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Nachhaltige Finanzpolitik noch nicht erreicht

Die aktuellen finanzpolitischen Prognosen der OECD zeigen, dass sich die finanzpolitische Lage der Schweiz in der letzten Legislaturperiode verbessert hat. Die etwas günstigeren Rahmendaten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Finanzierung der öffentlichen Haushalte noch nicht nachhaltig gesichert ist. Es besteht weiterer Handlungsbedarf, um den Verdrängungsprozess zugunsten der Sozial- und Gesundheitsausgaben zu stoppen und finanzpolitischen Entscheidungsspielraum zurückzugewinnen. Insbesondere müsste der Blickwinkel längerfristig ausgerichtet werden, um die anstehenden demografischen Zusatzkosten aufzufangen. Eine Nachhaltigkeitsregel für die Sozialversicherungen wäre eine gute Ergänzung.

Die aktuellen finanzpolitischen Prognosen der OECD zeigen, dass sich die finanzpolitische Lage der Schweiz in der letzten Legislaturperiode verbessert hat. Die etwas günstigeren Rahmendaten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Finanzierung der öffentlichen Haushalte noch nicht nachhaltig gesichert ist. Es besteht weiterer Handlungsbedarf, um den Verdrängungsprozess zugunsten der Sozial- und Gesundheitsausgaben zu stoppen und finanzpolitischen Entscheidungsspielraum zurückzugewinnen. Insbesondere müsste der Blickwinkel längerfristig ausgerichtet werden, um die anstehenden demografischen Zusatzkosten aufzufangen. Eine Nachhaltigkeitsregel für die Sozialversicherungen wäre eine gute Ergänzung.

Die OECD hat kürzlich ihre aktuellen finanzpolitischen Prognosen publiziert. Vgl. OECD Economic Outlook 82. Die Daten zeigen: Viele OECD-Länder vermochten ihren eingeleiteten Konsolidierungskurs der letzten Jahre fortzusetzen. Nicht zuletzt dank kräftig sprudelnder Einnahmen sinken die strukturellen Defizite seit dem Jahr 2000. In vielen Ländern geht auch die Staatsquote zurück.

Trotz erster Erfolge für die Schweiz: Bewährungsprobe steht noch aus


Betrachtet man die Daten zur Schweiz, werden die finanzpolitischen Anstrengungen bei Bund, Kantonen und Gemeinden während der letzten Legislaturperiode 2004-2007 deutlich. Zwischen 1990 und 2003 betrug das konsolidierte Ausgabenwachstum noch rund 4% pro Jahr, was deutlich über dem Wirtschaftswachstum und der Teuerung lag. 2004-2007 stiegen die Ausgaben hingegen noch um rund 2% pro Jahr (Bund +3,1%), bei einer Teuerung von 1% und einem nominalen Wachstum der Bundesausgaben von 3,8%. Auf Bundesebene sind insbesondere die Entlastungsprogramme EP 03 und EP 04 zu nennen. Sie trugen dazu bei, dass das Ausgabenwachstum gebremst werden konnte (siehe Grafik 1). Geprägt durch den unterschiedlichen Handlungsbedarf erfolgten auf Kantons- und Gemeindeebene ebenfalls Budgetsanierungen. Im Ergebnis verbesserten sich damit die defizitären Staatshaushalte in der letzten Legislatur sukzessive; 2007 konnte sogar ein Einnahmenüberschuss von 1,2% des BIP verbucht werden. Ähnliches gilt für die Staatsquote, die sich – gestützt durch das freundliche konjunkturelle Umfeld – von 35,9% des BIP 2004 auf 34,0% 2007 zurückbildete. Da die Einnahmenquote stabil blieb, konnte auch der Schuldenstand von 57,9% des BIP auf 55,5% abgebaut werden. Die OECD-Prognosen sehen eine Fortschreibung dieser günstigen Entwicklung für 2008/2009 vor und erwarten einen Rückgang der Verschuldungsquote auf 54,7%.  Angesichts dieser günstigen Entwicklung stellt sich die Frage: Ist der traditionelle Ruf der Schweiz als Hort finanzpolitischer Stabilität wieder hergestellt und die Fehler der Neunzigerjahre korrigiert?  – Sperrklinken-Effekt bei den Ausgaben: Betrachtet man die Ausgaben der Schweiz über die Zeit, wird ein so genannter Sperrklinken-Effekt Der Sperrklinken-Effekt (displacement effect) als Erklärung für den langfristigen Expansionstrend der Staatsausgaben wurde erstmals durch Peacock und Wiseman (1961) in die Diskussion eingebracht. sichtbar: Während Krisenzeiten erhöhen sich die Staatsausgaben, sie können aber während der nachfolgenden Hochkonjunktur nicht auf das ursprüngliche Niveau zurückgeführt werden. Die Gefahr ist also gross, dass die Staatsquote mit dem Abflauen der Konjunktur in der kommenden Legislaturperiode auf neue Rekordwerte ansteigen wird, mit entsprechenden Folgen für die Abgabenbelastung.  – Im internationalen Vergleich immer noch unterdurchschnittlicher Leistungsausweis: Die günstige finanzpolitische Entwicklung der Schweiz während der letzten Legislaturperiode relativiert sich in einem längerfristigen internationalen Vergleich. Nach Japan, Portugal und Korea verzeichnet die Schweiz für die Periode ab 1990 den stärksten Anstieg bei der Staatsquote. Auch bei der Verschuldungsquote gehört die Schweiz zu denjenigen Ländern mit den stärksten Zuwächsen. Dabei fällt die negative Entwicklung zu Beginn der Neunzigerjahre besonders ins Gewicht; die Anstrengungen während der letzten Legislaturperiode vermochten diese Zuwächse im internationalen Vergleich bei weitem nicht zu kompensieren. Interessant ist der Vergleich mit Schweden, einem Land, das gerne als Referenz behaupteter positiver Auswirkungen eines hohen Staatsanteils herangezogen wird: Nicht nur reduzierte Schweden – im Gegensatz zur Schweiz – die Staatsausgaben und -einnahmen seit 1990. Auch der Vergleich der letzten Legislaturperiode ist eindrücklich: Reduktion der Staatsquote um 3,1 Prozentpunkte (Schweiz: -1,9 Prozentpunkte), Reduktion der Einnahmenquote um 0,8 Prozentpunkte (Schweiz: -0,4 Prozentpunkte) und Reduktion der Verschuldungsquote um 14,4 Prozentpunkte (Schweiz: -2,4 Prozentpunkte). Dabei lag das reale BIP-Wachstum durchschnittlich um 0,9 Prozentpunkte höher als jenes der Schweiz. Freilich liegen die Ausgaben- und die Einnahmenquote Schwedens immer noch weit über denjenigen der Schweiz; in der Tendenz verkleinert sich aber die Diskrepanz. Zudem liegt Schwedens Verschuldung heute um 9 Prozentpunkte tiefer als jene der Schweiz. Schweden verfolgt also seit gut zehn Jahren eine nachhaltigere und restriktivere Finanzpolitik als die Schweiz.  – Demografische Herausforderungen stehen an: Unbeantwortet blieb in der letzten Legislaturperiode auch, wie den drohenden Mehrbelastungen begegnet werden soll, die aufgrund der demografischen Entwicklung absehbar sind. Dies obwohl einige Sozialwerke bereits heute strukturelle Defizite ausweisen. In der AHV klafft ab 2015 aufgrund der demografischen Entwicklung eine stark wachsende Finanzierungslücke. Allein zur Deckung der laufenden Rechnung wäre für 2017 eine Mehrwertsteuererhöhung um 0,5 Mehrwertsteuerprozente notwendig. Der Trend Richtung zusätzliche Steuererhöhungen zur Finanzierung bleibt damit ungebrochen. Bereits eingeplant ab 2010 sind Beitragserhöhungen für die Invalidenversicherung (IV), die Arbeitslosenversicherung (ALV) und die Erwerbsersatzordnung (EO). Immerhin wurde mit der 5. IV-Revision auch ausgabenseitig eine leichte Trendkorrektur vorgenommen, und in der ALV sind ebenfalls gewisse Massnahmen vorgesehen. Diese reichen aber nicht aus, um die weiteren Ausgaben zu finanzieren.   Die nachhaltige Finanzierung und Sicherung der Sozialwerke ist die grösste finanzpolitische Herausforderung der Schweiz. Und die Ausgangslage ist wenig komfortabel: Bereits in den Neunzigerjahren stiegen die Sozial- und Gesundheitsausgaben weit überdurchschnittlich, obwohl die demografischen Zusatzkosten erst ab 2015 richtig spürbar werden. Seit den Neunzigerjahren steigen die Kosten des Sozialstaates rasant: Während das BIP zwischen 1990 und 2004 um insgesamt 40% zulegte, haben sich die Ausgaben für den Sozial- und Gesundheitsbereich mehr als verdoppelt. Kein anderes europäisches Land verzeichnete einen solchen Zuwachs (siehe Grafik 2). Die Sozialausgabenquote der Schweiz stieg seit 1990 um 10 Prozentpunkte und lag 2004 mit rund 30% nur unweit von den klassischen Wohlfahrtsstaaten (Schweden: 32,9%) entfernt.  Dies hat auch Auswirkungen auf die Struktur des Finanzhaushalts: 2005 gab die öffentliche Hand bereits mehr als 50% der gesamten Ausgaben für die Bereiche soziale Wohlfahrt und Gesundheit aus; 1990 waren es noch lediglich 42% (siehe Grafik 3). Verantwortlich dafür ist primär das hohe Ausgabenwachstum bei der IV, der ALV und im Gesundheitswesen. Ein Ende dieses Trends ist nicht absehbar. Künftig werden vor allem die Ausgaben in der AHV aufgrund der Alterung der Bevölkerung und die Ergänzungsleistungen stark wachsen. Damit verdrängen die Ausgaben für die soziale Sicherheit die übrigen wachstumspolitisch wichtigen Aufgaben. Das ist nicht nur finanzpolitisch nicht nachhaltig, sondern auch eine schlechte Grundlage für das künftige Wirtschaftswachstum. Es ist ein eigentlicher Verdrängungswettbewerb auszumachen: Die Ausgaben der sozialen Wohlfahrt engen den finanziellen Spielraum für andere, investive Ausgaben zusehends ein.

Nachhaltigkeitsregel für den Sozialbereich prüfen


Durch Volksentscheid vom 22.Juni 2001 wurde mit der Schuldenbremse das Bekenntnis zur nachhaltigen Sanierung der Finanzrechnung des Bundes auf Verfassungsstufe zum Ausdruck gebracht. Der rasante Anstieg der Verschuldung sollte gestoppt werden. Die Schuldenbremse hat sich in ihren ersten Jahren bewährt: Das strukturelle Defizit konnte eliminiert werden. Die Schuldenquote des Bundes hat 2005 einen Höchstwert von 28,1% erreicht und ist seitdem rückläufig. 2008 wird mit einer Quote von 24,6% gerechnet. Eine Schwachstelle der Schuldenbremse besteht allerdings darin, dass Ausgaben ausserordentlicher Natur von der Schuldenbremse ausgenommen sind. Damit besteht die Möglichkeit, dass die Verschuldung – trotz ausgeglichener Finanzrechnung – über ausserordentliche Ausgaben weiter zunimmt. Gemäss Schuldenbericht des Bundes sind nur knapp 40% des Schuldenanstiegs aufgrund von Defiziten aus der Finanzrechnung entstanden. Vgl. Bericht des Bundesrates über die Schuldenentwicklung der öffentlichen Haushalte (EFD, 2007). Mit einer Ergänzungsregel will der Bundesrat die Tür zu diesem Schlupfloch strenger kontrollieren. Die genauen Modalitäten dieser Regel stehen noch aus.  Die längerfristigen Herausforderungen zur nachhaltigen Finanzierung der Sozialwerke können aber auch mit der Ergänzungsregel nicht gelöst werden: Heute fallen auf eine Person im Ruhestand vier Personen im erwerbsfähigen Alter. In 15 Jahren werden es noch drei und in 30 Jahren noch rund zwei Personen sein. Der Bundeshaushalt ist von dieser Entwicklung in den Bereichen Altersvorsorge, Gesundheit und Pflege sowie IV gefordert. Die demografische Entwicklung belastet den öffentlichen Haushalt langfristig. Ähnlich zur heutigen Schuldenbremse sollten deshalb auch für die Sozialwerke Automatismen geschaffen werden, die sich an der Finanzlage der Sozialwerke orientieren. Bei Verletzung der Regel wäre die Politik zur Einleitung entsprechender Korrekturmassnahmen verpflichtet. Von besonderer Bedeutung ist dies für die AHV, da dieses Sozialwerk bereits heute rund die Hälfte der gesamten Sozialausgaben für sich beansprucht und aufgrund der demografischen Entwicklung mittelfristig rasch wachsende Defizite zu erwarten sind. Eine Nachhaltigkeitsregel würde die Politik dazu bewegen, die AHV-Finanzierung auf eine langfristig finanzierbare Basis zu stellen. Lösungen müssten bereits vor Finanzierungsdefiziten und Schuldenbergen in den entsprechenden Fonds zwingend umgesetzt werden. Damit würde das Vertrauen in das wichtigste Sozialwerk gestärkt, und die Finanzierung wäre langfristig gesichert. Auch für die heute stark defizitären Sozialwerke ALV, IV und EO braucht es eine schärfere bzw. neue Nachhaltigkeitsregel, um den Rückfall in die Schuldenwirtschaft zu verhindern.

Grafik 1 «Entwicklung der Bundesausgaben, 1990-2011»

Grafik 2 «Veränderung der Sozialausgabenquote, 1990-2004»

Grafik 3 «Konsolidierte Ausgaben von Bund, Kantonen, Gemeinden und Sozialversicherungen»

Kasten 1: Schweden: Kein Beispiel für lockere Fiskalpolitik Gelegentlich wird der Handlungsbedarf der Schweiz zur ausgabenseitigen Haushaltskonsolidierung mit dem Hinweis in Frage gestellt, skandinavische Länder würden sich auch einen ausgebauten Sozialstaat mit hoher Steuerlast leisten und trotzdem hohe Wachstumsraten erzielen.Vor diesem Hintergrund ist es interessant, das Beispiel Schweden genauer zu betrachten.Wie die OECD-Daten offenbaren, stürzte die schwedische Wirtschaft zu Beginn der 1990er Jahre in eine tiefe Krise: Zusammenbrechende Immobilienpreise, Anstieg der Privatverschuldung, Bankenkrise, hohe Arbeitslosenzahlen und eine einbrechende globale Konjunkturlage hinterliessen auch ihre Spuren in den öffentlichen Haushaltena: Zwischen 1990 und 1993 verschlechterte sich der öffentliche Haushalt massiv von einem Finanzierungsüberschuss von 3,4 % des BIP auf ein Defizit von 11,3 % des BIP.b Die Ausgabenquote stieg ebenfalls von 61,3 % auf 72.4 % des BIP. Gleichzeitig reduzierte sich die Einnahmenquote leicht, so dass sich die Verschuldung von 46,7 % des BIP auf knapp 80 % des BIP erhöhte. Mit dem Regierungswechsel 1994 wurde ein strikter Konsolidierungskurs eingeleitet. Interessanterweise konsolidierte die sozialdemokratisch geführte Regierung unter Ingvar Carlsson und später Göran Persson zu grossen Teilen ausgabenseitig.c Die Einnahmenquote blieb über die gesamte Konsolidierungsperiode 1995-2005 relativ stabil, die Ausgabenquote konnte jedoch um mehr als 10 %-Punkte und die Schuldenquote noch markanter um knapp 20 %-Punkte reduziert werden. Diese Entwicklung ist auf das im Frühling 1995 eingesetzte Sparprogramm der Regierung zurückzuführen.Eine wichtige Massnahmen im Konsolidierungsprozess Schwedens betraf die Transparenz der öffentlichen Finanzen. Viele Fonds, die bis Mitte der 1990er Jahre eine eigene Rechnung kannten, wurden ins allgemeine Budget eingegliedert. Diese Massnahme war gekoppelt mit einer weiteren wichtigen institutionellen Änderung des Budgetprozesses: Die Stärkung des Finanz- und Premierministers im Kabinett. Dies wurde erreicht, indem von einem «Bottom-up»-Modell, bei dem die Summe der Budgeteingaben aller Fachminister den Finanzbedarf ergab, auf ein «Top-down»-Modell umgestellt wurde.d Heute entscheidet auf Antrag der Regierung das Parlament bereits im Februar über die Gesamthöhe des kommenden Budgets sowie der folgenden drei Jahre. Danach werden die Gesamtausgaben auf die 27 Ressorts aufgeteilt, wobei die Ausgabenobergrenze nicht überschritten werden darf (Wagschal und Wenzelburger, 2006).

Zitiervorschlag: Brigitte Lengwiler, Christoph A. Schaltegger, (2008). Nachhaltige Finanzpolitik noch nicht erreicht. Die Volkswirtschaft, 01. April.