vorzügen der internationalen Arbeitsteilung profitieren. Dazu muss innenpolitisch Handlungsspielraum gewonnen werden. Empfohlen wird die Weiterführung der Agrarreform bei gleichzeitiger Erschliessung des nicht-diskriminatorischen Marktzugangs zur EU, dem wichtigsten Absatzmarkt für Agrarerzeugnisse. Die Erfahrungen Österreichs im Agrarhandel nach dem EU-Beitritt zeigen, dass der zu erwartenden Importzunahme eine noch höhere Exportzunahme gegenüberstehen kann.

Optimierung des Staatshaushalts und Rechtsrahmen für unternehmerische Aktivitäten


Die Ausgaben für den Sozialschutz der Schweiz betragen knapp 30% des Bruttoinlandproduktes. Damit liegt die Schweiz gemäss der Datenbank von Eurostat (Daten 2004) europaweit auf dem vierten Rang – hinter Schweden, Frankreich und Dänemark, aber knapp vor Deutschland, Belgien, Österreich und den Niederlanden, die alle über dem Mittel der EU-15 liegen. Der in diesen Zahlen ersichtliche Ausbau des Sozialstaates blieb nicht ohne Folgen für die öffentlichen Haushalte. Mittelbar ist auch das Wachstum betroffen, selbst wenn man die in der Schweiz für das Wachstum günstige Finanzierungsstruktur des Sozialbudgets und des Staatshaushalts in Rechnung stellt. In den kommenden Jahren wird es deshalb darum gehen, die Nachhaltigkeit bei der Finanzierung der Sozialwerke wiederkehrend und systematisch zu überprüfen. In den entsprechenden Berichten sollen die Leistungsversprechen erfasst und mittels Entwicklungsszenarien Handlungsalternativen evaluiert werden. Die Budgetanteile sollen mittels Aufgabenüberprüfung so gesteuert werden, dass sie auch mittelfristig den politischen Prioritäten entsprechen, wozu die Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsdynamik zählt.  Als Standortfaktor ist zwar die Kontrolle der Abgabenbelastung wichtig, aber auch ein angemessener Ausbaugrad der Infrastrukturen. Der Ausbau der Netze ist deshalb fortzusetzen, entsprechend der in Ausarbeitung begriffenen Infrastrukturstrategie. Fortzusetzen ist aber auch die den Empfehlungen der OECD folgende Reform der Sektorregulierungen. In dieser Legislatur soll insbesondere der Postmarkt der Konkurrenz zu fairen Bedingungen geöffnet werden. Aus Wachstumssicht kommt es nicht nur auf den Leistungsstaat an, sondern auch auf den Rechtsrahmen, den die Politik für unternehmerische Aktivitäten setzt. Nach einlässlichen Diskussionen zur «Corporate Governance» in der abgelaufenen Legislatur (vgl. die im Parlament noch hängige Revision des Aktien- und Rechnungslegungsrechts) ist in dieser Legislatur von einer Überprüfung der Konkursregeln ein Plus an unternehmerischer Initiative zu erhoffen, neben einer Besserstellung der Gläubiger durch früher eingeleitete und rascher abgewickelte Verfahren, die zu einer höheren Liquidationsdividende führen.

Integrativer Arbeitsmarkt und hoch stehendes Bildungssystem


Wachstumspolitik soll nicht nur im Interesse des konsumierenden Haushalts und des produzierenden Unternehmens erfolgen, sondern auch die beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen Erwerbstätigen stärken. Erfolgversprechende Basis dazu ist ein integrativer Arbeitsmarkt – direkt, indem Arbeitsmarktflexibilität die Arbeitslosigkeit tief hält, sowie indirekt, indem ein integrativer Arbeitsmarkt die Sozialbudgets entlastet und so Lohnabzüge begrenzt und die Arbeitsanreize hoch hält.  Eine Interdependenz unter den Erwerbstätigen ergibt sich indes nicht nur über die Sozialwerke und deren Finanzierung, son-dern auch direkt am Arbeitsplatz. In einer sich globalisierenden Welt wird es immer wichtiger, in einem Team zu arbeiten, das sich international zusammensetzt und in das man nach Möglichkeit seine eigenen Auslanderfahrungen mit einbringen kann. Dies wird mit der Fortführung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU erreicht.  Internationale Öffnung kann die Löhne weniger qualifizierter Beschäftigter unter Druck setzen. Dies kann über den Handel von Gütern und Dienstleistungen (Spielzeug aus China, Auslandferien) oder durch Migration von Produktionsfaktoren geschehen (Direktinvestitionen im Ausland, Arbeitskräftezuzug). Erfolgt eine regelmässige Höherqualifizierung der Erwerbsbevölkerung in ihrem Durchschnitt, wird diese Gefahr begrenzt. Bei Höherqualifizierung überwiegen die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung für die meisten Bevölkerungskreise. Ein bildungspolitischer Akzent ist deshalb auf Universitätsstufe zu legen: In der Schweiz liegt die Beschulungsquote auf diesem Niveau noch vergleichsweise tief. Die Quote ist indes in raschem Wachstum begriffen, was den finanziellen Mittelbedarf erhöht. Gleichzeitig kann die Effizienz des Mitteleinsatzes durch eine neu strukturierte Hochschullandschaft noch gesteigert werden.

Einbezug der Kantone


Ob dieser bildungspolitischen Prioritäten des Bundes soll die Empfehlung der OECD nicht vergessen werden, wonach der Schulerfolg von Kindern mit Migrationshintergrund im Ausbildungssystem durch Zugang zu Vorschulerziehung und familienexterner Kinderbetreuung gesteigert werden kann. Anders als auf der tertiären Bildungsstufe fallen diese Aufgaben überwiegend oder gar ausschliesslich in den Kompetenzbereich der Kantone. Mit dem Schulkonkordat HarmoS haben die Kantone bereits zweckgerichtete Schritte eingeleitet. Mit dem Hinweis auf die bildungspolitischen Vorhaben der Kantone ist auch gesagt, dass sich die Wachstumspolitik nicht auf Massnahmen beschränken sollte, die der Bund im Rahmen der Legislaturplanung treffen will. Wesentliche wachstumspolitische Beiträge können in ihren Kompetenzbereichen auch die Kantone leisten. Beginnend mit der fiskalischen Standortattraktivität sind neben der Bildung auch das Leistungsangebot kantonaler und kommunaler (Versorgungs-)Unternehmen oder der Rechtsrahmen für Bauvorhaben als wachstumspolitische Aktionsfelder zu nennen.

Grafik 1 «Entwicklung des BIP pro Einwohner in Kaufkraftparitäten, 1970-2005»

Grafik 2 «Entwicklung der relativen Sektorproduktivität, 1991-2006»

Kasten 1: Schweiz fällt im Pro-Kopf-Einkommen zurück
Die Schweiz liegt beim Pro-Kopf-Einkommen nicht mehr weit voraus. Auf kaufkraftbereinigter Basis wird sie in absehbarer Zeit ins Mittel der EU-15 zurückfallen (siehe Grafik 1). Die Konvergenz der Volkseinkommen unter den entwickelten Staaten ist aber keine Zwangsläufigkeit, wie das Beispiel der USA zeigt. Umgekehrt konnte Japan, das wie die Schweiz ein hohes Preisniveau auf einem relativ stark abgeschotteten Binnenmarkt kennt, das Niveau zuletzt nicht mehr steigern.

Kasten 2: Produktivitätssteigerung im Exportsektor
Der Exportsektor hat seine Produktivität in erstaunlichem Masse gesteigert, wie der Vergleich der Sektoren in Grafik 2 zeigt. Der Druck einer globalisierungsbedingt intensivierten Konkurrenz zwingt die exportierenden Unternehmen dazu, ihre Leistungsfähigkeit ständig zu verbessern. Auf der anderen Seite zeigt der (private) Binnensektor verglichen mit dem Durchschnitt eine Stagnation oder gar einen Rückgang der reellen Produktivität in Vollzeitäquivalenten. Der staatsnahe Sektor zeigt eine parallele Entwicklung auf tieferem Niveau. Da hier die Messung aus buchhaltungstechnischen Gründen vor allem das Lohnniveau abbildet, kann daraus nicht die Produktivität pro Arbeitnehmenden abgeleitet werden.

Zitiervorschlag: Peter Balaster (2008). Schweizer Wachstumspolitik im Lichte der OECD-Empfehlungen. Die Volkswirtschaft, 01. April.