Suche

Abo

Die Ostschweiz – eine starke Region mit Wachstumsschwäche

Die Region Ostschweiz, welche die Kantone Schaffhausen, St. Gallen, Glarus, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden und Thurgau umfasst, ist eine industriell geprägte Region, die im letzten Jahrzehnt eine Wachstumsschwäche durchmachte. Im folgenden Regionenportrait wird die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Ostschweiz anhand detaillierter ökonomischer Indikatoren untersucht. Der Fokus liegt insbesondere auf der wirtschaftlichen Dynamik, die durch die regionale Branchenstruktur, die Positionierung gegenüber internationalen Konkurrenzregionen sowie intraregionale Wachstumsunterschiede erklärt wird.
Schriftgrösse
100%



Die BAK-Grossregion Ostschweiz ist ein geografisch zusammenhängendes Gebiet. Neben St.Gallen als wirtschaftlichem Zentrum gibt es in der Grossregion weitere sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich bedeutende Standorte. Als Ausgangspunkt für eine vertiefte regionalwirtschaftliche Analyse dienen die drei klassischen Indikatoren Bruttoinlandprodukt (BIP), Erwerbstätige und Bevölkerung, mit welchen die Region hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft grob eingeordnet werden kann.

Unterdurchschnittliches BIP pro Kopf


Die Ostschweiz erwirtschaftete im Jahr 2007 9,4% des nationalen BIP. Es arbeiteten 10,8% der Erwerbstätigen in dieser Region, in welcher 11,7% der Schweizer Bevölkerung leben. Aufgrund dieser Werte wird schnell klar, dass der Ostschweiz im Vergleich zu anderen Regionen eine eher untergeordnete Bedeutung für die Schweizer Volkswirtschaft zukommt. Die Grossregion Ostschweiz wies in den Jahren 1990 bis 2007 ein BIP-Wachstum von durchschnittlich 1,2% auf und konnte damit nicht ganz mit der gesamtschweizerischen Entwicklung (1,4%) mithalten (siehe Grafik 1). Die Betrachtung dieser relativ langen Zeitspanne und des Durchschnittswertes ist allerdings trügerisch: Bis zum Jahr 1995 wuchs die Ostschweizer Wirtschaft überdurchschnittlich. Eine Erklärung hierfür liefert die industriegeprägte Branchenstruktur in der Ostschweiz, welche weniger vom Rezessions-Schock Anfang der Neunzigerjahre betroffen war als Regionen mit einem hohen Anteil an Dienstleistungen. Allerdings verlangsamte sich ab 1996 das Wachstum und fiel unter den Schweizer Durchschnitt. Der Grund hierfür liegt ebenfalls in der Wirtschaftsstruktur der Region, die sich dem aktuellen rasanten Strukturwandel nur schwer anpassen kann. Die industriell geprägte Wirtschaftsstruktur, aus der die Region Anfang der Neunzigerjahre einen komparativen Vorteil zog, wurde seit Mitte der Neunzigerjahre zu einem Wettbewerbsnachteil. Die strukturellen Anpassungsprobleme sind vor allem an der neueren Entwicklung deutlich erkennbar: In den Jahren von 1997 bis 2007 wuchs die Ostschweizer Wirtschaft um 1,6%, während das gesamtschweizerische Wachstum bei 2% lag. Die Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen folgte in den Neunzigerjahren zeitverzögert dem Muster des BIP. Bis 1998 entwickelte sich der Arbeitsmarkt der Ostschweiz überdurchschnittlich gut. Ab 1999 verlor die Region im Vergleich zur Schweizer Entwicklung jedoch an Dynamik.  Durch die Konzentration an Industriebranchen, welche den Rezessionsschock etwas abfederten, wurden in der Ostschweiz in den Jahren 1990 bis 1998 mehr Stellen geschaffen als in anderen Regionen. Allerdings ist auch hier der strukturelle Anpassungsdruck deutlich spürbar. In jüngster Vergangenheit (1999 bis 2007) wuchs die Zahl der Erwerbstätigen in der Ostschweiz (0,7%) im Vergleich zur gesamten Schweiz (0,9%) nur unterdurchschnittlich.

Sinkende relative Attraktivität als Wohn- und Arbeitsort


Ein aussagekräftiger Indikator für die Attraktivität einer Region als Wohn- und Arbeitsort ist die Entwicklung der Bevölkerung (siehe Grafik 2). Eine Grossregion wie die Ostschweiz wächst bevölkerungsmässig vor allem durch Migration. Die natürliche Bevölkerungsentwicklung hat demgegenüber kaum einen Einfluss. In der Bevölkerungsentwicklung der Ostschweiz kann ein deutlicher Wachstumsschub im Zeitraum von 1990 bis 1994 ausgemacht werden, in welchem die Bevölkerung um durchschnittlich 1,3% wuchs (verglichen mit 1% des gesamtschweizerischen Wachstums). Die Migration in diesem Zeitraum kann durch die überdurchschnittliche BIP-Entwicklung und die positive Entwicklung des Arbeitsmarktes erklärt werden. In den drei Folgejahren 1996 bis 1998 war die Ostschweiz so attraktiv wie ihre Schweizer Konkurrenzregionen, wohingegen sie in den Jahren ab 1999 an relativer Attraktivität verlor. Die Begründung liegt im starken Wachstum vor allem von unternehmensorientierten Dienstleistungen in anderen Schweizer Grossregionen, die in der Region Ostschweiz lediglich unterdurchschnittlich stark vertreten sind.  Die Wachstumsraten des BIP, der Erwerbstätigen und der Bevölkerung zeigen, dass die Ostschweiz seit Mitte der Neunzigerjahre mit strukturellen Problemen zu kämpfen hat. Als Erstes verlangsamte sich das BIP-Wachstum, die Bevölkerungsdynamik folgte ein Jahr und die Erwerbstätigenzahl drei Jahre später.

Industriesektor als Zugpferd


Die Analyse der Branchenstruktur dient im Folgenden zum besseren Verständnis des volkswirtschaftlichen Charakters der Region und liefert einen Erklärungsansatz für die aktuellen Wachstumsschwierigkeiten der Ostschweiz. Wie oben bereits erwähnt, wird die Ostschweizer Wirtschaftsstruktur vom industriellen Sektor dominiert (siehe Grafik 3). Neben dem öffentlichen Sektor sind es vor allem die Investitionsgüterindustrie und der übrige sekundäre Sektor, welche mit einem Wertschöpfungsanteil von zusammen knapp 28% das Gros der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Region bestimmen.  Neben dem Beitrag zur Wertschöpfung ist es ebenfalls aufschlussreich, die Konzentration von Branchen und damit die wirtschaftsstrukturelle Spezialisierung der Region genauer zu betrachten.

Konzentration der Maschinenbau- und Elektroindustrie


Die Analyse der Spezialisierung von Branchen innerhalb der Region zeigt eine deutliche Konzentration des sekundären Sektors in der Ostschweiz. Sowohl die Investitionsgüterindustrie als auch der übrige sekundäre Sektor sind im Vergleich zum Schweizer Durchschnitt stärker vertreten. Innerhalb der Investitionsgüterindustrie sind es vor allem der Maschinenbau und die Metallverarbeitung, welche wertmässig am stärksten ins Gewicht fallen, gefolgt von den Branchen «Feinmechanik und Optik» sowie «Geräte der Elektrizitätserzeugung und Nachrichtentechnik». Etwas weniger bedeutend ist hingegen der Fahrzeugbau. Innerhalb des übrigen sekundären Sektors sind es vor allem die Nahrungsmittelindustrie, das Verlags- und Druckgewerbe sowie die Holzverarbeitung, welche wertmässig am wichtigsten sind. Im Vergleich zur Branchenspezialisierung der Schweiz ist der Finanzsektor in der Region Ostschweiz stark untervertreten. Auch die unternehmensbezogenen Dienstleistungen und die Branche «Verkehr und Nachrichtenübermittlung» weisen eine deutliche negative Differenz gegenüber dem Schweizer Durchschnitt auf.

Entwicklungspotenzial


Das vergangene Wertschöpfungswachstum ist ein Indiz für aufstrebende Branchen und damit für zukünftiges Potenzial. Betrachtet man den Zeitraum 1990 bis 2007, hat sich die chemisch-pharmazeutische Industrie in der Region Ostschweiz mit einem Wachstum der realen Bruttowertschöpfung von 7,2% am dynamischsten entwickelt (siehe Grafik 4). Dennoch bleibt sie damit knapp unter der gesamtschweizerischen Wachstumsdynamik. Erfreulich entwickelte sich in derselben Zeitperiode auch die Uhrenindustrie, welche mit einem Wachstum von 4,3% um gut 1% stärker wuchs als der Schweizer Durchschnitt. Dabei ist zu beachten, dass die beiden Branchen zum jetzigen Zeitpunkt noch relativ unbedeutend für die Performance der Ostschweizer Wirtschaft sind. Dennoch geht von ihnen ein zukünftiges Entwicklungspotenzial für die Region aus, das nicht unterschätzt werden darf. Auch der tertiäre Sektor – und dort vor allem der Finanzsektor und der Bereich Verkehr/Kommunikation – entwickelte sich im betrachteten Zeitraum dynamisch, wenn auch nie besser als der Schweizer Schnitt. Lediglich der öffentliche Sektor wuchs dynamischer. Die für die Ostschweizer Wirtschaft wichtige Investitionsgüterindustrie und der übrige sekundäre Sektor wuchsen mit 1,6% und 0,2% überdurchschnittlich stark. Das relativ geringe Wachstum dieser Branchen – im Vergleich zur chemisch-pharmazeutischen Industrie – kann durch das bereits existierende hohe Niveau dieser Sektoren in der Region Ostschweiz erklärt werden.  Einen Wachstumsrückgang mussten hingegen das Gastgewerbe (-2,5%), die übrigen Dienstleistungen (-2,1%), die Landwirtschaft (-0,7%) sowie das Baugewerbe (-0,5%) hinnehmen. Während die Landwirtschaft analog zum Schweizer Mittel schrumpfte, verlor das Gastgewerbe überdurchschnittlich stark.

Internationaler Vergleich


Um Erkenntnisse über die Konkurrenzfähigkeit der Region Ostschweiz im internationalen Standortwettbewerb zu erlangen, ist es sinnvoll, die Region mit anderen internationalen Regionen zu vergleichen. Dafür wurden Regionen ausgewählt, welche ebenfalls eine industriell geprägte Branchenstruktur aufweisen. Als aussagekräftige Indikatoren für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dienen das BIP pro Kopf und das BIP-Wachstum im Zeitraum 1990 bis 2006. Hier zeigt sich, dass die Region Ostschweiz im Vergleich der europäischen Industrieregionen zwar zusammen mit dem Espace Mittelland das höchste BIP pro Kopf aufweist, in Bezug auf das Wachstum aber hinterher hinkt: Die Ostschweiz befindet sich zusammen mit Mailand, Antwerpen, dem Espace Mittelland und Köln auf den hintersten Rängen (siehe Grafik 5). Besser stehen hingegen die Regionen Rhein-Neckar, Karlsruhe, Lyon, Randstad und Steiermark da.  Warum schneidet die Ostschweiz im Vergleich der Industrieregionen hinsichtlich der Dynamik so schlecht ab? Und was machen die dynamischeren Regionen besser als die Ostschweiz? Die dynamischen Regionen setzen auf Innovationen im Hochtechnologiebereich, was sich in deren Namen und Image – wie zum Beispiel Technologieregion Karlsruhe oder der High-Tech-Region Rhein-Neckar – widerspiegelt. In diesen Hochtechnologieregionen ist die privatwirtschaftliche und universitäre Forschung stark mit der Industrie vernetzt, und das starke Wirtschaftswachstum spricht für ein intaktes regionales Innovationssystem. Das schwache regionale Wachstum der Ostschweizer Wirtschaft deutet demgegenüber auf ein defizitäres regionales Innovationssystem hin. Hier könnte angesetzt werden, um der auch im internationalen Vergleich zu beobachtenden Wachstumsschwäche nachhaltig entgegenzuwirken.

Stark zersplitterte Ostschweiz


Die Analyse des BIP- und des Bevölkerungswachstums im Zeitraum 1990 bis 2006 auf Gemeindeebene gibt einen Einblick in die intraregionale Struktur und Dynamik der Ostschweizer Wirtschaft. Diese kleinräumige Betrachtungsweise ermöglicht es, funktional zusammenhängende Einheiten zu identifizieren, und zeigt auf, welche Räume von der wirtschaftlichen Entwicklung und von der Entwicklung als Wohnstandorte abgeschnitten sind.  Betrachtet man zunächst das Wachstum des realen BIP pro Kopf, ergibt sich ein stark zersplittertes Bild der Region (siehe Grafik 6). Einzig das Nord-Süd-Gefälle innerhalb der Region sticht ins Auge, entwickelten sich die Gemeinden im Norden des Kantons St. Gallen, im Norden der beiden Appenzell sowie im Kanton Thurgau doch deutlich dynamischer als die südlicher gelegenen Gemeinden und jene des Kantons Glarus. Im Norden des Kantons St. Gallen und der beiden Appenzell sind es vor allem die Gemeinden des Rheintals, welche ein überdurchschnittliches Wachstum von über 2,4% im betrachteten Zeitraum aufwiesen. Das Rheintal, welches sich als «Hightech-Tal» bezeichnet und sich von Thal im Norden bis nach Rüthi im Süden erstreckt, scheint eine eigene funktionale Kleinregion zu bilden. Der auch im internationalen Vergleich niedrige Steuersatz fördert hier die Ansiedlung von Unternehmen mit Sogwirkung in Richtung Deutschland und Österreich. Zudem profitieren die dort angesiedelten Hochtechnologieunternehmen – wie Leica Geosystems – von den an der technischen Hochschule in Buchs ausgebildeten Fachkräften und dem dort produzierten Wissen. Die gute Verkehrsanbindung durch die Nähe zum Flughafen Altenrhein und durch Autobahnanschlüsse an die Nachbarländer trägt ebenfalls dazu bei. Ein weiterer Wachstumsbogen spannt sich von Gossau aus entlang den Gemeinden Oberbüren und Zuzwil in Richtung Nordwesten bis in den Kanton Thurgau. Weiterhin weisen alle Gemeinden, die direkt an den Kanton Zürich grenzen, ein überdurchschnittliches Wachstum auf. Hier wird eines deutlich: St. Gallen als Zentrum der Region lahmt. Insgesamt kann man festhalten, dass die Region Ostschweiz keinen funktional zusammenhängenden Wirtschaftsraum darstellt. Vielmehr gibt es innerhalb der Grossregion einzelne, intakte und funktional zusammenhängende Kleinregionen. Dies ist auch der Grund für die Wachstumsschwäche der Region. Würde man einzelne Unterregionen betrachten, ergäbe sich wohl ein ganz anderes Bild. Betrachtet man die Dynamik der Bevölkerung im Zeitraum 1990 bis 2006, ist ein ähnliches Muster erkennbar wie bei der wirtschaftlichen Entwicklung (siehe Grafik 7). Dort, wo die Wirtschaft wächst, entwickeln sich auch die Bevölkerungszahlen positiv. Besonders attraktive Wohnregionen sind zudem die Gemeinden am Walensee, Zürichsee und Bodensee, welche ein überdurchschnittliches Wachstum aufweisen. Ein relativ starkes Wachstum weisen ebenso einige Gemeinden des Kantons Appenzell-Innerrhoden auf, was vermutlich durch die niedrigen Steuersätze bedingt ist.

Gefahr des Verlustes von Wettbewerbsvorteilen


Die verschiedenen Analysen zeigen eine wirtschaftlich erfolgreiche Region, die jedoch droht, im nationalen und internationalen Wettbewerb den Anschluss zu verlieren. Die schwache wirtschaftliche Dynamik der Ostschweiz in den letzten 10 Jahren ist auf verschiedene strukturelle Schwächen der Region zurückzuführen: Die industriell geprägte Wirtschaftsstruktur ist zwar verantwortlich für das hohe regionale BIP pro Kopf, hat jedoch auch zu Wachstumsproblemen geführt. Die industrielle Prägung ist an sich kein Standortnachteil, wie man im internationalen Vergleich der Industrieregionen erkennen kann. Vielmehr kann die Region Ostschweiz ihr vorhandenes Potenzial nicht vollumfänglich ausschöpfen. Die starke intraregionale Zersplitterung der Region und die Isolation von einzelnen Gebieten schaffen Entwicklungsbarrieren, die es zu überwinden gilt. Eine bessere Vernetzung der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sowie der Verkehrsinfrastruktur – innerhalb der Region, aber auch regionsübergreifend – wären eine Möglichkeit, die Funktionalität in der Region herzustellen und als Grossregion zu wachsen.

Grafik 1 «Entwicklung des realen Bruttoinlandprodukts und der Erwerbstätigen der Region Ostschweiz,1990-2007»

Grafik 2 «Entwicklung von Bevölkerung und Volkseinkommen der Region Ostschweiz, 1990-2007»

Grafik 3 «Regionale Branchenstruktur der Region Ostschweiz, 2007»

Grafik 4 «Branchenwachstum der Region Ostschweiz,1990-2007»

Grafik 5 «Ostschweiz im Vergleich mit anderen Regionen»

Grafik 6 «Reales BIP-Wachstum der Region Ostschweiz nach Gemeinden, 1990-2007»

Grafik 7 «Bevölkerungswachstum der Region Ostschweiz nach Gemeinden, 1990-2007»

Kasten 1: Online-Datenportal
Die wichtigsten Grundlagedaten des vorliegenden Artikels sind auf der Homepage von BAK Basel Economics visualisiert aufbereitet ( www.bakbasel.com ).

Zitiervorschlag: Haisch, Tina (2008). Die Ostschweiz – eine starke Region mit Wachstumsschwäche. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.