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Makroökonomische Ungleichgewichte und internationale Kapitalflüsse

Ein Leistungsbilanzdefizit wird für Schwellenländer als traditioneller Frühwarnindikator für Währungskrisen angesehen. Doch wie verhält es sich mit dem seit längerer Zeit bestehenden Leistungsbilanzdefizit der USA, dessen Ursachen und Auswirkungen unter vielen Ökonomen kontrovers diskutiert werden? Der nachfolgende Artikel zeigt, dass seit 2005 die Phase der Korrektur der internationalen makroökonomischen Ungleichgewichte begonnen hat und dass die USA eine reale effektive Abwertung des US-Dollars von rund 10% benötigen, um das Handelsbilanzdefizit um einen Prozentpunkt zu verringern.

Makroökonomische Ungleichgewichte und internationale Kapitalflüsse



Im Zusammenhang mit der derzeitigen internationalen Finanzmarktkrise ist die Frage makroökonomischer Ungleichgewichte und internationaler Kapitalströme verstärkt in den Fokus der öffentlichen Debatten gerückt. Ein besonderes Interesse hat dabei das persistente Leistungsbilanzdefizit der USA erfahren. Wie Grafik 1 verdeutlicht, erreichte das Leistungsbilanzdefizit der USA in Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) im Jahr 2000 4,3% und erhöhte sich danach bis 2006 weiter auf 6,2%. Im Jahr 2007 erfolgte dann ein Rückgang auf 5,3%.

Kontroverse Einschätzung des Leistungsbilanzdefizits der USA


Da ein Leistungsbilanzdefizit eine Verschuldung des Inlandes gegenüber dem Ausland darstellt, wird das Leistungsbilanz-defizit in Prozent des BIP als ein traditioneller Frühwarnindikator für Währungskrisen in Schwellenländern angesehen. Als eine aus früheren Währungskrisen abgeleitete kritische Schwelle für diese Länder wird dabei in der Literatur traditionellerweise ein Wert von 3% angesehen. Angesichts dieses Schwellenwertes und der oben dargestellten Entwicklung stellen sich folgende drei Fragen: – Wie ist das US-amerikanische Leistungsbilanzdefizit ökonomisch zu bewerten? – Welche Lösungsmöglichkeiten existieren und sind für eine Korrektur erforderlich? – Über welche Transmissionskanäle wird die Anpassung primär erfolgen, und welche Grössenordnung ist dabei erforderlich bzw. zu erwarten? Alle drei Fragen werden in der Literatur kontrovers diskutiert. Bei der Frage nach den Ursachen des US-amerikanischen Leistungsbilanzdefizits wird einerseits auf das mangelnde Sparen in den USA und andererseits auf die Geld- und Währungspoli-tik verschiedener asiatischer Länder hingewiesen. Ein markantes Beispiel dafür ist China, welches – zumindest bis Juli 2005 – eine Unterbewertung des Renminbi als wirtschaftspolitische Strategie zur Exportsteigerung eingesetzt hat. Die chinesische Wechselkurspolitik führte zu massiven Kapitalexporten, die zu einem Grossteil in US-amerikanische Staatsanleihen investiert wurden. Dies führte in den USA zu einer weiteren Aufwertung der Währung, ermöglichte niedrige Zinsen und vergrösserte das Leistungsbilanzdefizit. Beide Argumente führen letztlich dazu, dass sowohl interne Strukturveränderungen (erhöhte Sparneigung in den USA) als auch eine Abwertung des US-Dollars erforderlich sind. Eine ganz andere Interpretation der Zahlen in Grafik 1 ergibt sich demgegenüber, wenn man das US-amerikanische Leistungsbilanzdefizit als Indikator der Stärke der US-amerikanischen Volkswirtschaft verstanden haben will. Der Kapitalzustrom in die USA und das daraus resultierende Leistungsbilanzdefizit drücken danach die Erwartung aus, dass die US-amerikanische Volkswirtschaft weiter hohe Produktivitäts- und BIP-Wachstumsraten realisieren wird. Pointiert formuliert: Das Leistungsbilanzdefizit ist kein Indikator der Schwäche, sondern im Gegenteil ein Indiz der Stärke der US-amerikanischen Volkswirtschaft. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass das Leistungsbilanzdefizit längerfristig bestehen kann. Neben der kontroversen qualitativen Einschätzung der Problemlage gibt es auch bedeutende Unterschiede bei der Einschätzung des erforderlichen quantitativen Korrekturbedarfs. Soll die Anpassung primär über eine Veränderung des realen effektiven Wechselkurses erfolgen oder kann eine Anpassung über unterschiedliche Wachstumsraten in den USA versus den Rest der Welt erfolgen? Wie stark muss der reale US-amerikanische Wechselkurs für eine Korrektur des Leistungsbilanzdefizits abgewertet werden?

Betrachtung aus historischer Perspektive


Zur Beantwortung dieser qualitativen und quantitativen Fragen erscheint es sinnvoll, die aktuelle Entwicklung aus einer historischen Perspektive zu betrachten. Welche Länder wiesen früher grosse und längerfristige Leistungsbilanzdefizite auf, und wie wurden diese korrigiert? Welche Anpassungspfade sind bei den Leistungsbilanzkorrekturen jenseits aller länderspezifischer Unterschiede erkennbar, und wie sahen die Grössenordnungen aus? Welcher Zeitbedarf ist dabei erkennbar? Eine Zusammenstellung der betrachteten 42 historischen Episoden liefert Grafik 2. Betrachtet werden dabei ausschliesslich Industrieländer; Schwellenländer und Ölexporteure werden wegen der Strukturunterschiede nicht mit einbezogen. In der Grafik sind auf der horizontalen Achse das Leistungsbilanzdefizit in Prozent des BIP zum Zeitpunkt des Korrekturbeginns und auf der vertikalen Achse der Umfang der Anpassung dargestellt.  Die grössten Korrekturen erfolgten dabei in Finnland ab 1991, Irland ab 1981 und Portugal ab 1981. Zu diesem Zeitpunkt betrugen die Leistungsbilanzdefizite dieser Länder 5,4%, 13,0% bzw. 15,1%; die anschliessenden Korrekturen betrugen 12,9%, 16,6% bzw. 18,2%. In allen drei Ländern verwandelte sich das ursprüngliche Leistungsbilanzdefizit somit in einen Leistungsbilanzüberschuss. Die letzte Korrektur eines Leistungsbilanzdefizits in den USA erfolgte ab 1987. Das ursprüngliche Defizit betrug damals 3,3%, die anschliessende Korrektur 3,4%. Auch in diesem Fall wurde somit das Leistungsbilanzdefizit abgebaut. Eine Antwort auf die Frage, über welche Kanäle die Korrektur der Leistungsbilanzdefizite in den 42 betrachteten Ländern erfolgt ist, liefert Grafik 3. Auf der horizontalen Achse ist die durchschnittliche BIP-Wachstumsrate nach der Korrekturperiode (1, …, T) abzüglich der durchschnittlichen Wachstumsrate vor dem Beginn der Korrekturphase (-T, …, 1) aufgezeichnet, auf der vertikalen Achse die maximale Verände-rung des effektiven realen Wechselkurses im Zeitintervall (-T, …, T). Die lineare Regression verdeutlicht dabei einen Trade-off (Korrelationskoeffizient -0,21) zwischen der Wechselkursanpassung und der Reaktion der BIP-Wachstumsraten. Diejenigen Länder, die eine starke Abwertung des realen Wechselkurses erfahren haben, mussten im Durchschnitt einen geringeren Wachstumsrückgang hinnehmen. Die quantitative Grössenordnung – wiederum im Durchschnitt aller 42 historischen Episoden – zeigt dabei einen durchschnittlichen Wachstumsrückgang von 1,4% und eine Abwertung des realen Wechselkurses von 12,2%. Die durchschnittliche Dauer der Korrekturphase betrug schliesslich 4,6 Jahre.

Wie gross müssen die Korrekturen sein?


Dies führt zu der Frage, wie stark die Anpassung der realen Wechselkurse – und damit die Änderung der internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit – ausfallen muss, um zu einer Korrektur der aktuellen US-amerikanischen Leistungsbilanzdefizite zu kommen. Die traditionelle qualitative Schlussfolgerung aus ökonometrisch geschätzten Export- und Importfunktionen auf der Basis von Zeitreihendaten ist, dass die bekannten Marshall-Lerner-Elastizitätsbedingungen zur Verbesserung der Handelsbilanz bei einer Abwertung der Währung kurzfristig nicht erfüllt sind, jedoch langfristig Gültigkeit besitzen. Zu diesem sogenannten «beachead effect» vgl. Baldwin, R. (1988) Hysteresis in Import Prices: The Beachhead Effect, in: The American Economic Review 78, S. 773-785. Erst bei grösseren und/oder länger anhaltenden Wechselkurskorrekturen finden Anpassungen statt. Diese Nichtlinearitäten implizieren Schwellenwerte für die Reaktion der Handelsströme auf Änderungen der realen Wechselkurse. Jenseits dieser Schwellenwerte tritt eine beschleunigte Reaktion der Handelsströme auf Wechselkursänderungen auf. Für die Beurteilung der aktuellen US-amerikanischen Leistungsbilanzdefizite ist relevant, dass diese länderspezifischen Schwellenwerte erkennbar von der Flexibilität der Volkswirtschaften abhängen. Volkswirtschaften mit flexiblen Produkt- und Arbeitsmärkten erlauben schnellere Reaktionen, und damit sind die kritischen Schwellenwerte niedriger. Für die USA bedeutet dies, dass der Anpassungsbedarf eher geringer als in anderen Volkswirtschaften ausfallen wird. Empirische Evidenz für diese These liefern die Grafiken 4 und 5. Die Regressionsgeraden mit signifikant negativer Steigung durch die Punktwolken verdeutlichen, dass Länder mit einem höheren Flexibilitätsindex und damit flexibleren Produkt und Arbeitsmärkten im Durchschnitt einen geringeren Schwellenwert benötigen. Mit anderen Worten: In diesen Ländern genügen bereits kleinere Änderungen der realen Wechselkurse und damit der internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit, um Reaktionen der internationalen Handelsströme auszulösen. Ein markanten Beispiel dafür ist der in den Abbildungen erkennbare Fall der USA.   Die vorliegenden ökonometrischen Schätzungen sowie die oben aufgeführten Sonderfaktoren erlauben eine Abschätzung der Grössenordnung des Korrekturbedarfs. Die USA benötigen vermutlich eine reale effektive Abwertung des US-Dollars um 10%, um das Handelsbilanzdefizit um einen Prozentpunkt zu verringern.

Korrektur der Ungleichgewichte hat bereits begonnen


Grafik 6 verdeutlicht, dass die Anpassung des effektiven nominalen und realen US-Wechselkurses seit dem Jahr 2002 stattfindet. Von April 2002 bis April 2008 hat sich z.B. der effektive reale US-Wechselkurs um 24% abgewertet. Wenn man die oben angesprochenen Zeitverzögerungen berücksichtigt, hat die Korrektur der internationalen makroökonomischen Ungleichgewichte bereits begonnen. Als Wendepunkt kann der Jahreswechsel 2005-2006 angesehen werden.  Die oben beschriebenen Entwicklungen werden seit Juli 2005 noch dadurch unterstützt, dass China ab diesem Zeitpunkt den festen Wechselkurs zum US-Dollar aufgegeben und durch ein «Undisclosed-Basket»-Wechselkursregime ersetzt hat, bei dem der Renminbi-Wechselkurs – in Anlehnung an das Währungsregime von Singapur – gegenüber einer grösseren Anzahl von Währungen in einem «Basket» mit zeitvariablen Gewichten fixiert wird. Wie Grafik 7 verdeutlicht, hat dies im Zeitraum Juli 2005 bis April 2008 zu einer (moderaten) realen Aufwertung des Renminbi um 9% geführt. Gegenüber dem US-Dollar ist die Aufwertung dabei deutlicher ausgefallen. Zusammenfassend kann man damit sagen, dass die erforderlichen Korrekturen der beschriebenen internationalen makroökonomischen Ungleichgewichte eingeleitet sind und seit Mitte 2005 auch durch das neue Renminbi-Währungsregime unterstützt werden.

Grafik 1 «Leistungsbilanzdefizit der USA, 1990-2007»

Grafik 2 «Leistungsbilanzdefizitkorrekturen industrialisierter Länder»

Grafik 3 «Änderungen des realen effektiven Wechselkurses sowie der BIP-Wachstumsraten während der Leistungsbilanz-Korrekturphasen»

Grafik 4 «Schwellenwerte in ökonometrisch geschätzten nichtlinearen Importfunktionen und Flexibilitätsindex für Produkt- und Arbeitsmärkte»

Grafik 5 «Schwellenwerte in ökonometrisch geschätzten nichtlinearen Exportfunktionen und Flexibilitätsindex für Produkt- und Arbeitsmärkte»

Grafik 6 «Monatlicher effektiver nominaler und realer Wechselkurs in China, 1990-2008»

Grafik 7 «Monatlicher effektiver nominaler und realer Wechselkurs der USA, 1990-2008»

Zitiervorschlag: Michael Funke (2008). Makroökonomische Ungleichgewichte und internationale Kapitalflüsse. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.