Warum die Schweizer Wirtschaft weiter wachsen kann, darf und muss
In den Sechzigerjahren war das Verhältnis zum Wirtschaftswachstum noch unverkrampft: Volkswirtschaften wurden anhand der Tonnen an Stahl, die sie jährlich herausbrachten, miteinander verglichen. Prosperität wurde an der Zahl der Haushalte gemessen, die in die Mercedes-Klasse aufstiegen. Raubbau an der Natur wurde erst in den Siebzigerjahren mit dem «Club of Rome» zum Thema und die verantwortungsethische Rechtfertigung des Wachstums erst mit der UNO-Kommission für Umwelt und Entwicklung zu einem politischen Erfordernis. Seit Anfang dieses Jahrzehnts ist eine Gegenbewegung im Gang: Nachdem in den Neunzigerjahren die Beschäftigungssituation im Zentrum der Reformen gestanden hatte, entwickelte die OECD ab 2002 eine Wachstumsstrategie. Und seit 2005 publiziert sie jährlich die Studie «Going for Growth», in der sie ihren Mitgliedländern Prioritäten für ihre Reformpolitik empfiehlt. Die Wachstumspolitik hat sich so erneut als ein primäres wirtschaftspolitisches Handlungsfeld etabliert.
Die Wachstumsleistung der Schweiz
Betrachtet man Beschäftigung und erreichten Wohlstand, steht die Schweiz im internationalen Vergleich weiterhin exzellent da. Zu laufenden Wechselkursen trägt ein Vollzeit tätiger Arbeitnehmer in der Schweiz das weltweit höchste Monatssalär nach Hause. Die Frage, warum es in der Schweiz noch eine Wachstumspolitik braucht, beantwortet sich daher nicht spontan. Die hohen Löhne sind nämlich das Resultat einer weit überdurchschnittlichen Zahl an Arbeitsstunden, und das komfortable Einkommensniveau resultiert nur, wenn man das hohe schweizerische Preisniveau ausblendet. Vergleicht man international die Arbeitsproduktivität (gemessen als das wirtschaftliche Ergebnis einer Stunde Arbeit) auf kaufkraftbereinigter Basis, fällt die Schweiz dagegen ins untere Mittelfeld der OECD-Länder zurück (siehe Grafik 1) – insbesondere, wenn man nur die Länder berücksichtigt, die keinen wirtschaftlichen Nachholbedarf aufweisen. Dieses Ergebnis hängt zu einem gewissen Teil davon ab, in welchem Ausmass das Arbeitspotenzial in einem Land genutzt wird. Das Ausmass der Nutzung des Arbeitspotenzials entspricht dem Arbeitsvolumen in Stunden dividiert durch die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (15-64 Jahre).Auch wenn die Produktivität in Bezug auf diesen Punkt korrigiert wird, liegt die Schweiz weiterhin im Mittelfeld der OECD-Länder. Im Vergleich zu den bestplatzierten Ländern (USA, Irland, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Norwegen) könnte die Schweiz ihre Stundenproduktivität um knapp 20% steigern. Hier liegt denn auch ein bedeutendes Wachstumspotenzial, das mit Strukturreformen erschlossen werden könnte. Zudem scheint sich die Schweiz nicht an den am besten geeigneten Methoden zu orientieren, um ihre Arbeitsproduktivität zu steigern. Die Hypothese bestätigt sich, dass die Produktivitätssteigerungsrate seit 1990 konstant geblieben ist, wie dies die Grafik 2 unter Ausschluss konjunktureller Faktoren zeigt. Die hervorragenden Ergebnisse der Schweizer Wirtschaft in den Jahren 2004-2007 mit einem durchschnittlichen Wachstum von 2,9% lassen sich wie folgt erklären: – gute Konjunktur (über 1%); – Personenfreizügigkeit (ca. 1%), mit der bedarfsgerecht das Angebot an Arbeitskräften erhöht wurde; – trendmässige Steigerung der Arbeitsproduktivität, welche praktisch konstant geblieben ist (1%). In den kommenden Jahren wird das Arbeitskräfteangebot voraussichtlich weniger rasch ansteigen, da sich die natürliche Wachstumsrate des Arbeitskräfteangebots durch die Alterung der Bevölkerung verlangsamt (siehe rechter Teil der Grafik 2, Wachstumsszenario mit konstanter Produktivität). Wenn die Produktivitätssteigerungsrate nicht erhöht wird, dürfte sich – dies ist das wahrscheinlichste Szenario – das trendmässige Wachstum des BIP abschwächen. Da vom Problem der demografischen Alterung die ganze EU betroffen ist, kann in nächster Zeit auch nicht mehr unbedingt mit einem weiteren Zuwachs ausländischer Arbeitskräfte gerechnet werden.
Raschere Umsetzung von Reformen
Für die nötige Erhöhung der Produktivitätssteigerungsrate sind zahlreiche Reformen auf allen Ebenen erforderlich. Notwendig ist aber insbesondere eine Öffnung des Binnenmarktes. Gegen diese Reformen wurden verschiedene Einwände vorgebracht, die jedoch wenig stichhaltig sind. Nachfolgend befassen wir uns mit den möglichen Auswirkungen des Wachstums auf die soziale Situation und die Umwelt.
Wachstum und Sozialversicherungen
Aus Grafik 3 geht hervor, dass mit einer Erhöhung der Produktivitätssteigerungsrate von 1% auf 1,5% ausgeglichene öffentliche Finanzen – einschliesslich der Sozialversicherungen – ohne Steuererhöhungen gesichert werden könnten. Bei einem Rückgang der Produktivitätssteigerungsrate um 0,5% würde die implizite Staatsverschuldung hingegen bei rund 100% liegen. Um dies zu kompensieren, wäre eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes um über 5% erforderlich. Eine solche Erhöhung der Steuerbelastung hätte jedoch eine weitere Abschwächung des Wachstums zur Folge. Von allen Optionen, die zur Konsolidierung der Sozialversicherungen bestehen, wird mit einer Erhöhung des strukturellen Wachstums die grösste Wirkung erzielt.
Wachstum und soziale Ungleichheiten
Mit einem Modell, das die Entwicklung der verfügbaren Einkommen von 1990 bis 1998 erklärt, wurde aufgezeigt, dass das hohe Preisniveau im Binnenmarkt der Hauptfaktor für die Zunahme der sozialen Ungleichheiten in der Schweiz war. Eine Wachstumspolitik, die insbesondere auf Preissenkungen im Binnenmarkt ausgerichtet ist, wäre folglich das geeignetste Instrument, um soziale Ungleichheiten zu bekämpfen.
Wachstum und Umwelt
Die Meinung, ein anhaltendes Wachstum lasse sich mit der Berücksichtigung von Umweltanliegen nicht in Einklang bringen, ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Dies trifft indessen nur begrenzt zu. Die Tabelle 1 enthält die Werte verschiedener Nachhaltigkeitsindikatoren in den Jahren 2000 und 2005 gemäss Einschätzung des Bundesamtes für Statistik (BFS). Die Situation in Bezug auf die Abfälle, die Gewässer- und Luftverschmutzung sowie die Waldfläche hat sich trotz eines starken Wachstums deutlich verbessert. Daraus geht hervor, dass eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und verschiedenen Formen von Umweltbelastung möglich ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Entkoppelung fortgesetzt werden kann, ist sehr hoch. Die Umweltprobleme konzentrieren sich auf zwei Bereiche: die wachsende Mobilität, die auch mit einer Zersiedelung der Landschaft verbunden ist, und die Emission von Treibhausgasen, die langfristig beträchtlich gesenkt werden muss. Soweit die Bevölkerung Mobilität als Umweltbelastung – und damit als Problem – empfindet, ist der Einsatz der raumplanerischen Instrumente und eine gezielte Verteuerung der Verkehrs nötig. Die Treibhausgasemissionen betreffen die ganze Welt, und die Schweiz hat auf diese Entwicklung nur einen begrenzten Einfluss. Sie wird aber ihren Beitrag an die Bewältigung der globalen Herausforderung leisten müssen. Wie gross dieser Beitrag sein wird, ist offen. Gemäss Schätzungen der OECD müsste für eine Politik, welche den grössten umweltpolitischen Herausforderungen begegnet, im Jahr 2030 etwas mehr als 1% des weltweiten BIP aufgewendet werden. Die Rate des für andere Zwecke nutzbaren Trendwachstums müsste bis dann Jahr für Jahr um weniger als 0,1% pro Jahr tiefer angesetzt werden. Die heute beobachteten Wachstumsraten reichen folglich zur Bestreitung des Aufwandes aus, der zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Förderung von F&E im Bereich der Umwelttechnologien nötig ist. Auf Wachstum zu verzichten, ist demnach keine Lösung, zumal gerade in Zeiten schlechter Konjunktur die Akzeptanz in der Bevölkerung für Umweltanliegen abnimmt.
Fazit
Eine Politik des Nullwachstums hätte schwer wiegende Konsequenzen. Angesichts der historischen Erfahrungen wäre mit grosser Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es zu einem umfangreichen Exodus von Personen, Wissen und Unternehmen käme. Die sozialen Probleme der alternden Schweizer Bevölkerung würden wahrscheinlich unlösbar. Das wirtschaftliche Wachstum bleibt somit Garant für eine nachhaltige Entwicklung. Da Wirtschaftswachstum und Umweltanliegen nur bis zu einem gewissen Grad kompatibel sind, ist die Schweiz aber verpflichtet, ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit unseres Planeten zu leisten.
Grafik 1 «Stundenproduktivität in Kaufkraftparitäten (PPP), 2006»
Grafik 2 «Entwicklung der Wachstumsraten des BIP und seiner Komponenten, 1990-2020»
Grafik 3 «Implizite Staatsverschuldung gemäss der Generationen-Bilanz von 2001»
Tabelle 1 «Indikatoren der nachhaltigen Entwicklung in der Schweiz, 2000 und 2005»
Kasten 1: Bibliografie
– Borgmann C. und Raffelhüschen B., Zur Entwicklung der Nachhaltigkeit der Schweizerischen Fiskal- und Sozialpolitik: Generationen-Bilanzen 1995-2001, Struk-turberichterstattung Nr. 25, SECO, Bern, 2004.- Ecoplan, Auswirkungen der Klimaänderung auf die Schweizer Volkswirtschaft (nationale Einflüsse), Studie im Auftrag des BAFU, Bern, 2007.- Enkvist P.-A., Nauclér T. und Rosander J., «A Cost Curve for Greenhouse Gas Reduction», The McKinsey Quarterly, 2007, Nr. 1, S. 35-45.- Müller A., Marti M. und van Nieuwkoop R., Globalisierung und die Ursachen der Umverteilung in der Schweiz, Strukturberichterstattung Nr. 12, SECO, Bern, 2002.- OECD, OECD Environmental Outlook to 2030, Paris, 2008. Französische Zusammenfassung unter: www.oecd.org/dataoecd/29/12/40200611 .pdf.
Zitiervorschlag: Surchat, Marc (2008). Warum die Schweizer Wirtschaft weiter wachsen kann, darf und muss. Die Volkswirtschaft, 01. April.